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X.

Der Aufenthalt im Gefängnis hatte Coche niedergedrückt. Der Ueberreizung der ersten Tage war Erschlaffung gefolgt. Während er zu Beginn immer noch an dem Gedanken festgehalten hatte, schlimmstenfalls alles zu gestehen, schien es ihm jetzt, nach so vielen kleinen Lügen während der Verhöre, unmöglich, die Wahrheit zu enthüllen. Er wartete auf eine Möglichkeit, er hoffte auf einen Anstoß von außen, auf einen unvorhergesehenen Zwischenfall, der es ihm erlauben sollte, sein Spiel zu beenden. Doch Nächte und Tage folgten einander in eintönigem Laufe und das Ersehnte trat nicht ein. Und was ihn am schmerzlichsten enttäuschte, war, daß er weder im Gefängnis noch bei den Verhören die überraschenden Einblicke, die er erwartet hatte, gewann. Es wäre ihm gar nicht unerwünscht gewesen, Zeuge von Gesetzwidrigkeiten und Brutalitäten zu sein, selbst Unrecht am eigenen Leibe zu verspüren. Statt dessen verlief alles in harmlosester Weise. Ohne daß seine Wärter ihn mit übertriebener Zärtlichkeit umgeben hätten, erwiesen sie sich doch als menschlich fühlende, recht gutmütige Leute, so daß Coche besorgt zu der Frage gelangte, was er wohl würde schreiben können, wenn er wieder in Freiheit gelangt wäre?

Oft tauchte auch wieder die Beklemmung der ersten Tage in ihm auf: die Vorstellung jenes geheimnisvollen Wesens, das ihm alle seine Pläne aufgezwungen hätte. Dann befiel ihn wohl wieder die Angst, die unerklärliche Angst vor dem Unbekannten, und er blieb tagelang, das Gesicht zur Mauer gewendet, auf seinem Bette ausgestreckt, so daß man ihn öfters frug, ob er krank sei.

Eines Morgens hatte man sogar den Arzt zu ihm gebracht, doch Coche hatte sich geweigert, seine Fragen zu beantworten und nur düster gesagt:

»Das Leiden, das mich quält, kann von Ihnen weder geheilt noch gebessert werden. Ich bin nicht wahnsinnig, ich will auch nicht Wahnsinn vortäuschen, ich wünsche nur, daß man mir meine Ruhe läßt.«

Er sprach zu niemand mehr, hörte kaum seinem Anwalte zu, eine unendliche Traurigkeit lag über ihm, unaufhörliches Grübeln brachte ihn in einen Zustand maßlosester Erregbarkeit. Der Gedanke, daß er das Spielzeug übernatürlicher Kräfte sei, hatte so oft und so nachdrücklich seinen Geist beschäftigt, daß er ihm zur Gewißheit geworden war.

Noch versuchte er sich aufzuraffen, sich zu wehren. Eines Tages, als er es nicht länger zu ertragen vermochte, als er meinte, die quälenden Gedanken begännen seinen Geist zu verwirren, spannte er seinen ganzen Willen an und war entschlossen, diese schreckliche Komödie zu beenden. Er wollte alles gestehen. Er wollte die Folgen tragen, Strafen, Demütigungen über sich ergehen lassen, nur, um diesen kahlen Mauern zu entfliehen, um den weiten Himmel und einen grünen Baum wiederzusehen. Er wollte sich vor allem endlich die Gewißheit verschaffen, daß er allein Herr seiner Entschließungen geblieben sei, daß niemand anderer seine Handlungen bestimme. Er warf sich gegen die Türe seiner Zelle, schlug mit den Fäusten dagegen und schrie nach dem Wärter. Doch sobald dieser vor ihn trat, stammelte er nur unzusammenhängende, sinnlose Worte. Und jetzt stand die Ueberzeugung unverbrüchlich in ihm fest, daß er nicht mehr gestehen könne, daß »man« ihn zum Schweigen verurteilt habe. Ein Wort, ein einziges Wort hätte genügt, ihn zu retten, und dies eine Wort konnte nur er allein aussprechen. Jetzt wußte er es, niemals würde dieses Wort laut werden, weil »man« es nicht gestattete!

Es war ein typisches Beispiel von Autosuggestion, daß er sich einbildete, das Opfer, das Werkzeug eines Anderen zu sein, während dieser Andere in Wahrheit nur er selbst war. Seit jeher hatte er immer mit dem einen Feinde zu ringen gehabt: mit seiner Phantasie. Und auch jetzt war es nur eine krankhafte Schwäche, die seinen Willen lähmte, und dieser letzte Versuch, sich jenem Einflusse zu entziehen, den er als teuflische Besessenheit ansah, hatte ihm durch sein Mißlingen, diesmal unwiderleglich, bewiesen, daß bloß jene übersinnliche Macht, jener geheimnisvoll auf ihn wirkende Willen fähig wäre, ihn die Wahrheit enthüllen zu lassen.

Coche zweifelte nicht mehr daran, daß er sich diesem geheimnisvollen Willen, der ihn die ganze Zeit über geleitet habe, nicht mehr entziehen könne. Seine Gedanken, die stets um das Geständnis kreisten, erstarben in seinem Kopfe, so wie Worte durch übergroße Gemütsbewegung in der Kehle ersterben. Er las die Sätze, die er bloß hätte sagen müssen, um dem ganzen Fiebertraum ein Ende zu machen, in seinem Geiste vorgeschrieben, doch vermochte er sie nicht mehr über die Lippen zu bringen. Nur, wenn er allein in schlaflosen Nächten sich auf seinem Bette wälzte und den Kopf verzweifelt in die Hände vergrub, dann wiederholte er sich immer wieder:

»Im Augenblicke, da das Verbrechen begangen wurde, war ich doch bei meinem Freunde Ledoux, und erst, als ich der Leiche gegenüberstand, erwachte der ganze Plan dieses wahnsinnigen Abenteuers in mir …«

Wenn er aber in Gegenwart eines Anderen diese Worte auszusprechen versuchte, so versagten seine Lippen den Dienst, und hilflos mußte er das langsame Ersterben seines Willens beobachten.

