Jonas Lie
Hof Gilje
Jonas Lie

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Neuntes Kapitel

Während des Sommers hatte der Hauptmann sehr viel Dienst gehabt, denn er hatte mit dem Lieutenant das Zeltmagazin und die Waffen- und Ausrüstungsvorräte des Bezirks besichtigt, dann waren die großen Uebungen gekommen und schließlich die Aushebung.

An den letzten zwei oder drei Tagen hatte da unten im Gasthause des Hauptortes ein ziemlich lustiges Leben geherrscht, woran der Corpsarzt, Fürsprech Sebelow, der lange Buchholtz, der Untervogt Dorff und die Lieutenants teilgenommen hatten. Aber das Ergebnis war ja insoweit glänzend, als er statt mit seinem Fuchs nun mit einem prächtigen drei- bis vierjährigen Rappen vor dem Wägelchen nach Hause fuhr. Das neue Pferd hatte eine weiße Blässe und weiße Strümpfe und versprach ebensogut zu werden, wie der alte Rappe, wenn ...wenn ...

Gerade eben, als das alte Weib sich plötzlich vom Grabenrande erhoben hatte, war im Augen- und Ohrenspiel des Tieres etwas zum Ausdruck gekommen, was es während der drei Aushebungstage sorgfältig verheimlicht hatte. Damals hatte der Hauptmann zur Probe ihm sogar einen Schuß über den Kopf abgefeuert, und es hatte sich nicht gerührt.

Das wäre doch wirklich zu niederträchtig – besonders nachdem sowohl der Corpsarzt, als auch Premierlieutenant Dunsack mit ihm ganz einer Meinung über das Tier gewesen waren und er dem Pferdehändler beim Kauftrunk noch fünfundzwanzig Thaler bar zugezahlt hatte.

Allein nun trabte er ja wieder ganz ruhig und gesetzt vor dem Wagen dahin. Die kleine Neigung, dann und wann in Galopp zu fallen, lag wohl an einem Mangel der Erziehung oder war jugendlicher Uebermut, der in ihm steckte und bei besserem Einfahren schon verschwinden würde.

»Ho-Ho ... holla! Ho-o-o-oa!«

Ein besseres Pferd hatte Stor-Ola noch nie an der Seite des Schwarzen im Stalle gehabt!

»Du sollst hübsch alt bei mir werden, verstehst du, Jungschwarzer? – Und wenn wir mit dem Staatswagen nach der Stadt zu Inger fahren, dann wirst du mit deinem Onkel zusammengespannt. – Na, na, du Schwei-ne-hund! Schwipp-schwapp, schwipp! Ich will dich lehren und dir deine Ungezogenheiten schon austreiben! Huhla! Brrr!« donnerte er. »Soooo – so!«

Unten im Wege vor dem Thore des Bergsethofes stand eine ganze Schar lustiger Leute, die schwatzten, schrieen und tranken. Als sie die wohlbekannte Gestalt des Hauptmanns erblickten, machten sie ihm höflich grüßend Platz. Sie wußten, daß er lange da unten gewesen war, und die jungen Leute, die sich zur Musterung gestellt halten, waren gestern und heute in die umliegenden Höfe zurückgekehrt.

»Nicht wahr, Halvor Hejen ... ein hübsches Fohlen?... Vielleicht noch etwas jung.«

»Kann sein, Herr Hauptmann! Ein schöner, kräftiger Kerl! Wenn er nicht ein bißchen scheut!« entgegnete der Angeredete.

»Was ist denn hier los! – Versteigerung bei Ole Bergset?«

»Ja, der Untervogt Bardon hat den Nachlaß in der Stube unter dem Hammer.«

»So, so! – Du, Sölfest Staale!« rief er einem jungen Manne blinzelnd zu, »glaubst du etwa, daß Lars Overstadtbräkken die Witwe freien wird? – Du siehst ja aus, als ob dir die Petersilie verhagelt wäre.«

Auf den Gesichtern ringsumher erschien eine kaum verhehlte Lustigkeit. Sie wußten, wo der Hauptmann hinauswollte, denn es war ja gerade der Nebenbuhler, den er angeredet hatte.

