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I.

Also, es bleibt dabei,« wiederholte Henri Ledoux auf der Schwelle seines Hauses, »sobald Sie einen Abend frei sind, rufen Sie an und sind mein Gast.«

»Einverstanden und nochmals vielen Dank …«

»Sie scherzen, ich bin's, der zu danken hat. Schließen Sie nur gut Ihren Rock, es ist nicht warm heute Nacht. – Den Weg kennen Sie doch? Geradeaus Boulevard Lannes bis zur Avenue Henri-Martin. Wenn Sie sich eilen, erreichen Sie vielleicht noch die letzte Tram. – Ja, noch eines: Haben Sie einen Revolver? Das Viertel hier ist nicht allzu sicher …«

»Keine Sorge, ich bin immer bewaffnet. Nächtliche Streifungen durch Paris sind mir nichts Ungewohntes, und es gehört zu meinem Beruf, die Schliche der Apachen zu kennen. Begleiten Sie mich nicht weiter; der Mond scheint wundervoll, es ist hell wie am Tage, gehen Sie getrost hinein …«

Onésime Coche überquerte den Fußsteig, gewann die Mitte der matt schimmernden Straße und schritt rüstig gegen die Stadt zu. Als er an der Straßenkreuzung angelangt war, hörte er nochmals die Stimme seines Wirtes, der ihm nachrief:

»Auf baldiges Wiedersehen! Ich rechne auf Ihr Versprechen!«

Er wandte sich zurück und antwortete munter:

»Wird gehalten! Gute Nacht!«

Herr Ledoux winkte ihm vom Treppenabsatz freundschaftlich mit der Hand. Hinter ihm bildete der beleuchtete, mit türkischen Wandteppichen geschmückte Gang einen hellen Fleck in der Nacht.

Der kleine, dunkel daliegende Vorgarten, das stille Häuschen mit den geschlossenen Fensterläden, seine gemütliche, altmodische Einrichtung, an die dieser ferne, schimmernde Gang erinnerte, atmeten kleinstädtische, langentbehrte, heimatlich anmutende Ruhe. Onésime Coche blickte einige Augenblicke in unbewegtem Sinnen nach jener Türe, die sich hinter Herrn Ledoux eben schloß. Zehn Jahre Pariser Lebens hatten die Eindrücke seiner Jugend, der stillen, ruhevollen Provinzstadt, in der er aufgewachsen war, noch immer nicht ganz zu verlöschen vermocht. Die Erinnerung an lange Winterabende tauchte in ihm auf, an stille Straßen, in denen man in Frühjahrsnächten, wenn das Holz arbeitete, das Knacken der Dachbalken und der Türpfosten an den Häusern zu vernehmen vermochte. Das Bild seiner greisen Eltern, die um diese Stunde schon längst in tiefem Schlummer lagen, tauchte vor ihm auf, des guten, alten Hauses von einstmals, und des unbeschwerten, hastfremden Lebens, das er dort hätte führen können, wenn nicht ein Dämon ihn nach dem Ungeheuer Paris gedrängt hätte, wo er als Eroberer eingezogen war, um schließlich froh zu sein, als Reporter bei einer Tageszeitung unterzukommen. Er steckte sich eine Zigarette an und ging weiter.

Der köstliche Duft der guten Bissen und der alten Weine, mit denen sein Freund ihn bewirtet hatte, war als ein leichter Nebel in seinem Kopfe haften geblieben, lang entschwundene Hoffnungen lebten wieder in ihm auf. In dieser nächtlichen Stunde, auf stiller Straße, da nichts seine Träume störte, kein Klirren der Maschinen, kein Rascheln der Papierbogen, weder der Geruch von Oel und Druckerschwärze, noch die ewig drängende Hast, denen er in den Räumen der Redaktion niemals zu entfliehen vermochte, – jetzt stand das herrliche, scheue Ziel seiner längst begrabenen Sehnsucht wieder strahlend – greifbar fast – vor seinen Gedanken: der Ruhm!

In rauschenden Nächten, beim blendenden Flimmern von Licht und Schmuck, bei Musik und lockenden Frauenaugen, im Wogen von Sinnenlust und Weinduft, von Parfüm und Puder – da war es ihm schon ein-, zweimal geschehen, daß er mit brennendem Kopfe, Ohren und Augen betäubt von Lärm und Farben, an seinem Tisch verstummt war, unerwartet überströmt von dem jähen schmerzlich-süßen Gefühl, »jemand zu sein«, Großes in sich zu tragen.

»Jetzt eine Feder, Tinte, Papier – und ich könnte unsterbliche Sätze niederschreiben!«

Leider hat man in solchen jauchzenden Stunden, wenn ein anderes Ich einem auf die Schulter zu springen scheint, um den müden Alltagsmenschen, zu dem man wurde, zu erwürgen, niemals Tinte, Feder und Papier …

Aehnlich erging es ihm in der Stille dieser Winternacht. Erinnerungen, Stimmungen kaum zu Gedanken verdichtet, fluteten durch seine klopfenden Pulse.

Eine Uhr begann langsam zu schlagen, und dieser metallische Ton genügte, um alle seine Träume zu zerstreuen. Vergangenes steht gerne auf, um Augenblicke des Schweigens zu beleben, doch nichts bringt die Gegenwart ungebetener zurück als der mahnende Ruf der Stunde.

»Halb eins!« sprach er zu sich, »die letzte Tram verpaßt! Der Teufel soll mich holen, wenn ich hier draußen einen Wagen finde!«

Er beschleunigte seine Schritte. Der Boulevard schien sich ins Endlose hinzuziehen. Zur Linken standen hinter ihren Vorgärten kleine Villen, rechts grenzte er an die gewölbte Masse des alten Festungswalles. In weiten Abständen lagen die Lichtkegel der Gaslaternen auf dem Fußsteig. Sie schienen die einzige Spur von Leben inmitten all der schlafenden Häuser und der kahlen Bäume, die mit keinem Blätterrauschen die Nacht zu grüßen vermochten. Diese vollkommene Stille, diese lautlose Einsamkeit ringsum, in der die Schritte des einzelnen Mannes überlaut klappten, hatten etwas Entnervendes für ihn.