In diesem Zustande geistiger Zerrüttung trat er vor seine Richter. – Seit drei Monaten hielt der Fall vom Boulevard Lannes ganz Paris in atemloser Spannung, und Coche hatte gleich viel entschiedene Gegner wie überzeugte Anhänger. So zeigte auch der Gerichtssaal ein Bild ungewohnter Spannung und maßloser Erregung. Wie zu einer Premiere war man herbeigeströmt, in gleicher Weise vom Wunsch geleitet, gesehen zu werden, wie vom Verlangen getrieben selbst die Entwicklung dieses geheimnisvollen Mordfalles mitanzusehen. Die Mehrheit der Anwesenden bestand aus Frauen, die durchweg in neuen Toiletten diesem großen gesellschaftlichen Ereignisse beiwohnten. Ein beängstigendes Gedränge erfüllte jenen Teil des Saales, für den schon Tage vorher die Zutrittskarten vergriffen waren. Nicht minder war der Andrang auf den für Juristen freigehaltenen Bänken, und um den unzähligen Bitten entsprechen zu können, hatte der Präsident sogar noch drei Reihen Sessel auf seiner eigenen Estrade aufstellen lassen.

In dem überhitzten Saale wogte ein beängstigender Dunst von Parfüms und heißen Körpern. Das allzu grelle Licht verdarb grausam alle Künste der Farbstifte und ließ die Gesichter in starrer Blässe erscheinen. Das Murmeln, das anfangs schüchtern den Saal erfüllt hatte, schwoll langsam zu immer heftigerem Summen an, halbersticktes Kichern, Zurufe, mit welchen man seine Bekannten begrüßte, und erhobene Stimmen, die sich im wachsenden Lärm verständlich zu machen suchten, erklangen immer lauter im Räume. Ein Saaldiener verkündete das Erscheinen des Gerichtshofes.

Ein gewaltiger Lärm von zurückgestoßenen Stühlen, von scharrenden Füßen erscholl, man hörte noch Bruchstücke von Sätzen, die mit lauter Stimme begonnen worden waren und dann rasch, flüsternd beendet wurden, nervöses Hüsteln ging durch den Saal, einige Mahnungen zur Ruhe klangen von verschiedenen Seiten, dann trat tiefe, feierliche Stille ein. Der Präsident befahl, den Angeklagten vorzuführen. Alles drängte sich vor, um die Eingangstüre im Auge behalten zu können, angstvolle Aufschreie wurden hörbar und die Erregung erreichte ihren Höhepunkt, als eine junge Frau, die auf einen Sessel gestiegen war, das Gleichgewicht verlor und stürzte.

Onésime Coche erschien. Er war erschreckend bleich, doch seine Haltung verriet weder Angst noch Prahlerei. Als er die Schwelle überschritt, hatte er sich noch einmal, ein letztes Mal, gesagt:

»Ich will sprechen, ich werde sprechen …« Dann war sein Blick über diese Menge geirrt, in der er kein befreundetes Gesicht zu unterscheiden vermochte, er erkannte nur Augen, in denen unbeherrschte Neugier funkelte, Sensationslust von Menschen, die hierher gekommen waren, um ihn leiden zu sehen, ebenso wie sie eine Menagerie besucht haben würden, in der stillen Hoffnung, die wilden Tiere ihren Bändiger zerreißen zu sehen. Doch er fühlte keine Bitterkeit über diese Beobachtung, gleichgültig hielt er all den Blicken, die auf ihn gerichtet waren, stand.

Jedes Wesen hat nur eine begrenzte Fähigkeit, Leiden empfinden zu können. Es kommt stets der Augenblick, in dem die moralischen Qualen und die physische Ermattung einen solchen Zustand herbeiführen, daß man, um es so auszudrücken, über keine Kraft zum Leiden mehr verfügt. Coche glaubte, als er in dem überfüllten Saale auf der Anklagebank Platz nahm, diese Grenze erreicht zu haben, und freute sich fast darüber.

Nachdem er mit klarer Stimme Namen, Alter und alle die anderen Personaldaten angegeben hatte, sank er wieder auf die Bank zurück, um der Verlesung der Anklageschrift zu lauschen. Jetzt, da er all die Beweise und deren Folgerungen, die gegen ihn zeugten, vernahm, begriff er erst den vollen Ernst seiner Lage, und jetzt verstand er auch, daß der Untersuchungsrichter sich aus diesem Akte eine unerschütterliche Meinung hatte bilden müssen. Trotz alledem aber sagte er sich:

»Wenn ich den Mund auftue, zerfällt alles dies in nichts – aber werde ich denn sprechen dürfen?«

Das Verhör erwies sich als eine große Enttäuschung. Man hatte sensationelle Enthüllungen erhofft, mit denen der Angeklagte, wie gewisse Zeitungen aus verläßlichster Quelle hatten wissen wollen, erst in der Verhandlung hervortreten würde. Doch alle Fragen beantwortete Coche mit den stets gleichen, müden Worten: »Das weiß ich nicht – ich gebe keine Erklärungen ab – ich bin unschuldig.«

Als der Gerichtspräsident ihn darauf aufmerksam machte, welche Gefahren in dieser Verteidigungsmethode für ihn lägen, zuckte er mit den Schultern, und dabei murmelte er hilflos: »Was soll ich tun, Herr Präsident, ich kann Ihnen nichts anderes sagen …« Und er verfiel wieder in seine fast gleichgültige Erstarrung. Erst als die Zeugenverhöre begannen, schien sein Interesse zu erwachen. Sein Blick, der bis dahin träumend in weite Fernen geschweift hatte, belebte sich, und die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Kinn in die Handflächen gelehnt, hörte er zu.