»Gibt's nicht auch eine Kuh zu kaufen, die im Herbst kalben wird?«

»Das könnte wohl sein,« meinten sie.

»Halt' mir mein Pferd ein bißchen, Halvor, während ich hinaufgehe und mit dem Untervogt darüber spreche.«

Oben beim Hause stand alles voll Menschen, und der Hauptmann wurde von einer Gruppe der lärmenden, schwätzenden Leute, Männer und Frauen, Mädchen und Burschen, zwischen denen die Branntweinflasche fleißig umging, begrüßt, bis er das Zimmer erreichte, wo die Versteigerung abgehalten wurde.

Da saß Bardon in dem vollgepackten, qualmigen Raume und rief mit seiner wohlbekannten, gewaltigen heiseren Stimme aus, wiederholte die abgegebenen Gebote, drohte mit dem Hammer oder machte einen Witz und drohte dann wieder zum letzten-, allerletztenmal, bis er mit dem rechtsverbindlichen Schlage das Gebot auf der Tischplatte festnagelte.

Dem Hauptmann wurde höflich Platz gemacht, wohin er sich auch wandte.

»Na, Martin Kvale, du bist wohl nicht recht gescheit, deine Frau zur Versteigerung gehen zu lassen,« sprach er im Vorbeigehen zu einem der reichsten Bauern der Gegend, der eine Jacke mit silbernen Knöpfen trug.

Draußen auf dem Vorplatze stand die hübsche Guro Granlien mit einem Schwarme andrer junger Mädchen.

»Du, Guro,« rief er und faßte sie unter das Kinn. »Bersvend Vaage ist jetzt vom Exerzieren nach Hause gekommen! Er war immer in Gedanken und wie geistesabwesend, so daß ich ihn beinahe ins Loch hätte stecken müssen ... Du gehst zu bös mit ihm um, Guro!« Er nickte den kichernden Dirnen zu, und als er weiter schritt, sah ihm Guro mit großen, glänzenden Augen nach. Woher wußte er das nun wieder?

Der Hauptmann kannte die ganze Gegend inwendig und auswendig, oder »vorwärts und rückwärts«, wie er sich ausdrückte. Er hatte eine ganz unbegreifliche Spürnase für beabsichtigte Hofverkäufe, Verheiratungen, Verlobungen und ähnliches, was die junge Mannschaft betraf, und Guro Granlien war nicht das erste Mädchen, das aus solchem Anlaß die Augen aufriß! Seine fünf Unteroffiziere waren vortreffliche Quellen, aber nicht minder sein eigenes, für diese Dinge allzeit reges Interesse, und wenn er heute den kleinen Abstecher zur Versteigerung machte, so lag die Veranlassung wohl weniger in der Absicht, sich nach einer »trächtigen Kuh« erkundigen zu wollen, als in seinem lebhaften Verlangen, Neuigkeiten einzusammeln und alles zu hören, was während seiner langen Abwesenheit vorgefallen war. Deshalb war es ihm gar nicht unwillkommen, daß die Witwe herauskam und ihn bat, in »die andre Stube« zu treten, wo er, ehe er den Hof wieder verließ, doch einen Tropfen Bier trinken müsse. Neugierig, wie er war, wollte er sie über die Möglichkeit einer zweiten Verheiratung beichten lassen – und hatte denn ja auch die Genugthuung, daß sie ihm nach einer halben Stunde vertraulichen Geplauders den wahren und wirklichen Stand ihrer Gedanken über sich selbst und den Hof anvertraute. In dieser Sache konnte ihn nun niemand mehr hinters Licht führen – die Witwe Bergset wollte »den Witwenstuhl nicht verrücken« und auf »ungeteilter Habe sitzen bleiben«, sich also nicht mit den Kindern auseinandersetzen und – sich nicht wieder verheiraten, aber an die große Glocke brauchte das gerade nicht zu kommen, denn sie wollte umworben werden – natürlich als die beste Partie im Hochlande. Der Hauptmann verstand das nur zu gut, das war das Schlimme. Aber es mußte doch auch noch etwas andres gesprochen werden.