Als er an der Bastei vorbeikam, in der jetzt eine Gendarmerieabteilung untergebracht war, verlangsamte Onésime Coche seine Schritte, um in das Schilderhaus des Wachtpostens zu blicken. Es war leer. Er ging längs der Hausmauer weiter. Hinter dem Gitter der Einfahrt schimmerte weiß im Mondlicht der Hof. Aus den Stallungen klang ein dumpfes Kettenklirren und das halblaute Wiehern eines Pferdes.

Diese vertrauten Laute, die so erlösend eine drückende Stille unterbrachen, verscheuchten das Gefühl nervöser Erregung, das seine Schritte zur Eile getrieben hatte: Onésime Coche, der Träumer, der Poet, war wieder verdrängt durch Onésime Coche, den unermüdlichen Reporter, der stets sprungbereit im Leben stand, immer entschlossen, seine Koffer zu packen, um mit dem gleichen Lächeln, mit der gleichen ungezwungenen Beharrlichkeit den Forscher zu interviewen, der eben vom Nordpol heimkehrt oder die Hausbesorgerin, die »den vermutlichen Mörder gesehen zu haben glaubt …«

Seine Zigarette war zu Ende. Er zog eine neue hervor und blieb stehen, um sie anzuzünden. Eben wollte er seinen Weg fortsetzen, als er drei Schatten bemerkte, die dem Gitter an der einen Straßenseite entlang glitten und auf ihn zukamen. Unter gewöhnlichen Umständen hätte er wahrscheinlich kaum den Kopf nach ihnen gewendet, aber in dieser verlassenen Gegend, zu so später Stunde, ließ ein wunderlicher Instinkt ihn aufmerken. Er wich in den Schatten zurück und beobachtete, hinter einem Baume verborgen, die Herankommenden.

Später erst erinnerte er sich daran, wie alle seine Sinne in diesen Augenblicken, die entscheidend für sein Leben werden sollten, in ungeahnter Schärfe und Genauigkeit funktioniert hatten. Seine Augen drangen in die Finsternis, nahmen hundert Einzelheiten auf, seine Ohren vernahmen das geringste Kreischen des Bodens. Obwohl er mutig, selbst kühn war, faßte seine Hand nach dem Revolver in der Tasche und als seine Finger über den kühlen Lauf glitten, fühlte er eine fröhliche Sicherheit. Tausend Gedanken strichen durch seinen Kopf. Klar und lebhaft tauchten plötzlich Erinnerungen vor ihm auf, die seit Jahren geschlummert hatten. In den wenigen Sekunden begriff er, wie das Bewußtsein der Todesgefahr vor dem inneren Auge eines Menschen zwischen zwei Herzschlägen sein ganzes, vergangenes Leben abzurollen vermag, er fühlte an sich selbst die plötzliche deutliche Vorahnung, mit der eine nahende Gefahr sich ankündigt und jene verzweifelte Anstrengung der Maschine Mensch, die sie zur Abwehr alle Muskeln und Sinne eine Höchstleistung ihrer Fähigkeiten gewinnen läßt.

Die dunklen Schatten kamen langsam näher. Bald hielten sie still, bald huschten sie weiter, als würden sie springend, hüpfend ihren Weg machen und vor jedem Vorschnellen zum Atemholen stehenbleiben. Als sie nur noch wenige Schritte weit waren, verlangsamten sie ihren Gang und blieben dann ganz stehen. Jetzt, im Lichtkegel des Kandelabers, vermochte Coche sie in Ruhe zu betrachten und jede ihrer Gesten zu belauschen.

Es waren zwei Männer und ein Weib. Der Kleinere trug ein dickes Bündel im Arm, das in Fetzen gehüllt war. Das Weib spähte gespannt lauschend nach allen Seiten und wich dann ebenso wie der Mann, der das Paket trug, vorsichtig aus dem beleuchteten Kreis ins Dunkel zurück, als hätten sie Angst, von einem unsichtbaren Zeugen bemerkt zu werden. Der zweite Mann blieb zunächst unbeweglich, schwer atmend stehen, dann machte er einen Schritt vorwärts, mit den Händen hielt er Stirn und Augen bedeckt und schwer lehnte er sich gegen den Kandelaber. Mit seinem bleichen Gesicht, den eingesunkenen Wangen, den schweren Händen, die wie Pranken seinen Kopf umspannten, von dem eine Strähne schwarzen, feuchten Haares über die Stirne hing, bot er einen unheimlichen Anblick. Zwischen seinen Fingern quollen einzelne Blutstropfen hervor und hinterließen eine dünne, rote Spur, die über die Wange lief, durch den struppigen Schnurrbart sickerte, Kinn und Hals färbte und unter dem Halstuch verschwand.

»Was gibt's denn jetzt wieder?« knurrte das Weib halblaut. »Worauf wartest du da?«

»Schmerzen hab' ich!« stöhnte er.

Sie trat aus dem Schatten zu ihm, der kleine Mann folgte ihr, legte sein Bündel auf den Boden und brummte, verächtlich mit den Achseln zuckend:

»Na, weißt du, gar so wehleidig zu sein …«

»Dich möcht' ich sehen, wenn man dich so hergerichtet hätte … Da, schau an!«

Er lüftete ein wenig seine Finger und zwischen den klebenden Haaren erschien eine grauenhafte Wunde, deren klaffende Ränder quer über Stirne und Augenbrauen liefen und erst am Augenlid endeten, das so verquollen und schwarz war, daß man nur mit Mühe in der blutunterlaufenen Masse darunter ein Auge zu erraten vermochte.