Als erster wurde Avyot, der Redakteur des »Tageblatt«, vorgerufen, der die Umstände schilderte, unter denen Coche seine Stellung verlassen hatte, nachdem er einige Stunden lang in der Mordaffäre gearbeitet hatte. Auf die Frage des Präsidenten, ob ihm die Stimme des geheimnisvollen Berichterstatters, der ihm in der Nacht des dreizehnten die telephonische Nachricht des Verbrechens gegeben hatte, in keinem Augenblicke bekannt vorgekommen wäre, erwiderte Avyot mit einem entschiedenen: Nein. Als zweiter Zeuge erzählte die Bedienerin weitschweifig alles, was sie von ihrem früheren Herrn, seinen Gewohnheiten und seinem Verkehr wußte. Ohne die geringste Kleinigkeit wegzulassen, berichtete sie, wie sie das blutbefleckte Hemd mit der zerrissenen Manschette und mit dem einzelnen Knopf aufgefunden hatte. Alles dies – so sagte sie aus – sei ihr schon vom ersten Augenblicke an verdächtig erschienen, und wenn sie nicht von Natur aus so zurückhaltend und verschwiegen wäre, – »Dienstboten haben sich doch nicht um die Angelegenheiten ihrer Herrschaften zu kümmern« –, dann hätte sie gewiß schon lange, bevor der Herr Kriminalbeamte bei ihr erschien, alle ihre Mutmaßungen der Polizei mitgeteilt. –

Nur kurz waren die Fragen, die an eine Reihe weiterer Zeugen gerichtet wurden. Der Laufbursche vom »Tageblatt« erzählte über seine Wahrnehmungen, als er in der Mordnacht Coche aus seiner Wohnung zu holen gehabt hatte, der Juwelier erschien, der die Manschettenknöpfe verkauft hatte, und der Briefträger, der drei- oder viermal die für Coche fälschlich nach Nummer 22 adressierten Briefe abgegeben hatte. Keiner von all diesen Zeugen brachte neue Enthüllungen. Auch der Gerichtsarzt nicht, der jetzt vor der Barriere erschien, um einen von Fachausdrücken, Zahlen und Berechnungen strotzenden, wissenschaftlichen Vortrag zu halten, aus dem schließlich auch nur hervorging, daß der Tod durch einen wuchtig geführten Messerschnitt eingetreten war.

Als letzter Zeuge erschien der Uhrmacher, den der Polizeikommissär mit Erstattung eines Gutachtens über die am Tatorte aufgefundene Uhr beauftragt hatte. Sein Bericht begegnete, wie der seiner Vorgänger, allgemeiner Gleichgültigkeit, nur Coche lauschte angespannter als bisher. Die Aussage dieses Sachverständigen war im übrigen kurz und entschieden und lautete dahin, daß das Uhrwerk, welches man ihm zur Prüfung übergeben hatte, eine zwar alte, aber außerordentlich sorgfältig hergestellte Arbeit sei, die acht Tage lang, ohne aufgezogen zu werden, laufen müßte. Nach Prüfung des Mechanismus könne er mit Bestimmtheit behaupten, daß diese Uhr noch nicht abgelaufen gewesen sei, vielmehr noch achtundvierzig Stunden hätte gehen müssen, wenn nicht äußere Umstände dies verhindert hätten. Das Stehenbleiben des Werkes zwanzig Minuten nach Mitternacht könne daher nur deshalb erfolgt sein, weil die Uhr in diesem Augenblicke umgeworfen worden sei, das Pendel demzufolge nicht mehr schwingen konnte. Die Richtigkeit dieser Annahme erwies sich dadurch, daß nach Wiederaufstellen der Uhr eine leichte Berührung des Pendels genügt hatte, um das Werk wieder in Gang zu bringen. Der Schluß, den der Sachverständige sich zu ziehen berechtigt fühle, gehe demnach dahin, daß die durch die Zeigerstellung festgehaltene Stunde – zwanzig Minuten nach Mitternacht – genau jene sei, in der das Uhrwerk den heftigen Stoß erhalten hatte.

»Demnach wäre das Verbrechen zu dieser Zeit oder knapp nachher geschehen?« frug der Präsident, auch schon ein wenig ermüdet.

Das Zeugenverhör war damit beendet. Der Vorsitzende ordnete eine kurze Unterbrechung der Verhandlung an und erteilte sofort nach Wiederaufnahme der Sitzung dem Staatsanwalt das Wort.

Coche, durch die bündige Aussage des Uhrmachers über die Stunde des Mordes ein wenig zuversichtlicher gestimmt, hörte den Ausführungen des öffentlichen Anklägers ohne sichtliche Erregung zu, obgleich sie in ihrer ein wenig trockenen Art, die sich fast damit begnügte, die durch die Voruntersuchung und die Zeugenaussagen erhobenen Tatsachen mit mathematischer Präzision ineinandergreifen zu lassen, niederschmetternd wirkten. Auch die Zuhörer, durch den bisherigen Verlauf der Verhandlung stark beeinflußt, schlossen sich unwillkürlich den Folgerungen der Anklage an. Zwei- oder dreimal während der Rede des Staatsanwaltes wurde zustimmendes Murmeln hörbar, das sogar in lauten, allerdings rasch unterdrückten Beifall ausartete, als der Redner für diesen Journalisten, der weder die Entschuldigung der Not noch die leidenschaftlicher Aufwallung für sich beanspruchen könne, die Todesstrafe beantragte.