»Und der Vogt soll ja auch wieder heiraten wollen,« sprach Randi deshalb im Anschluß an das vorher Gesagte.

»So?«

»Ja, die Leute behaupten, er wäre jetzt stets und ständig bei Scharfenbergs ... da wird's ja wohl die jüngste Tochter sein.«

»Weiß nicht ... adieu, Randi!«

Er ging sehr eilig, so daß die Sporen klirrten und der Säbel unter seinem Mantel hin und her schwang, zu seinem Fuhrwerk, ohne sich umzusehen und die ihm geltenden Grüße zu bemerken oder zu erwidern, und als er in sein Wägelchen stieg, drückte er sich mit einer heftigen Bewegung den Tschako fester auf den Kopf.

»Danke auch, Halvor, gib mir die Zügel. ...Warte, du ...«

Damit versetzte er dem jungen Schwarzen, der ungeduldig geworden war und einige Kapriolen machte, einen Hieb mit der Peitsche, und fort ging's mit straffen Zügeln in vollem Trabe, so daß die Zaunpfähle wie Trommelschlegel an seinen Augen vorüberflogen.

An dem stillen, nebligen Herbsttage lief hie und da Vieh auf der Landstraße umher, und besonders ein Schwein erbitterte ihn dadurch, daß es eigensinnig vor dem Wagen hergaloppierte.

»Da hast du einen, sieh zu, daß du deine Beine aus dem Wege bringst,« und die Sache endete mit einem sausenden Peitschenhiebe auf den Rücken des Schweines.

»Nun sieh mal einer an! Da liegt ein Biest von einer Kuh mitten im Wege,« sprach er bald darauf mit zusammengebissenen Zähnen. »Ja, ja, willst du nicht aufstehen, dann laß es meinetwegen. ... Na, sei so gut ... ich werde so dumm sein, auszuweichen ... fahre drauf los!«

Der Aerger hatte vollständig die Oberhand in ihm gewonnen, und er würde gewiß das Rad über den Rücken des Tieres haben gehen lassen, wenn sich dieses nicht noch im letzten Augenblick erhoben hätte – so nahe, daß des Hauptmanns Wägelchen, als es daran vorbeistrich, halb gehoben wurde und sehr nahe daran war umzukippen.

»Hm, hm,« murmelte er, etwas zur Besinnung gekommen, als er sich nach dem Gegenstand seiner verunglückten Rache umsah. »So, so ... vorwärts, sage ich, du schwarzer Racker ... glotzest du noch einmal so zurück, dann schlage ich dich in Stücke! ... He, he, he ... renn du und der Teufel! Wart nur, bis wir in die Berge kommen, mein Freundchen, dann wirst du schon klein beigeben.«

Schon den ganzen Tag quälte ihn ein gewaltiger »Zimmermann«, aber das war es nicht, was ihn verstimmte, das wußte er ganz genau.

Und als er nun nach Hause kam, wo er heute nach seiner langen Abwesenheit mit großer Spannung erwartet wurde, da war sein Angesicht finster.

Stor-Ola sah den Hauptmann an und schüttelte treuherzig den Kopf, während er das Fahrzeug von der Treppe fortführte – der Hauptmann war mit dem neuen Gaul gewiß wieder übers Ohr gehauen.

»Guten Tag, Ma ... guten Tag!« Er küßte sie hastig. »Ja, ja, mir geht's gut,« sprach er und nahm Mantel und Tschako ab.