Mitleidig nahm die Frau ihr Taschentuch, um damit die Verletzung zu betupfen und da jetzt das eingetrocknete Blut nur stärker hervorzubrechen begann, löste sie von dem am Boden liegenden Bündel einige Fetzen Leinen und bedeckte damit die Wunde. Die Zähne aufeinanderbeißend, mit den Füßen stampfend, ließ der Mann sein brutales Gesicht verbinden, während der andere ungerührt grollte:

»Willst du die ganzen Sachen auspacken?«

»Nein, aber man muß doch …« Das Weib wandte scheu den Kopf nach ihm, während ihre Hände noch mit der Wunde beschäftigt waren.

Der Kleine kniete nieder, um sein Bündel so gut wie möglich zu verschnüren, zwängte einen blitzenden Gegenstand, der herausragte, hinein, nahm die Last unter den Arm, erhob sich und wartete ungeduldig aber stumm. Nur als die Frau mit ihrem hastigen Verband fertig war und die Hände an ihrer Schürze abwischen wollte, schoß er einen wütenden Blick nach ihr und fuhr sie an:

»Weg die Hand! Das wäscht man ab, aber trocknet's nicht, verstanden?«

Die Drei traten in den Schatten zurück und setzten ihren Weg, schweigend den Mauern entlangschleichend, fort. Ein Zweig fiel knisternd hinter ihnen zu Boden. Mit geballten Fäusten, gesenkten Stirnen warfen sie sich herum. Zum letzten Male erblickte Coche die brandroten Haare des Weibes, den eingekniffenen Mund des Kleinen und das andere, gräßliche, von den blutigen Fetzen halb verdeckte Gesicht. Dann sah er sie nach dem Rasen des Festungsgürtels abschwenken und in der Nacht verschwinden.

Coche, dem beim Fallen des Zweiges der Gedanke durch den Kopf gegangen war: »Wenn sie mich entdecken, bin ich ein toter Mann!« atmete jetzt tief auf und begann der Szene, die er belauscht hatte, nachzusinnen.

Er ließ den Revolver, den er während der ganzen Zeit umklammert gehalten hatte, los und das erste, woran er dachte, waren die Worte seines Freundes. Ja, Ledoux hatte recht gehabt, diese einsame Gegend schien in der Tat nicht recht sicher und er fügte hinzu, was er so oft an das Ende seiner Artikel gesetzt hatte:

»Die Polizei taugt nichts!«

Er beschloß, diese unwirtliche Gegend in beschleunigter Weise zu verlassen, zur größeren Sicherheit den dunklen Fußsteig zu meiden und in der Mitte der helleren Straße der Avenue Henri-Martin zuzueilen. Doch er hatte kaum vier Schritte gemacht, als seine Berufsinstinkte die Oberhand gewannen und er überlegend stehenblieb.

»Das schätzenswerte Trio,« sagte er sich, »dessen einseitige Bekanntschaft ich eben machte, muß von einem bösen Streich gekommen sein. – Was aber mögen sie wohl angestellt haben? – Raubanfall? Einbruch? … Die Wunde scheint eher auf einen Raubanfall zu deuten … doch das schwere Bündel paßt besser zu einem Einbruch. Strolche, die einen verspäteten Passanten anfallen, erbeuten wohl kaum anderes als Geld, Schmuck … Mit Silberzeug und ähnlichem nachts spazieren zu gehen, ist bei uns nicht Sitte … und wenn ich recht gesehen habe, so waren Metallgegenstände in dem Bündel! Sollte ich mich täuschen, dann müßten meine Ohren ebenso unverläßlich sein wie meine Augen, denn ich glaube, das Ziffernblatt einer Stehuhr gesehen zu haben und als der Mann sein Bündel hinlegte, hörte ich deutlich ein Klirren wie von Besteck. – Und die Wunde? – Streit bei Verteilung der Beute? Sturz gegen einen harten, scharfen Gegenstand, Marmorkamin, Glastüre? Das wäre denkbar … Jedenfalls scheint der Einbruch erwiesen. – Und was nun? – Es gibt zwei Wege für mich: Sofort umkehren und der Spur des Kleeblatts folgen – oder das Haus suchen, dem sie ihren Besuch abgestattet haben!«

Coche dachte eifrigst nach, welche der beiden Möglichkeiten einen größeren Erfolg zu versprechen schien.

»Zehn Minuten habe ich ihnen schon Vorsprung gegeben und selbst wenn ich sie noch einhole, kann ich allein gegen drei nicht viel ausrichten. Schließlich ist das Festnehmen solcher Burschen auch nicht meine Sache, dafür wird ja die Polizei bezahlt … Aber das überfallene Haus herauszufinden, ja, das ist eine würdige Aufgabe, die meine Instinkte als Amateurdetektiv zu reizen vermag! Niemand außer mir ist noch in Kenntnis von dem Diebstahl. Ich weiß genau, aus welcher Richtung sie kamen. Mein Blick reicht zweifellos trotz der Dunkelheit auf gute dreihundert Meter. Es muß etwa dreihundert Meter weit bis dahin sein, wo ich sie zum erstenmale auftauchen sah. – Auf ans Werk!«

Ohne sonderliche Eile begann er nach der Richtung, aus der das Kleeblatt gekommen war, auszuschreiten. Von Zeit zu Zeit wandte er sich nach der Gaslaterne um, die zurückgelegte Entfernung abschätzend. Sein Schritt mochte wohl fünfundsiebzig Zentimeter umfangen; er zählte vierhundert Schritte, dann blieb er stehen. In diesem Augenblick mußte er in das mögliche Tatgebiet eingetreten sein. Wenn der Diebstahl vor Abzweigung der Avenue Henri-Martin begangen worden war, dann konnte er mit einiger Sicherheit darauf rechnen, auf Indizien zu stoßen. Er verließ die Straße, betrat wieder den Fußsteig und folgte der Einzäunung des nächsten Hauses. So kam er zu einer kleinen, verschlossenen Türe. Das Haus selbst stand halb verborgen im Garten, ein Lichtschein fiel durch die herabgelassenen Vorhänge. Nein, dies sah nicht nach dem Schauplatze eines Einbruches aus! Ohne sich länger aufzuhalten ging Coche den Gärten entlang weiter. Ueberall fand er dieselbe friedliche Stille, nirgends eine Spur gewalttätiger Bubenhand. Schon begann seine Zuversicht zu schwinden, als er ein Gartentor, gegen das er seine Hand gelehnt hatte, unter seinem Druck weichen fühlte: es war unverschlossen gewesen!