Coche überlief ein Schauer. Er ballte die Fäuste und preßte seine Nägel krampfhaft in die Handflächen, doch seine Züge zeigten immer noch die gleiche unbelebte Starre. Er hatte nur einen Gedanken, der ihn ausfüllte, der alles ringsum nebensächlich erscheinen ließ, den er unaufhörlich in seinem Kopfe wälzte:

»Ich muß jetzt sprechen, ich will sprechen – ich werde sprechen,« und leise murmelte er vor sich hin: »Ich will, ich will, ich will! …«

Er vermochte kaum mehr den Vorgängen im Saale zu folgen. Das Plaidoyer seines Verteidigers rauschte als Klang ohne Sinn an seinen Ohren vorbei und unaufhörlich wiederholte er, vor sich zu Boden starrend, mit gekrampften Fäusten, aus zuckenden Lippen vor sich hinflüsternd: »Ich will sprechen – ich will es – ich will es!«

Der Verteidiger beendete unter eisigem Schweigen seine Rede. Coche wandte sich zu ihm und drückte ihm dankend die Hand. In Wahrheit hatte er von der ganzen Rede – die in der Tat eine jämmerliche Bewältigung einer allerdings unmöglichen Aufgabe bildete – kein einziges Wort gehört.

Die Verhandlung war damit geschlossen. Ehe der Gerichtshof sich zu Beratung zurückzog, wandte sich der Vorsitzende in gewohnter Weise noch einmal an den Angeklagten.

»Haben Sie zu Ihrer Verteidigung noch etwas vorzubringen?«

Coche erhob sich, in seinem ganzen Wesen von der furchtbaren Willensstärke, die er aufzubringen versuchte, gestrafft. Er war so bleich, daß man glaubte, er müsse im nächsten Augenblicke besinnungslos zu Boden sinken. Die Justizsoldaten machten schon mit ausgestreckten Armen einen Schritt auf ihn zu, doch er wies sie mit einer Handbewegung zurück und mit kräftiger Stimme, die den Gerichtshof und die Zuhörer erschauernd aufhorchen ließ, erwiderte er:

»Herr Präsident, ich habe zu bemerken, daß ich unschuldig bin und – ich will es beweisen.«

Er unterbrach sich für den Bruchteil einer Sekunde, um tief Atem zu schöpfen, seine Augen starrten weitaufgerissen in erschreckender Weise auf den Vorsitzenden, dann öffnete er wieder den Mund. Jene, die in seiner unmittelbaren Nähe waren, glaubten ihn murmeln zu hören: »Ich will es!.. Ich bin allein mein Herr …« und in hastiger Weise, die Hand mit gespreizten Fingern vor sich hinstreckend, als wolle er eine drohende Vision von sich fernhalten, schrie er mehr als er sprach, in den Saal:

»Zwanzig Minuten nach Mitternacht, zur Zeit, da der Mond begangen wurde, befand ich mich bei meinem Freunde Ledoux in seiner Wohnung Appertstraße 14 …«

Erschöpft von der Anstrengung, überwältigt von dem Sieg, den er über den geheimnisvollen Unbekannten errungen, dessen Willen den seinen bis zu diesem Augenblicke gefesselt gehalten hatte, brach er nach diesen Worten auf seiner Bank zusammen und schluchzte vor Müdigkeit, Freude und Ueberreizung.

Alle Zuhörer waren in heftigster Erregung von ihren Sitzen aufgesprungen. Es erhob sich ein derartiges Stimmengewirr im Saale, daß der Präsident sich genötigt sah, mit der Räumung zu drohen. Nachdem es ihm endlich gelungen war, die Ruhe halbwegs wiederherzustellen, wandte er sich an den Angeklagten:

»Coche, versuchen Sie nicht, uns in dieser Stunde zu täuschen. Ich warne Sie davor und gebe Ihnen die Folgen zu bedenken, die aus Ihrer Erklärung entstehen müssen, wenn sie sich als falsch erweisen sollte. Ueberlegen Sie dies nochmals, ehe Sie Ihre Behauptung aufrechterhalten.«

»Ich habe überlegt! Ich habe alles überlegt. Ich spreche nur die volle Wahrheit! Ich schwöre es! Man möge meinen Freund Ledoux einvernehmen.«

»Herr Präsident,« rief jetzt der Verteidiger, »ich verlange, daß dieser Zeuge unverzüglich gehört werde.«

»Das ist auch mein Wille. In Ausübung meiner richterlichen Machtvollkommenheit ordne ich an, daß der vom Angeklagten angerufene Zeuge augenblicklich diesem Gerichtshofe vorgeführt werde; Justizsoldat, begeben Sie sich sofort in die Appertstraße Nummer vierzehn und bringen Sie den Zeugen Ledoux hierher. Ich unterbreche die Verhandlung.«

Die Erklärung von Coche hatte wahrhaft Verblüffung erregt. Die wenigen Anhänger, die er noch im Saale zählte, triumphierten, die übrigen, die die entscheidende Bedeutung eines solchen Alibibeweises auch nicht leugnen konnten, zweifelten noch an seiner Richtigkeit. Besonders unter den Geschworenen war die Verwunderung außerordentlich. Ihre Meinung hatte seit den Zeugenverhören schon festgestanden, das Plaidoyer des Verteidigers hatten sie kaum noch angehört. Sie waren sich indeß darüber klar, daß das Gelingen dieses Alibibeweises, den Coche versuchte, die Anklage vernichten oder sie zumindest bedenklich ins Wanken bringen müsse. Auch der Verteidiger war ganz erregt und frug vorwurfsvoll: »Ja, warum haben Sie mir das nicht früher schon gesagt?« worauf er von Coche die recht unwahrscheinlich klingende und doch wahre Antwort erhielt: »Weil ich nicht konnte!«