»Ach, kannst du nicht Marit rufen und den Koffer und Reisesack hinauftragen lassen, damit ich nicht noch länger hier auf der Treppe zu stehen brauche? – Ja, ja – habe eine mühselige Zeit gehabt!« und er entzog sich etwas kühl Thinkas Aufmerksamkeiten. ... »Leg' den Säbel auf die Haken und bring das hier ins Schlafzimmer hinauf.«

Er selbst ging zuerst auf sein Dienstzimmer, um sich die eingegangenen Postsachen anzusehen, und dann in den Stall, um sich zu überzeugen, wie Stor-Ola mit dem neuen Schwarzen umging.

Daß mit Vater etwas nicht in Ordnung war, lag auf der Hand.

Mas Angesicht erschien ängstlich und bekümmert hie und da hinter ihm in einer Thüröffnung, und auch Thinka glitt leise ein und aus, ohne das Schweigen zu brechen.

Als er wieder hereinkam, war der Tisch zum Abendessen gedeckt – Häringsalat mit roten Rüben gefärbt, Eier und ein klarer Branntwein und vor allem saure Forellen und das gute Flaschenbier.

Der Vater war möglicherweise nicht ganz gefühllos dagegen, aber er blieb wortkarg; selbst durch die sorgsamst ausgedachten Fragen war kaum mehr als eine einsilbige Antwort aus ihm herauszubringen.

»Der Vogt soll ja mit Heiratsplänen umgehen, sagt man ... es scheint ziemlich sicher zu sein,« verkündete er endlich als erste erfreuliche Nachricht, die er aus der Welt mit heimbrachte, »mit Scharfenbergs Jüngster.«

Tiefes Schweigen trat nach dieser Bemerkung ein, allein, über Thinkas Züge glitt ein Schimmer lebhafter Befriedigung, und sie begann rasch zu essen. Beide Damen fühlten, daß hier der Grund der üblen Laune liege.

»Das muß ich sagen, der Mann hat Glück mit seinen Töchtern. ... Bine Herrin auf einem Pfarrhofe, und nun wird Andrea Frau Vogt! ... Da kannst du vielleicht 'mal eine Stelle kriegen, Thinka, wenn du in Bedrängnis kommst ... als Lehrerin oder Stütze der Hausfrau. Sie braucht sich nicht viel ums Haus zu kümmern, nicht mehr, als sie gerade Lust hat, denn der Vogt hat viel Geld.«

Thinka sah tief errötend auf ihren Teller.

»Ja, ja, Ma! ... So wie man sattelt, so reitet man in dieser Welt.«

Weiter wurde nichts gesagt, bis Thinka beim Abräumen des Tisches das Zimmer verließ, als Ma entschuldigend ausrief:

»Arme Thinka!«

Bei diesen Worten wandte sich der Hauptmann, mit den Daumen in den Aermellöchern der Weste, nach ihr um und sah sie zornig an.

»Weißt du, was ich denke? Nachdem sie den Sonnenschirm und eine Aufmerksamkeit nach der andern angenommen, womit er sie den ganzen Sommer überhäuft hat, da hätte sie dem Manne gewiß etwas mehr Dankbarkeit und Entgegenkommen zeigen können, aber sie hat. ... Wäre ich nur zu Hause gewesen, dann hätte es anders kommen sollen,« sprach er, und es begann augenscheinlich ein Gewitter aufzusteigen. »Aber wie mir scheint, habe ich eine Herde Gänse im Hause, und keine erwachsenen Frauenzimmer, die die Augen offen haben. ... Andrea Scharfenberg läßt sich das nicht zweimal bieten, da könnt ihr Gift drauf nehmen, die nicht,« rief er, gerade als Thinka wieder eintrat, so daß sie es hören konnte.

Während sie ihn in den nächsten Tagen auf alle Weise umschmeichelte und hätschelte, um ihn ein bißchen helleren Sinnes zu machen, sah Ma ihn dann und wann etwas bedenklich an, und Thinka schlug in ihrer stillen Sorgsamkeit die Augen nieder, wenn er so stöhnte und ächzte.