Prüfend hob er den Blick. Das Haus lag dunkel und ruhig vor ihm und seltsam lastend erschien ihm diese Stille. Er zuckte unwillig die Schultern und murmelte: »Was für dumme Einbildungen! Will mir jetzt meine Phantasie einen üblen Streich spielen, da ich gerade die größte Kaltblütigkeit nötig hätte? – Und doch – ist es ein bloßer Zufall, daß dieses Tor nur angelehnt war?«

Indessen hatte sich die Gittertüre in ihren Angeln gedreht. Der kleine Garten mit seinen Beeten sorgsam gerechter Erde lag vor ihm, der gelbe Sand des Weges, der im Mondlicht wie Gold schimmerte … Eine Unschlüssigkeit befiel Coche, eine Lähmung seines Unternehmungsgeistes, die so stark waren, daß er beschloß, das Tor wieder zu schließen und seinen Weg fortzusetzen. All dies war doch nur ein kindisch geträumter Kriminalroman! Jene Strolche waren nichts anderes als harmlose Arbeiter gewesen, die sich auf dem Heimweg befunden hatten … Und die mit Trunkenbolden Händel gehabt … Was hatten sie denn schließlich gesprochen, das seinen Verdacht berechtigt erscheinen ließ? – Ihr Benehmen war scheu, ihr Aussehen drohend gewesen? – Und er, Coche selbst, wenn er so plötzlich aus der Nacht auftauchte, wäre sein Anblick nicht auch erschreckend? …

Das Drama verwandelte sich ihm nach und nach in eine Posse … Blieb nur das Bündel … Und wenn es nichts anderes, als einen alten Küchenwecker und Eisenwerkzeug enthalten hatte? –

Die Nacht überstreut Menschen und Dinge mit gespensterhaften Schatten, die das Sonnenlicht in einem Augenblick verscheuchen würde. Die Furcht, ihre teuflische Schwester, verwandelt alles, gestaltet das Unscheinbarste zu großen Erlebnissen – niemand vermag zu sagen, in welchem Augenblick sie von seinem Gehirn Besitz ergriffen hat. Noch denkt man: »Ich will dies, ich sehe das …« und schon ist sie es, die unseren Willen lenkt, unsere Sinne fesselt, die alles in uns verwandelt hat. Ihre Augen sind an unserem Blick, ihre Finger fühlen wir an unserem Hals … Ein Schauer überrieselt uns plötzlich, wir bäumen uns verzweifelt auf, ihrer Umklammerung zu entfliehen – vergeblich. Die Tapfersten erklären sich als erste besiegt. Das ist der trübe Augenblick, in dem die furchtbaren Worte: »Ich habe Angst …« von bebenden Lippen geflüstert werden. Doch wie lange vorher schon klappert man mit den Zähnen, ohne daß man wagt sich es einzugestehen!

Onésime Coche trat einen Schritt zurück und sprach laut zu sich selbst:

»Du hast Furcht, mein Junge!«

Er wartete auf die Wirkung, die diese mit erhobener Stimme in der Stille der Nacht gefallenen Worte bei ihm auslösen würden. Doch kein Muskel seines Körpers zuckte, unbeweglich blieben seine Hände in die Rocktaschen gesenkt, selbst jenes flüchtige Staunen blieb aus, das man doch meist empfindet, wenn man in tiefem Schweigen ringsum plötzlich seine eigene Stimme vernimmt. Er blickte starr vor sich hin – doch plötzlich reckte er den Hals, neigte er den Kopf: Fußspuren! Im gelben, schimmernden Sande fielen ihm schwache Eindrücke von Schuhen auf, deutlich abgezeichnet an einzelnen Stellen, verwischt, an anderen wie von mehreren Schuhen. Er bückte sich und nahm ein wenig Sand zwischen die Finger. Er war ganz trocken, sehr fein und so leicht, daß der geringste Luftzug genügen mußte, ihn zu verwehen. Als er die Finger öffnete, sah er die feinen Körnchen wie eine kleine Staubwolke zu Boden schweben.

Jetzt entschwanden mit einem Schlage alle seine Zweifel und mit ihnen brach auch die ganze Philosophie über die Angst und ihre Phantasiebilder, die er sich aufgebaut hatte, zusammen. Niemals war sein Geist klarer gewesen, niemals hatte er sich ruhiger gefühlt! Sein Gehirn arbeitete wie ein fleißiger Handwerker, der seine Aufgabe Stück für Stück bewältigt und bei dem letzten Hammerschlage sein Werk mit ausgestrecktem Arm in Augenhöhe hebt, um es wohlgefällig zu betrachten.

Alles, was ihm noch kurz zuvor wie ein verächtliches Hirngespinst erschienen war, sah er jetzt von neuem wieder möglich, wahrscheinlich – ja wahr! Gewißheit erschien ihm aus unleugbaren Indizien. Keine Hypothesen waren es mehr, sondern Tatsachen, die sich nachprüfen ließen, die seine Phantasie nicht zu entstellen vermochten. Schritt für Schritt gelangte er – diesmal in logischen Folgerungen – ganz zu demselben Punkt, von dem er, nur einer augenblicklichen Stimmung folgend, ausgegangen war.

– Füße hatten den Sand dieses Gartenweges berührt und vor nur ganz kurzer Zeit berührt, denn wäre es länger her, dann hätte ein noch so leichter Luftzug die Spuren verwischen müssen. Die Männer mit dem Weib waren hier gewesen. Niemand außer ihnen hatte die Schwelle des Hauses überschritten! Das geahnte Geheimnis ruhte hinter diesen Mauern, im Dunkel dieser schweigsamen Zimmer. Eine unsichtbare Kraft trieb ihn vor.