Eine Stunde lang zeigte der Saal und die angrenzenden Gänge das Bild eines aufgewühlten Ameisenhaufens. Diese Verhandlung, die durch ihre Eintönigkeit so viele erwartungsvoll herbeigeströmte Menschen furchtbar enttäuscht hatte, begann plötzlich wieder stärker als zuvor alle Leidenschaften zu erregen. Als das Glockenzeichen ertönte, drängte man fieberhaft gespannt in den Saal zurück. Leute, die morgens keinen Platz mehr gefunden hatten, mischten sich jetzt verstohlen in die Menge der glücklichen Besitzer von Eintrittskarten. Jeder Ordnungsdienst hatte aufgehört, ohnmächtig standen die wenigen Saaldiener der anstürmenden Menge gegenüber und mußten alle einlassen. Endlich trat auch der Gerichtshof ein, das erregte Stimmengewirr verstummte, und der Vorsitzende befahl den Zeugen hereinzuführen.

Die Türe öffnete sich, doch statt des erwarteten Zeugen erschien in dem jetzt totenstillen Saale ein Justizsoldat, der bis an den Präsidenten herantrat, die Hacken zusammenschlagend salutierte, und meldete:

»In der Appertstraße Nummer vierzehn brachte ich in Erfahrung, daß der Private Ledoux am fünfzehnten März gestorben ist.«

Coche fuhr totenbleich von seiner Bank auf, griff mit beiden Händen nach seinem Kopfe, stieß einen erschütternden Schrei aus und fiel, wie vom Blitze getroffen, wieder zurück.

Schon hatte sich der Staatsanwalt erhoben:

»Hoher Gerichtshof, meine Herren Geschworenen. Ich glaube, es ist unnötig, daß ich die besondere Bedeutung dieses vom Justizsoldaten eben gemeldeten Umstandes unterstreiche. Selbst wenn der Zeuge Ledoux hier hätte erscheinen können, wären die einzelnen Punkte der Anklage nicht erschüttert worden. Sie aber werden sich durch diesen kühnen Versuch eines Alibibeweises, der vollkommen mißlungen ist, in Ihrem Gewissen und in Ihrer Meinung nicht beirren lassen. Ich habe der Anklage nichts hinzuzufügen und sie ebensowenig im Geringsten einzuschränken. Wenn Sie die vorgebrachten Tatsachen leidenschaftslos beurteilen, dann können Sie den Angeklagten nur verurteilen.«

Der Verteidiger erhob sich und rief:

»Herr Präsident …«, doch Coche streckte die Hand nach ihm aus und stammelte: »Lassen Sie, Doktor … Kein Wort mehr … Es ist ja aus … Ich beschwöre Sie … alles ist aus … aus … aus …«

Die Geschworenen berieten nicht mehr lange. Nach knappen zehn Minuten kehrten sie in den Saal zurück. Ihr Verdikt lautete: Einstimmige Bejahung aller Schuldfragen, einstimmige Verneinung aller Milderungsgründe.

Coche war nur noch eine gefühllose Masse, ein armer, zerbrochener Körper. Entsetzen hatte sich über ihn gelegt. Zu spät hatte sein Wille über die abergläubische Furcht, die ihn erfüllt gehabt hatte, gesiegt. Jetzt erst erkannte er den Wahnsinn, gegen den er seit drei Monaten gekämpft hatte, doch jetzt erkannte er auch, daß nur noch ein Wunder ihn zu retten vermochte, und dieses Wunder erwartete er nicht mehr, da das Schicksal in solch gnadenloser Weise mit ihm verfahren war.

Alle Grade des menschlichen Leides hatte er an sich erfahren, von der quälenden Angst bis zum grauenvollen Entsetzen und auch den jammervollen Ruf nach dem Leben, das man entschwinden sieht, wußte er jetzt zu begreifen. Seine Augen, diese armen Augen eines gepeinigten Tieres, richteten sich auf all die Menschen ringsum, die in wenigen Augenblicken die Straße wieder sehen durften, die Heiterkeit des freien Himmels wieder genießen würden und die Freude des schirmenden Heims, in dem der weise Mensch seine Träume behütet, wie der Schiffer seinen Kahn in der stillen Bucht verankert, in deren Wasser sich die Sterne spiegeln … Und während diese Bilder seine wunde Seele erfüllten, klang eine Stimme, zuerst wie Murmeln, an seine Ohren, die zum Donner anschwoll, als sie die Worte sprach:

»... demnach wird der Angeklagte Onésime Coche zum Tode verurteilt …«

Er fühlte nur noch; daß man ihn fortführte, daß eine Hand die seine drückte und fand sich mit einem Male wieder auf seinem Bett in seiner Zelle, ohne zu wissen, wieso und warum man ihn dahingebracht habe. Er verfiel in bleiernen Schlaf.

Nachts hatte er einen grauenhaften Traum.

Eben hatte er den Alten vom Boulevard Lannes umgebracht, schleichend tastete er zur Türe, tappte die Treppe hinunter und fand sich auf der Straße.

Mit leerem Kopfe und schlaffen Beinen, wie ein Trunkener, blieb er stehen. Kein Flüstern, kein einziges Geräusch unterbrach die Stille. Fröstelnd schlug er den Mantelkragen hinauf, machte einen Schritt, stand wieder still, um sich in der finsteren Nacht zurechtzufinden, und dann ging er davon.