Er entfernte sich nicht weiter vom Hause, als nötig war, um nach dem Jungschwarzen zu sehen. Heute war dieser heiß in einem Hufe, nachdem er frisch beschlagen worden war. Das kam davon, daß der Tölpel von Schmied einen Nagel zu tief eingeschlagen hatte. Der mußte wieder heraus. Der Hauptmann stand schweigend und mit auf der unteren Hälfte der Stallthür aufgestützten Armen an seinem Lieblingsplatz und sah zu, wie Stor-Ola das Hinterbein des Pferdes auf seinen Schenkel stützte und den Nagel mit der Hufzange auszog. Das Tier war gutmütig und zuckte nicht einmal mit dem Beine.

»O–o–o–la!« stöhnte plötzlich jemand fast qualvoll, und der Knecht blickte auf.

»Kreuzdonnerwetter!« Sinkt dort nicht der Hauptmann langsam nieder, während er versucht, sich an der Stallthür festzuhalten – gerade in den Dünger?

Ola sah seinen Herrn einen Augenblick ratlos an und liess das Pferdebein los. Dann ergriff er einen Stalleimer un sprengte ihm Wasser ins Gesicht, bis er bemerkte, daß Leben und Besinnung zurückkehrten. Jetzt hielt er ihm den Eimer an den Mund.

»Trinken Sie, Herr Hauptmann, trinken Sie – nur nicht ängstlich. Das kommt von all den Anstrengungen und dem Umherreisen – das ist gerade so, als ob man zu lange Hochzeit gefeiert hätte ...«

»Hilf mir auf, Ola! ... So, nun muß ich mich auf dich stützen ... sachte, sachte. ... Ach, das thut gut ... frische Luft!« stöhnte er. »So, nun ist's vorüber, glaube ich ... ja, gewiß ... ganz vollständig vorüber ... aber noch sehr matt. Geh ein Stück hinter mir her, Ola ... der Sicherheit wegen. ... Hm, hm ... das macht sich ja so ziemlich ... ja, ja... das kann schon wahr sein ... unregelmäßiges Leben den ganzen Herbst über. ... So, nun geh hinein und ruf meine Frau. Sag ihr, ich wäre oben im Schlafzimmer ... das geht ja ganz gut mit der Treppe.«

Das war kein geringer Schreck!

Diesmal war es der Hauptmann, der die Seinen beruhigen wollte und die Sache als eine Kleinigkeit hinstellte, aber Ma schickte doch, ohne ihm etwas zu sagen, einen Boten zum Corpsarzt, und wenn er diesen nicht anträfe, dann sollte er den Bezirksamt bringen.

Als der Corpsarzt Rist kam und im Flur Mas ängstliche Meinung gehört hatte, daß Jäger einen Schlaganfall gehabt hätte, hielt er zur Beruhigung des Hauses einen launigen Vortrag.

Das Ganze sei eine Frage des Grades. Ein Mensch, der nur so viel trinke, daß er stammle, leide an einer paralytischen Lähmung der Zunge, und von diesem Gesichtspunkte aus sei jeder Mann, den er kenne, ein Schlagflußkranker! Das sei ein bei vollblütigen Leuten nicht so gar seltener Blutandrang nach dem Kopfe gewesen, u. s. w.

Jäger selbst hatte den Anfall schon soweit überwunden, daß er abends Toddy verlangte ... allerdings mußte er für ihn selbst äußerst dünn gemacht werden; aber Räubergeschichten aus der Exerzierzeit und von dem neuen Schwarzen wurden unter dichten Rauchwolken und beständiger Erneuerung des dünnen Getränkes bis halb zwei Uhr nachts erzählt.

Das Feuer prasselte an einem der folgenden Vormittage im Ofen, während der Hauptmann in seinem Dienstzimmer saß und schrieb, daß die Gänsefeder spritzte. Wie gewöhnlich in dieser Zeit des Jahres war nach seiner langen Abwesenheit ein ganzer Haufe von Rückständen zu erledigen. Theas norwegische Grammatik lag auf dem grünen Tische an der Thür. Sie hatte fertig gelernt und trällerte ein Liedchen, das man draußen auf dem Gange hörte. Da wurden Schritte auf der Treppe laut, und Mas Stimme wies jemand nach oben: »Zum Hauptmann? ... Da hinauf.«

Gleich darauf klopfte es an.