Er trat in den Garten ein.

Anfangs setzte er nur mit größter Vorsicht Fuß vor Fuß und vermied es, auf die Spuren zu treten, denn obwohl er wußte, daß der leiseste Lufthauch sie in kurzer Zeit verwischen mußte, maß er ihnen doch zu große Bedeutung bei, um sie selbst zu zerstören. Die Einbrecher hatten ahnungslos ihre Visitenkarte hinterlassen: der unfähigste Polizist aus der Provinz müßte sie gebührend zu schätzen wissen und würde sie als wichtigste Entdeckung in der Folge zu verwerten trachten. Coche erinnerte sich an alle die sensationellen Fälle, in denen weit bedeutendere Indizien zur Entdeckung der Täter geführt hatten. Da war doch jene ganz abenteuerliche Geschichte gewesen, bei der ein am Tatort vergessener Schuh nach vielen Jahren zur Ueberführung des Verbrechers geführt hatte …

Coche staunte selbst über die klare, ruhige Tätigkeit seiner Gedanken, die doch noch kurz vorher Beute der widerstreitendsten, verwirrendsten Zweifel gewesen waren. Es war gar nicht sein Verstand, der ihn lenkte, es war mehr eine Art höheren Instinktes, der ihn nicht bloß die kühnsten Folgerungen aneinanderreihen ließ, der jeden Muskel seines Körpers beherrschte.

So langte er nach kaum zehn Schritten vor der Türe des Hauses an. Er, den eben noch das Auftauchen eines Schattens, einer Fußspur bis zum zögernden Zurückweichen hatte verwirren können, er, der während eines allzulange scheinenden Augenblickes nicht gewagt hatte, seine Zweifel zu bekämpfen – er empfand es nicht im geringsten als verwunderlich, daß nun auch das Haustor unversperrt war und sich nach bloß leichter Drehung der Klinke geräuschlos öffnete. Und doch war logischerweise das Nachgeben des Haustores weit unbegreiflicher als die offenstehende Gartentüre. Daß man schließlich letztere zu verschließen vernachlässigte, wäre nicht allzu schwer zu begründen gewesen, bot ein solches Gartengitter nächtlichen Besuchern doch ein nur scheinbares Hindernis, in Wahrheit bildete es kaum einen Aufenthalt von wenigen Sekunden: der Erstbeste vermochte sich ohne besondere Mühe hinaufzuschwingen, die kurzen Eisenspitzen ließen sich leicht vermeiden und geräuschlos konnte man in den Garten niedergleiten … Doch das schwere Eichentor eines Hauses bietet wohl gegen so ungebetene Gäste Sicherheit genug, als daß man vergessen könnte, es vor dem Schlafengehen zu versperren. Diese so einfache Ueberlegung streifte indes kaum das Bewußtsein von Onésime Coche, ebensowenig wie ihn das Gefühl beunruhigte, daß man ja ihn selbst für einen Einbrecher halten und entsprechend empfangen könnte.

Als er indes seine Sohlen auf den Fliesen des Korridors widerhallen hörte, blieb er doch stehen, um ein Streichholz in seiner Tasche zu suchen, doch die Schachtel, die er fand, war leer … »Dummes Pech!« murmelte er, zog seinen Revolver hervor und tastete sich, nur von der feuchten, kalten Mauer geleitet, mit weit ausgestrecktem, linkem Arm vorwärts. Mit einemmale verloren seine Finger die Stütze der naßkalten Wand, er tappte ins Leere. Behutsam fühlte er mit einem Fuße vor, zog den anderen nach. Da stieß er gegen etwas, das einen dumpferen Klang gab als die Steinfließen, er bückte sich, durchforschte angestrengt das Dunkel und fand unter seinen suchenden Fingern den untersten Absatz einer Holztreppe, deren Teppichbelag ihm nach der feuchten Mauer als wohltuender Luxus erschien. Er richtete sich vorsichtig wieder auf und fand jetzt auch das Geländer. Das Holz der Treppe krachte, als er den Fuß darauf setzte. Ohne zu überlegen, begann er die Treppe nach dem oberen Stock zu ersteigen, statt zunächst das Erdgeschoß zu erforschen. Er zählte zwölf Stufen und schien oben angelangt: sein Fuß spürte kein Hindernis mehr, der Weg war frei. Jetzt erst kam er ein wenig zur Ueberlegung. Es war nötig, daß er sich orientiere, bevor er weiteres unternahm, ja und vor allem mußte er doch seine Anwesenheit merken lassen, wollte er nicht riskieren, von den überraschten Bewohnern des Hauses mit einer Kugel begrüßt zu werden.

Der Schlaf dieser Leute mußte übrigens ein recht tiefer sein, daß sie ihn gar nicht heraufkommen gehört hatten, obwohl die Treppe oft genug unter seinen Schritten geächzt hatte. Auch das Haustor hatte laut geknarrt, als er es geschlossen hatte. Wer mochte wissen, ob nicht irgendwo in einem dunklen Winkel ein Mann mit gespanntem Hahn lauerte, um beim nächsten Schritt, den er machte, nach dem vermeintlichen Einbrecher zu schießen? Ja, es war erstaunlich, daß nicht schon eine Revolverkugel an ihm vorbeigepfiffen war. Coche versuchte, die Finsternis ringsum mit seinem Blicke zu durchdringen und während seine Hand die letzte Rückzugsmöglichkeit, das Treppengeländer, fest umklammert hielt, sprach er halblaut, um den, der ihn vielleicht beobachten mochte, nicht zu erschrecken: »Ist jemand da?«

Keine Antwort. Er wiederholte, etwas lauter: »Ist hier niemand?«

Nach einigem kurzen Warten fügte er hinzu:

»Fürchten Sie nichts, kommen Sie heraus …«

Noch immer war kein Laut hörbar.