Langsam setzte er Fuß vor Fuß, und in seinen Gedanken wälzte er die quälende Erinnerung an sein Verbrechen, den grauenhaften Anblick der ausgestreckten Leiche mit der klaffenden Wunde und dem starren Blick der verglasenden Augen. Eine finstere Seitenstraße drohte plötzlich vor ihm. Erschreckt, mit zitternden Fingern, lehnte er sich an die Mauer eines Hauses. Da glaubte er, durch die Stille mit einem Male ein Geräusch von Schritten zu hören und lauschte mit angstvoll angehaltenem Atem, alle Muskeln gestrafft. Das Geräusch wurde deutlicher, kam näher. Wahnsinnige Angst stieg in ihm auf und er eilte, den Mauern entlang streifend, davon. Die Schritte folgten. Er begann zu laufen, das Geräusch lief hinter ihm … Er rannte, von tödlicher Angst getrieben, immer weiter, verlor jedes Gefühl von Zeit und Ort. Alles, was noch an Kraft und Willen in ihm lebte, hoffte angstvoll dem bleich schimmernden Morgen entgegen, der bald am Horizont erscheinen mußte, der Dinge und Menschen aus ihrem Schlafe wecken würde, der endlich diese leblose Wüste, durch die er rannte, mit anderen menschlichen Gesichtern erfüllen würde; Er rannte mit keuchendem Atem und hatte so Viele Umwege gemacht, so viele Wege gekreuzt, daß er besinnungslos durch unbekannte Straßen sauste, verloren, verirrt im schlummernden. Paris. Endlich, ein matter Streifen am Horizont, der Tag trüb und regnerisch zwar, doch der ersehnte Tag. – Dumpfes Murmeln erscholl wie das Raunen einer versammelten Menge. Und jetzt erkannte er sie auch, die dunkle Masse, die dort unten sich drängte. Menschen waren es, denen er jauchzend zustrebte. Endlich würde er nicht mehr mit seinem Entsetzen allein sein, endlich würde er wieder die Nähe von Brüdern und Schwestern atmen, menschliche Wesen fühlen und sprechen … Fort mit den Schrecken der Nacht, fort mit der furchtbaren Einsamkeit! Mit erhobenen Armen stürmte er der brüderlichen Menge zu. Als er ihnen nahe war, wichen sie zur Seite, als wollten sie seinen Weg nicht hemmen, eine breite Gasse öffnete sich vor ihm, er stürmte noch wenige Schritte vorwärts, dann brach er schaudernd in die Knie. In seinem Schrecken hatte er nicht beachtet, wohin seine Flucht ihn führte, erst jetzt sah er das Ungeheuer, das seine beiden Arme gewaltig gegen den bleichen Himmel reckte: Die Guillotine! –

Coche erwachte von dem gequälten Schrei, den er ausstieß. Während eines Augenblickes empfand er die ganze Freude des Erwachens, das die Fieberträume verscheucht, doch sofort kam ihm die Wirklichkeit, grauenvoller als jeder Traum, zu Bewußtsein. Die Guillotine! Das weiße Messer und der Korb, in den die Köpfe springen … dies würde er sehen müssen! Er biß in seine Kissen, um nicht laut aufzuheulen … Vorbei die friedlichen Nächte, die ruhigen Tage, unabwendbar stand ›sie‹ – er wagte das Wort Guillotine nicht mehr zu denken – zwischen ihm und allem, was er geliebt, erhofft und ersehnt …

Am nächsten Morgen brachte ihm sein Verteidiger die Nichtigkeitsbeschwerde und ein Gnadengesuch zur Unterschrift. Coche lallte: »wozu das noch …«, schrieb aber doch seinen Namen. Als er die Feder weglegte, richtete er seine Augen, die durch die Qual seiner Nächte und das Entsetzen seiner Gedanken sich geweitet hatten und sprach mit dumpfer, vom Fieber heiserer Stimme:

»Hören Sie mich an … Sie müssen es wissen … Einem Menschen muß ich es sagen …«

Und er stammelte in unzusammenhängenden Worten, mit schluchzender Stimme, in der Zelle auf und nieder gehend, sein ganzes Erlebnis jener Unglücksnacht hervor.

Als er schwieg, griff der Anwalt nach seiner Hand und sprach behutsam:

»Nein, – wirklich – geben Sie sich keine Mühe .. Der Präsident wird Sie begnadigen. Dort drüben über dem Meere können Sie – später einmal – ein neues Leben beginnen.«

»Wie,« brüllte der unglückliche Coche, »Sie glauben also, daß ich lüge? – Aber ich lüge nicht, hören Sie mich doch … Es ist die Wahrheit! – Gehen Sie! Gehen Sie …«

Und in höchster Verzweiflung warf er sich auf ihn und heulte:

»So gehen Sie doch! – Sehen Sie denn nicht, daß Sie mich wahnsinnig machen …«

Allein geblieben, verfiel er in eine Krise furchtbarster Verzweiflung. Selbst der, der die Pflicht ihn zu verteidigen übernommen hatte, vermochte nicht an seine Unschuld zu glauben! Die Angst vor dem Sterben, vor dem Ende loderte in ihm auf und verzweiflungsvoll klammerte er sich an das Leben. Er krallte die Finger in seine Wangen, raufte sich die Haare und schluchzte:

»Ich will nicht sterben. Ich will leben. Ich habe nichts getan!« –

Der Seelsorger besuchte ihn täglich. Eines Tages, als er erfahren hatte, daß die Nichtigkeitsbeschwerde verworfen worden war, und er nur noch auf die Gnade des Präsidenten zu hoffen hatte, entfuhr es Coche unvermittelt:

»Herr Pfarrer, auf Ehre und Gewissen antworten Sie mir: Wenn Sie der Präsident wären, würden Sie mein Gnadengesuch bewilligen? – Antworten Sie mit aller Aufrichtigkeit Ihres ehrenhaften Herzens. Ich muß es wissen, ich muß es unbedingt wissen.«

Der Seelsorger erwiderte, während er ihm offen in die Augen blickte:

»Nein, mein Sohn, ich würde nicht unterschreiben – man muß bezahlen …«

Seltsam, diese Antwort beruhigte Coche beinahe. Die schlimmste Qual seines Lebens war der Zweifel. Er hatte nicht gewagt, sich auf den Tod vorzubereiten, aus Furcht, dadurch das Unglück heraufzubeschwören. Jetzt war alles aus, jetzt betrachtete er sich schon als aus dem Leben geschieden und hoffte, alles andere noch in Fassung ertragen zu können. Trotzdem waren seine Nächte von Fieberträumen erfüllt. Beim leisesten Geräusch fuhr er schweißgebadet aus seinem Bette auf, lehnte er zitternd das Ohr an die Wand, um zu erraten, was draußen auf der Straße, in den düsteren Gängen des Hauses vorbereitet werde, und wenn dann endlich der Tag anbrach und er sicher war, daß dieses Morgengrauen noch vorübergehen werde, erst dann verfiel er erschöpft dem Schlaf, der von Seufzern und Schluchzen begleitet war …

Gegen Ende der dreiundvierzigsten Nacht glaubte er ein leises Raunen zu vernehmen, gedämpfte Schritte, die sich näherten. Seine Zähne begannen aufeinanderzuklappern, er hielt sich die Ohren zu, um nicht mehr zu hören, seine Augen hafteten angsterfüllt an der Türe seiner Zelle, und so wartete er auf den Augenblick, da sie sich öffnen mußte, um den Henker einzulassen. Und sie öffnete sich.

Verstört lief sein Blick über die Männer, die ihn umgaben und wortlos, mit müden Bewegungen, erhob er sich. Man frug ihn, ob er noch eine Messe anhören wolle. Gedankenlos bejahte er. Während der Seelsorger die Gebete sprach, starrte er, empfindungslos für seine Umgebung, nur auf den dunklen Strich, der zwei Fliesen voneinander trennte und dachte daran, daß das Messer an seinem Halse kaum eine breitere Spur hinterlassen werde … Er begriff kaum mit dem letzten Reste von Gedanken, die noch in seinem Kopfe wogten, wieso er noch am Leben sei. – Dann wurde er zum letzten Gang gekleidet, doch schon hatte er das Vermögen verloren, die Dinge, die mit ihm geschahen, zu erfassen. Ein schwaches Beben nur lief durch seinen Körper, als er die Schere an seinem Nacken fühlte, und als man den Strick um seine Hände und die Kette um seine Füße legte. Man bot ihm eine Zigarette, Kognak an – er lehnte ab …

Und plötzlich weitete sich der Horizont, der seit fünf Monaten für ihn mit den Mauern seiner Zelle geendet hatte, frische Luft traf seine Wangen, ein furchtbares Schweigen umgab seine Ohren, eine so tiefe, erschreckende Stille, daß das Pochen seines Herzens wie Glockengeläute hereinklang. Sein Traum wurde zur Wahrheit. Ueber den Schultern des Priesters erblickte er die drohend zum Himmel ragende Guillotine …

Behutsam löste sich der Tag aus den Schleiern der Nacht. Hinter den Dächern der Häuser begann es rosa und matt zu schimmern. Seine weitgeöffneten Augen schauten zum letzten Male, hungrig den Himmel umfassend … Er machte einen Schritt und wankte, von den Wärtern gestützt, vorwärts. Der Priester stotterte: »Der liebe Gott wird Ihnen vergeben …«

Der Gerichtspräsident sprach mit zitternder Stimme:

»Wollen Sie nicht durch ein Geständnis Ihr Herz erleichtern?«

Und Coche raffte alles, was ihm an Kräften geblieben war, zusammen, öffnete den Mund und schrie:

»Ich bin unschuldig …«

Seine Knie streiften schon das Gerüst, er warf einen verzweifelten Blick nach der Seite und plötzlich brüllte er, sich trotz der Wachen, trotz der Fesseln nach rückwärts werfend, mit unmenschlicher Stimme auf:

»Dort! Dort! Dort!«

Und während man sich bemühte ihn vorwärts zu stoßen, stand er gestrafft, die Füße gegen das Pflaster gestemmt, das Kinn vorwärts gestreckt und heulte unaufhörlich:

»Dort! Dort …«

Sein Ruf hatte etwas so Wildes und zugleich Aufwühlendes an sich, daß selbst die Wachen für einen Augenblick von ihm zurückwichen. Der Seelsorger blickte nach der Richtung, in die seine ausgestreckte Hand wies und aus der versammelten Menge gellten Schreie des Entsetzens.