»Guten Tag! ... Nun?«

Es war ein besonderer Bote im Sonntagsputz vom Vogt mit einem Briefe zu eigenen Händen des Herrn Hauptmann Jäger abzugeben.

»So? Bekommst du Antwort? – Na, dann geh nur einstweilen hinunter in die Küche und laß dir was zu essen geben ... und einen Schnaps. – Hm, hm!« Der Hauptmann räusperte sich und legte den mit einem Siegel verschlossenen und auf feines Postpapier geschriebenen Brief auf den Pult, während er vorläufig einen Gang durchs Zimmer machte.

»Wohl die Verlobungsanzeige ... oder die Einladung zur Hochzeit.«

Endlich öffnete er den Brief und las ihn stehend eifrig und flüchtig durch. »Eine gewaltig lange Einleitung! Eins ... zwei ... bis auf die dritte Seite!«

Nun kam's.

Er schlug mit dem Rücken der Hand, worin er den Brief hielt, in die andre, daß es klatschte, und setzte sich hin.

»Ja, ja – ja, ja – ja, ja!«

In tiefen Gedanken schnalzte er ein-, zwei-, dreimal mit den Fingern, kratzte sich hinter den Ohren und schob seine Perücke hin und her.

»Nein, was man nicht alles erlebt! Was man nicht alles erlebt! ... Und das Gewäsch mit der kleinen Scharfenberg!«

Er stürmte zur Thür und riß sie auf, allein er besann sich und schlich auf den Zehen an die Treppe.

»Wer ist das da unten im Gange? Du, Thea?«

Das kleine, untersetzte, braunäugige Mädchen flog die Treppe hinan.

»Bitte Ma, sie solle 'mal zu mir heraufkommen,« sprach er, ihr freundlich zunickend.

Thea sah den Vater an und bemerkte, daß etwas Ungewöhnliches an ihm war.

Als Ma hereinkam, ging er ihr, den Brief auf den Rücken haltend, entgegen, räusperte sich, und der geziemende Ernst, den die Sachlage erforderte, kam in jeder Miene, jeder Bewegung zum Ausdruck.

»Ich habe einen Brief erhalten ... hm, hm ... vom Vogt! ... Da, lies! ... Oder soll ich vorlesen?«

Da stand er nun an den Pult gelehnt und trug alle drei Seiten Punkt für Punkt mit großer Geduld vor, bis er zum Kernpunkt kam – dann schwenkte er den Brief in der Luft, daß es rauschte und knatterte, und umarmte Ma stürmisch.

»Nun, nun ... was sagst du nun, Ma? – Wir können, wenn wir wollen, bald eine Fahrt hinunter zu unsern Schwiegerkindern machen.« Er rieb sich vergnügt die Hände. »Das war aber eine Ueberraschung ... eine ordentliche. Hm, hm,« fuhr er sich wieder räuspernd fort, »das beste ist, wir lassen Thinka heraufkommen und teilen ihr den Inhalt ... meinst du nicht auch?«

»Ja–a–a!« antwortete Ma mit tonloser Stimme, wobei sie sich ab- und der Thür zuwandte – und sie sah nun keinen Rat oder Ausweg mehr für das arme Mädchen.

Der Hauptmann ging erregt in seiner Dienststube auf und ab und wartete. Er hatte die erhaben würdige Vatermiene aufgesetzt, die der Bedeutung des Augenblicks entsprach.

Aber wo blieb sie denn nur?

Das ganze Haus hatten sie schon durchsucht, aber sie war nicht zu finden. Heute wurde der Hauptmann jedoch nicht heftig.

»Nun, kommt sie noch nicht?« fragte er ein paarmal ganz milde zur Thür hinaus.