»Teufel,« dachte er, »das nenne ich einen Schlaf! Dies konnte ich nicht voraussehen. Meine Arbeit wird dadurch erschwert … Ich habe durchaus keine Lust, mich aus lauter Berufseifer zum Krüppel schießen zu lassen!«

Er überlegte einen Augenblick, dann rief er, diesmal mit erhobener Stimme:

»Oeffnen Sie, die Polizei ist hier!«

Dieses Wort ließ ihn lächeln. Woher war ihm der Einfall gekommen, sich als »Polizei« auszugeben? – Onésime Coche ein Polizist? Gerade er, der nichts lieber tat, als die Fehler und Unterlassungen der Präfekten aufzudecken, die Agenten und Detektive schonungslos zu verspotten und bloßzustellen, er hatte sich hinter ihren Namen verschanzt, das war wohl ein gelungener Scherz! … Ja, die Polizei! Fast laut begann er zu lachen. Die dachte jetzt weder an ihn noch an die Einbrecher. Um diese Stunde gingen die verschlafenen Polizisten hübsch paarweise ihre friedliche Runde, mit aufgestellter Kapuze, die Hände in die Taschen versenkt, ohne rechts oder links zu blicken … In den Wachtstuben aber saßen sie wohl beim knisternden Eisenofen, im Gestank der Pfeifen, des feuchten Lederzeuges, rittlings auf den Bänken, spielten mit schmierigen Karten und warteten auf den verspäteten Trunkenbold oder auf einen Milchhändler, den man bei der Taufe seiner Ware überrascht hatte … Ja, das war die Polizei! – Er aber, Onésime Coche, war das, was sie hätte sein sollen: der treue und wachsame Hüter voll Geschicklichkeit und Kühnheit, der allein imstande war, die Sicherheit der Stadt zu schützen.

Welche Gegenüberstellung für seinen morgigen Artikel! Das sollten wieder einmal ein paar Spalten voll beißenden Spottes werden! Er, der simple Journalist, würde ihnen eine gesalzene Vorlesung über ihr Handwerk halten! Schon jetzt schmunzelte er, wenn er an die Gesichter der Polizeigewaltigen morgen dachte! – Eine sensationelle Ueberschrift würde bald gefunden sein, einige wirksame Untertitel … Das sollte eine Auflage werden! – – –

Doch selbst das magische Wort Polizei verhallte wirkungslos wie alles frühere in der Finsternis. Nicht das leiseste Zeichen eines lebenden Wesens war zu entdecken. Coche sah ein, daß seine List nichts getaugt hatte und daß die Gefahr noch immer die gleiche blieb. Eines indes beruhigte ihn: seine Augen, die sich nach und nach ans Dunkel gewöhnt hatten, bemerkten nur wenige Schritte weiter einen matten Lichtschimmer. Näherkommend erkannte er ein Fenster, durch dessen Jalousien der Mond hereinschien. Er spähte hinaus und sah den kleinen Garten, den Boulevard …

Doch er hielt sich nicht lange damit auf, den Mond und den sternbesäten Himmel zu betrachten. Nichts entsprach weniger seiner hitzigen Natur, seinem draufgängerischen Temperament, als diese drückende Stille, solche hemmende Finsternis und endlose Vorsicht. Alles hatte er versucht – Geduld, Ueberredung, Mahnung, Drohung – doch alles hat seine Grenzen. Er war in dieses Haus gedrungen, um sich Gewißheit zu verschaffen – er würde sie haben!

Er wandte sich vom Fenster zurück, tastete sich der Mauer entlang, bis er eine Türe fühlte, fand die Klinke und rief, während er sie fest an sich hielt, damit man von innen nicht öffnen könne:

»Ich tue Ihnen nichts – fürchten Sie nichts! Nicht schießen!«

Er zählte bis drei und da er keine Antwort erhielt, stieß er die Türe heftig auf. Er hatte mit einem Widerstand gerechnet, doch da er keinen fand, stürzte er kopfüber, von seinem eigenen heftigen Schwung aus dem Gleichgewicht gerissen, nach vorne und seine Stirne schlug an einen harten Gegenstand. In der Bemühung, sich im Fall aufzuhalten, faßte seine Hand einen Stuhl, den er mit Gepolter umriß.

»Jetzt aber,« sagte er sich, »wird man mich doch wenigstens gehört haben.«

Indes auch der Widerhall dieses Lärmens verhallte auf Gang und Stiege und alles blieb stumm wie zuvor, keine Stimme wurde laut, kein Flüstern war zu vernehmen, kein Hauch regte sich im ganzen Hause.

»Ja so,« meinte Coche verdrießlich, »die Einbrecher waren schlauer als ich dachte. Der Käfig ist leer und die Halunken wußten das! Sie konnten ihrer Arbeit ganz ungestört nachgehen und fanden es nicht einmal nötig, die Türen hinter sich zu versperren. Jetzt begreife ich auch, daß ich so mühelos hereinkam!«

Ein Lichtschalter war bald neben der Türe gefunden und drehte sich knackend unter seinen Fingern. Als seine Augen aber nach dem geblendeten Zwinkern der ersten Sekunden in dem geräumigen Zimmer umzuschauen vermochten, bot sich ihnen ein so unerwarteter, ein so entsetzenerregender Anblick, daß Coche seinen Körper in kaltem Schweiße erstarren fühlte und einen Aufschrei des Schreckens nur mühsam unterdrückte.