Ein Soldat der Eskorte wurde im Gedränge, das entstand, umgerissen, zwei Männer und eine Frau versuchten sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, die in zügellosem Vordrängen schon den leeren Platz überschwemmte, auf dem sich der Verurteilte verzweifelt aus den Armen der Gefängniswärter zu befreien suchte, wobei er mit letzten Kräften brüllte:

»Laßt sie nicht fort! Dort, die Mörder. Nehmt sie fest … Dort … Dort …«

Der Priester warf sich in die Menge und schrie:

»Die zwei Männer! … Das Weib! Haltet sie auf«

Zwanzig Hände griffen nach ihnen, einer der Männer zog sein Messer, das Mädchen stieß gellende Schreie aus. Der Seelsorger stürzte zu Coche, umfaßte ihn mit seinen Armen und beschwor den Gerichtspräsidenten:

»Im Namen des Himmels, der hier seine Gnade bewiesen hat, rührt nicht mehr an diesen Mann …«

Coche stand jetzt unbeweglich, mit gesenktem Haupte. Große Tränen rannen über seine abgezehrten Wangen. Der Polizeikommissär war herbeigekommen und raunte dem Gerichtspräsidenten aufgeregt zu:

»Ich lehne jede Verantwortung ab. Die Hinrichtung kann unmöglich jetzt vollzogen werden, Herr Präsident. Ich habe zu wenig Leute, um diese Massen zu bändigen. Es würde ein Blutbad geben. Bedenken Sie das, ich beschwöre Sie …«

Da befahl der Vorsitzende, daß der Verurteilte ins Gefängnis zurückzuführen sei. Sonderbar war das Verhalten der erregten Zuseher. Diese Menge, die herbeigeströmt war, um einen Menschen sterben zu sehen, heulte jetzt vor Freude, da er dem Henker entrissen war. Man fühlte nur dunkel, Zeuge einer ans Wunderbare grenzenden Schicksalsverkettung gewesen zu sein. Jetzt, da die Eskorte den Häftling zurückführte, wußte den wahren Zusammenhang der Dinge noch niemand außer Coche, der sich selbst noch grübelnd bemühte, dieses Wunder, auf das er kaum mehr zu hoffen gewagt hatte, zu begreifen und zu verstehen, was in der blitzhaften Schnelle dieser schicksalsschweren, letzten Augenblicke eigentlich vorgegangen war.

Als sein Fuß an die Treppe des Henkergerüstes gestoßen hatte, war er schaudernd aus seiner Letargie erwacht und hatte, um dieses blutgierige Ungeheuer aus Holz und Stahl nicht sehen zu müssen, den Blick zur Seite gewendet.

In diesem Augenblicke waren ihm in der ersten Reihe der Zuschauer die Gesichter von zwei Männern und einer Frau aufgefallen und der Bruchteil einer Sekunde hatte ihm genügt, sie zu erkennen. Es waren die Drei, die er in der Mordnacht belauscht hatte. Allzutief waren ihre Züge in sein Gedächtnis eingegraben, als daß es ein Schwanken für ihn hätte geben können.

Was für ein unbegreiflich dunkler Trieb mochte die Drei hierhergebracht haben, um der Hinrichtung eines Menschen zuzusehen, der unschuldig ihr Verbrechen büßte? An solchen Tagen pflegen sich viele einzufinden, auf die der Scharfrichter schon lauert, als wollten sie das Sterben lernen. Bei diesen Dreien gesellte sich noch der Wunsch dazu, den Triumph ihrer Straflosigkeit zu genießen.

Verhaftet, versuchten sie anfangs zu leugnen, doch Coche, der all seine Kaltblütigkeit und seine klare Vernunft zurückgewonnen hatte, setzte ihnen hart zu. Die Schilderung, die er von seiner nächtlichen Begegnung mit ihnen gab, und die jedes ihrer Worte und fast jede ihrer Gesten unter dem trüben Schein der Straßenlaterne beschrieb, ließ sie bald erbleichen, sie begannen zu stottern und sich in Widersprüche zu verwickeln. Die Frau, als erste, stammelte ein Geständnis, zögernd folgten die Männer und mit abstoßender Dramatik entwickelte sich jetzt die altgewohnte Szene, in der die Täter einander die Hauptschuld zuzuschieben versuchen. In ihrer Behausung fand man noch all die Gegenstände, die sie am Boulevard Lannes geraubt hatten und auch das Messer, mit dem die Tat vollbracht worden war. Jetzt schien das unbegreifliche Abenteuer, in das Coche verstrickt worden war, aufgeklärt. Und nach Ablauf von zwei Wochen wurde er aus der Haft entlassen. Zwar, nach dem Buchstaben des Gesetzes, immer noch als ein zum Tode Verurteilter, doch in Erwartung der Revision seines Prozesses durch den Kassationshof gnadenweise in Freiheit gesetzt.

Als er sich zum ersten Male allein und frei auf der Straße fand und die Wogen des Lebens ihm betäubend entgegenschlugen, Licht und Luft ihn rauschend umgaben, da fühlte er sich einer Ohnmacht nahe und begann zu schluchzen.

Ein mildes Frühlingswetter erfüllte die Welt mit neuer Lebensfreude. Niemals war ihm das Leben leichter und köstlicher erschienen. Er erschauerte in Erinnerung an die Schrecken des Dramas, das er heraufbeschworen hatte. Er bebte bei dem Gedanken an die Schönheit all der Dinge, die er fast verloren hätte. Voll Grauen erkannte er den Abgrund, dem sein Verstand zugerollt war und ein unendliches Glücksgefühl überwältigte ihn, als er in einem Garten in den Anblick der braunen Bäume versunken stand, aus deren Zweigen die zarten Triebe mit grünen Flecken hervorzubrechen begannen, als sein Blick die schimmernden, frischen Rasenflächen und den weiten Himmel umfaßte … Er begriff, daß der Rest seines Lebens nicht ausreichen werde, um sich an all den Wundern der Natur sattzusehen, und er lächelte mitleidig, da ihm jetzt die einzige Wahrheit aufdämmerte: Weder Vermögen noch Ruhm sind es wert, daß man das Glück, zu leben, ihretwegen aufs Spiel setzt.

 

Ende.

 


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