Endlich entdeckte Thea sie ganz oben auf dem dunklen Speicher. Dort hatte sie sich, als sie den Boten gesehen und gehört hatte, er käme vom Vogt, in der Ahnung vom Inhalt des Briefes hingeflüchtet und versteckt – und dort saß sie mit tief gesenktem Kopfe, das Gesicht in der Schürze verborgen. Geweint hatte sie nicht, aber es war wie eine plötzliche Angst, ein namenloser Schreck über sie gekommen; sie fühlte einen unwiderstehlichen Drang, sich irgendwo zu verstecken und die Augen zu schließen, damit es völlig dunkel um sie sei und sie nicht zu denken brauche. ... Und als sie nun Thea zu Vater und Mutter, die sie im Dienstzimmer erwarteten, folgte, sah sie fast wie geistig gestört aus.

»Thinka,« sprach der Hauptmann, als sie eintrat, »wir haben einen wichtigen Brief bekommen, der deine Zukunft betrifft ... vom Vogt! Nach all seinen Aufmerksamkeiten, die du das ganze Jahr über von ihm angenommen hast, ist es wohl überflüssig, noch besonders zu sagen, worum es sich handelt ... und daß deine Mutter und ich das für das größte Glück halten, das dir in den Schoß fallen konnte ... und uns auch. ... Lies nun den Brief und überleg' dir wohl ... setz' dich doch, liebes Kind!«

Thinka las, aber es sah nicht so aus, als ob sie vom Fleck käme; sie schüttelte nur fortwährend stumm den Kopf, ohne es zu wissen.

»Du siehst wohl ein, daß er dich nicht um jugendliche Liebesschwärmerei und ähnliches Wischiwaschi bittet. Ob du eine ehrenvolle Stellung bei ihm ausfüllen willst, das fragt er dich ... und ob du versprechen kannst, ihm das Wohlwollen und die Fürsorge entgegenzubringen, die er natürlich von seiner Frau beanspruchen kann.«

Eine Antwort war von dem jungen Mädchen nicht zu erlangen, wenn man nicht ein schwaches Stöhnen als solche gelten lassen wollte, und im Gesicht des Hauptmanns stieg ein gewisser feierlicher Ausdruck auf, aber Ma kam ihm mit blitzenden und flammenden Augen zuvor.

»Du siehst ja, Jäger, sie ist nicht im stande ... zu denken,« flüsterte sie und fuhr dann lauter fort: »Meinst du nicht auch, Vater, daß es das beste wäre, wenn wir Thinka den Brief nehmen ließen, damit sie sich bis morgen alles überlegen kann? Es war ja eine solche Ueberraschung.«

»O, natürlich ... ganz wie Thinka selbst will,« rief er ihnen ziemlich unwirsch nach, als Ma mit ihr hinausging und sie ins Schlafzimmer führte. Dort wurde den ganzen Nachmittag unter dem Federbett geschluchzt.

In der Dämmerung ging Ma wieder hinauf und setzte sich zu ihr.

»... keinen Ort, wohin man sich wenden kann, siehst du, wenn man nicht ein armes, unversorgtes, überflüssiges Glied der Familie werden will ... nähen, die Augen aus dem Kopfe nähen, bis man zuletzt irgendwo in einer Ecke liegt ... ein so ehrenvoller Antrag würde vielen wie ein großes Glück erscheinen.«

»Ohs ... aber Ohs, Mutter!« jammerte Thinka ganz schwach.

»Das weiß der liebe Gott, Kind, sähe ich einen andern Ausweg, ich würde ihn dir zeigen, und wenn ich die Finger ins Feuer legen müßte!«

Thinka streichelte Mas magere Hände und schluchzte leise in die Kissen.

»Vater ist nicht mehr so kräftig ... die vielen Gemütsbewegungen kann er nicht vertragen ... so daß es ziemlich düster aussieht ... ein Anfall, wie der neulich, kann sich wiederholen ...«

Als Ma hinausgegangen war, ertönte Seufzer auf Seufzer im Dunkeln.