Maßlose Unordnung herrschte im ganzen Raum. Ein offenstehender Schrank zeigte durcheinandergewühlte Wäschestücke, Leintücher, die voll roter Flecken waren, hingen heraus, als hätte man sie in Eile und mit Gewalt hervorgezerrt. Aus klaffenden Schubladen waren Papiere, Kleidungsstücke, alte Schachteln herausgerissen worden, die in wüstem Durcheinander am Boden lagen. Neben einem Fenstervorhang leuchtete auf der mit hellem Seidenstoff bespannten Wand der dunkelrot blutige Abdruck einer klotzigen Hand, die sich mit gespreizten Fingern dort aufgestützt hatte. Der Spiegel am Kamin zeigte der ganzen Länge nach einen Riß, der von einem heftigen Schlag herzurühren schien, der ihn in Schulterhöhe getroffen haben mußte, denn an dieser Stelle war das Glas vollkommen ausgebrochen und flimmernde Splitter lagen auf dem Boden verstreut. Auf dem Waschtisch sah Coche zerrissene und zerknitterte Leinenstücke, die Waschschüssel voll rotgefärbten Wassers war übergelaufen und ebensolche Lachen standen auf der weißen Marmorplatte. Ein ausgewundenes Handtuch, das hingeworfen lag, zeigte die gleiche, grausige Farbe, alles war rot, voll Blut … Der Teppich gab unter den Schritten ein ähnliches Geräusch wie feuchter Strand zur Zeit der Flut. – – –

Und nach rückwärts gesunken, mit weit auseinandergestreckten Armen, einen abgebrochenen Flaschenhals in der verkrampften Hand, die von den Splittern zerschnitten war, lag quer über das Bett ein älterer Mann, dessen Hals vom linken Ohr bis über die Kehle durch einen gräßlichen Hieb aufgeschlitzt war. Polster, Bettzeug, Wand und Möbel waren über und über mit dem Blut bespritzt, das wie ein Springquell aus der tödlichen Wunde hervorgebrochen sein mußte. Im grellen Lichte der starken Glühlampen, im entsetzlichen Schweigen ringsum, erweckte dieser verwüstete Raum, in dem das Blut seine roten Spuren hinterlassen hatte, nicht mehr den Eindruck eines Wohnzimmers; er glich einem Schlachthaus.

Onésime Coche hatte all dies mit einem raschen Blick überflogen und sein Grauen war so überwältigend, daß er sich erst gegen die Wand lehnen mußte, um nicht zusammenzubrechen und daß er dann seinen ganzen Willen aufraffen mußte, um sich gegen die Gedanken an Flucht aus dieser Stätte des Entsetzens zu wehren. Eine heiße Glut stieg ihm in die Wangen, ein Zittern lief über seine Haut und kalten Schweiß fühlte er auf seinem Rücken.

Neugier, Zufall und sein Beruf hatten ihn schon oft genug in die Lage gebracht, schreckenerregende Anblicke ertragen zu müssen, noch niemals aber hatte er ein derartiges Grauen gefühlt, denn bisher war ihm immer vorher bekannt gewesen, was er würde sehen müssen. Ueberdies hatte er, was seinen Mut stählte, sein Grauen überwinden half, immer die Nähe anderer Männer um sich gehabt, wodurch der Furchtsamste tapfer wird. Zum ersten Male fand er sich ganz unvorbereitet und allein dem Tod gegenüber – und was für einem Tod!

Indes, es gelang ihm doch seine Nerven zu meistern. Er blickte in den gesprungenen Spiegel, der ihm sein eigenes Bild zurückwarf: bleiche Züge, dunkle Schatten unter den Augen, verzerrte, halboffene Lippen und auf der Stirne, an der Schweißtropfen glitzerten, nahe der rechten Schläfe, über die das Blut in einem dünnen Streifen rann, ein dunkelroter Fleck …

Zuerst meinte er – an seinen Sturz beim Oeffnen der Türe hatte er ganz vergessen – daß dies blutige Mal am Spiegel und nicht an seinem Kopfe sei. Er beugte sich nach der Seite, der Fleck, die Blutspur wanderten mit seinem Spiegelbilde! Da befiel ihn ein Grauen, namenloses, furchtbares Grauen! Jetzt war es nicht mehr bloß Furcht vor der Einsamkeit, vor der Stille ringsum, vor dem Verbrechen, es war das dunkle, unnennbare Grauen vor etwas Unnatürlichem, vor einem Wahnsinn, den er plötzlich in sich ausgebrochen meinte. Er stürzte mit zwei Sprüngen zum Kamin, bebend stemmten sich seine Hände auf die Platte und Aug in Auge starrte er sein Bild an … Da begann er wieder frei zu atmen, beim Betrachten seiner verwundeten Stirne war ihm auch die Erinnerung zurückgekehrt. Jetzt fühlte er auch den Schmerz an seiner verletzten Schläfe – fast freute er sich dieser Schmerzen – und vorsichtig tupfte er mit seinem Taschentuche das Blut ab, das über die Wange schon bis zum Kragen geronnen war. Die Wunde war unbedeutend: ein einfacher Riß von etwa zwei Zentimeter, der allerdings, wie alle Gesichtsverletzungen, stark geblutet hatte und den eine rotblaue Quetschung, kaum größer als ein Zweifrancs-Stück, umgab. Jetzt begann er wieder – seitdem er das Zimmer betreten hatte, war ja kaum eine Minute vergangen – an den Toten zu denken, dessen Bild er neben dem eigenen im Spiegel erblickte. Dort lag er über dem Bett, mit seinem in die Polster gedrückten, schrecksstarren Antlitz, unter dem in die Höhe ragenden Kinn streckte sich der Hals mit der bestialischen Wunde, als erwarte er einen neuen Todesstreich …

Coche wandte sich zum Bett, unter seinen Füßen knirschten die Glassplitter und er beugte sich über die Leiche. Rings um den Kopf war nur wenig Blut zu sehen, doch unter Nacken und Schultern schien das Bett davon getränkt. Er nahm mit unendlicher Vorsicht den Kopf zwischen seine Hände und hob ihn auf: die Wunde quoll wie ein gräßlicher Rachen noch weiter auseinander und mit einem leichten Schnalzen sickerte wieder frisch das Blut hervor. In den Haaren war es zu einer dicken Kruste geronnen … Sachte ließ Coche den Schädel zurücksinken.