Später am Abend saß Ma wieder oben und hielt ihrer Tochter Haupt am Herzen, damit sie einschlafen sollte, denn sie war so aufgeregt gewesen; und jetzt, wo sie endlich ohne diese nervösen Zuckungen schlief – still und ruhig, das junge blonde Köpfchen regelmäßig atmend in den Kissen – ging Ma leise mit dem Licht hinaus ... das Schlimmste war überstanden!


War der Hauptmann schon in zufriedener Stimmung, als er am Fenster des Dienstzimmers stand und Aslak nachsah, der als Eilbote zum Vogt hinunterging und eben im Hofthor verschwunden war, so fühlte er sich in gewisser Weise doppelt ins Reich der Hoffnungen erhoben, als er einen kleinen Brief Inger-Johannas von Tilderöd erhielt.


»... Wir sind hier mitten in der Arbeit des Einpackens zur Rückkehr in die Stadt, deshalb wird mein Brief diesmal kurz werden.

»Bis zu allerletzt haben wir hier Gäste gehabt. Einsamkeit ist nun einmal nichts, weder für Tante, noch für Onkel, und sie hatten so oft gesagt: ›Willkommen in Tilderöd‹, daß wir den ganzen Sommer über einen längeren Besuch nach dem andern hatten – ganz in aller Ländlichkeit, hieß es immer. Aber ich glaube, keiner ist abgereist, ohne zu fühlen, daß Tante alles stilvoll macht. Trotz aller persönlichen Freiheit für jedermann, bei der Bewirtung sowohl draußen im Gartensaal, als auch auf der Veranda, war und blieb doch stets ein gewisses Etwas über dem Ganzen, das den Gästen einen leichten Zwang, sich von ihrer besten Seite zu zeigen, auferlegte. Wo Tante zugegen ist, versinkt man nicht leicht in Alltäglichkeit, und sie schmeichelt mir jetzt damit, daß sie sagt, wir teilten uns in die Ehre ihrer Erfolge.

»Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich fühle mich jetzt gegenwärtig fast ebenso zu Gesellschaften hingezogen, als früher zu Bällen. Da findet man doch eine ganz andre Verwendung für das bißchen Verstand, das man hat, und es kann ein ganz einflußreicher Wirkungskreis werden; dafür hat mir Tante in diesem Sommer die Augen geöffnet. Wenn man etwas über die geistreichen französischen Salons liest, deren Seele die Frauen waren, dann gewinnt man die Ansicht, daß hier ihr wahres Feld liegt; und in der Welt zu leben und zu wirken, das habe ich gewünscht, seit ich klein war und mich so darüber grämte, daß ich kein Junge war und nichts werden konnte. –

»Soweit war ich gekommen, liebe Eltern, als Jungfer Jörgensen mich hinunter in die Gartenlaube zu Tante rief. Die Post vom Amt in der Stadt war eingetroffen, und auf dem Tische lag ein Päckchen mit einem flachen, roten Saffiankästchen und einem Briefe für mich. In dem Kästchen lag ein Goldband, im Haar zu tragen, mit einem gelben Topas, und im Briefe stand bloß:

›Zur Vervollständigung des Gemäldes!

Rönnow.‹

»Tante mußte natürlich sofort versuchen, wie der Goldreif mir stehe. Sie machte mir die Haare auf und rief Onkel herein. Rönnows Geschmack sei geradezu claivoyant genial, wenn er mir gelte, rief sie aus.

»Ach ja, es kleidet mich ganz gut!

»Aber mit dem Brief und all der schwärmerischen Ueberschätzung ist mir doch so, als fühlte ich, wie mich der Goldreif im Nacken drückt. Dankbarkeit ist eine lästige Tugend.

»Die Tante macht so viele Pläne für die Geselligkeit des kommenden Winters und freut sich darauf, das Rönnow vielleicht wiederkommt.

»Ich für mein Teil muß sagen, ich weiß nicht recht, ich sehe es ungern, und doch auch wieder gern.«


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