Noch im Tode lag ein unbeschreiblicher Ausdruck angstvollen Entsetzens über den Zügen. Die Augen, die noch Glanz zeigten, starrten weitaufgerissen in die Höhe. Zwei Lichter in ihnen bildeten den Reflex des Lusters und daneben sah Coche zwei kleine, noch kaum verschleierte Bildchen seines eigenen Kopfes. Zum letzten Male, ehe der Tod ihn auf immer trübte, warf der Spiegel dieser Augen, an dem die Gestalten der Mörder vorbeigezogen waren, ein menschliches Antlitz zurück. Der letzte Herzschlag war schon verklungen, kein Geräusch aus unserer Welt fand mehr den Weg in diese Ohren, der Aufschrei, der den verzerrten Lippen vor kurzem entflohen war, blieb der letzte, dem Röcheln, das durch das Gitter der starr zusammengepreßten Zähne gedrungen war, folgte nie mehr ein Laut, nie mehr ein Atemzug. Dieser Körper, der jetzt noch warm war, sollte niemals mehr erbeben, nicht im Taumel zärtlicher Küsse, nicht im Schluchzen gramvoller Stunden …

Und plötzlich stand zwischen dem Toten und ihm ein anderes Bild: das jener Drei vom Boulevard Lannes. Er sah den Kleinen wieder vor sich mit dem Bündel unter dem Arm, das verquollene Auge des anderen und seine brutalen Backenknochen, er hörte die schneidend trockene Stimme: »... das wäscht man …« und das Drama, das sich in diesem Raume abgespielt haben mußte, trat mit furchtbarer Klarheit vor sein Auge.

Während das Weib Schmiere stand, waren die zwei Männer, nachdem sie die Schlösser mit ihren Werkzeugen bezwungen hatten, in den ersten Stock gestiegen, wo sie Wertsachen wußten. Im Schlafe aufgestört, beginnt der Alte zu schreien, die Männer stürzen sich auf ihn, ein wilder Kampf beginnt. Der Ueberfallene wehrt sich mit einer Flasche und trifft einen der Einbrecher damit am Kopfe. Die umgestürzten Möbelstücke, die vielen Blutspuren zeigen die Flucht des hartnäckigen Opfers kreuz und quer durch das Zimmer, ehe es sich beim Bett umstellt sieht. Einer der Mörder reißt den Schreckerstarrten beim Hemd auf den Rücken und hält ihn fest, indes die Hand des anderen mit einem einzigen Hieb seine Kehle durchtrennt … Während das Blut noch aus der Todeswunde strömt, wühlen schon gierige Hände nach Geld, nach Schmuck, nach Wertpapieren …

Onésime Coche ließ seine Blicke durch den Raum wandern, um die ganze Szene, die sich hier abgespielt haben mochte, in seinen Gedanken zu verfolgen.

Auf dem Tische standen drei Gläser, die noch Weinreste enthielten, – also hatten die Verbrecher nach vollbrachter Missetat nicht gleich die Flucht ergriffen. Sicher, jetzt nicht mehr gestört zu werden, hatten sie getrunken, dann hatten sie dort beim Waschtisch ihre Hände gereinigt und abgetrocknet …

Eine plötzliche Wut kam über den Reporter. Er ballte die Fäuste und stöhnte:

»Oh, diese Schufte, diese Schufte …!«

Was sollte er nun tun? – Hilfe herbeiholen, rufen? … Wozu? Hier war alles vorbei, alles zwecklos … Er blieb starr an die Wand gelehnt stehen, verstört, gelähmt von der Atmosphäre des Mordes, die ihn umgab …

Dann erblickte sein Geist wie in einer Vision die Raubmörder. Sie saßen in einer schmierigen Spelunke, ihre roten Finger verteilten die erbeuteten Schätze …

Und zum zweiten Male knirschte er:

»Diese Schufte!«

Ein grimmiger Wunsch erfüllte sein Denken: ihnen nochmals begegnen … Dann aber sollten sie nicht mehr die gesättigten, triumphierenden Sieger sein, wie sie an diesem Tische gelümmelt haben mochten, dann sollten sie zitternd, schlotternd, selbst den Tod im Nacken fühlend, zwischen zwei Gendarmen auf der Anklagebank sitzen … Er sah ihre widerlichen Gesichter vor sich, wie sie verzerrt dem Todesurteil lauschten, das man ihnen vorlas, er sah sie im bleichen Morgengrauen auf dem Wege zur Guillotine. Gesetz, Staatsgewalt und Henker erschienen ihm als furchtbare, erbarmungslose, aber gerechte Vergelter …

Aber, war denn die Polizei nicht viel zu ungeschickt, um die Mörder zu fassen? Manchmal, wenn der Zufall ihr half, dann nahm sie wohl den einen oder den anderen fest, doch wieviele ungesühnte Verbrechen kamen auf einen verhafteten Strolch! Ja, wenn die Polizei kluge Köpfe in ihren Reihen hätte! Sie müßten ihr Amt als eine Art Kunst betreiben, es sollte ihnen weniger Beruf und mehr ein Sport sein. Doch bis dahin war jeder Verbrecher, der bei seiner Arbeit nicht geradezu einen groben Fehler begeht, ziemlich sicher, straflos auszugehen. Denn mehr versteht die Polizei nicht, als nach Aufdeckung eines Verbrechens in der Umgebung des Opfers zu suchen, planlos in seinem Leben nach Anhaltspunkten zu forschen, seine Papiere zu durchwühlen … Wenn der Mörder aber niemals vorher mit seinem Opfer in Verbindung gestanden, dann bleibt der »Fall« unaufgeklärt, nach einigen Monaten, vielleicht erst, nachdem es irgend einem armen Teufel, den der Uebereifer eines tatendurstigen Untersuchungsrichters zum Sündenbock einer unfähigen Polizei gemacht hat, mit Mühe gelungen ist, sein Alibi zu erbringen, wird der Akt geschlossen! Und die durch den Erfolg noch kühner gemachten Verbrecher beginnen ihr Werk von neuem, diesmal noch vorsichtiger und geschickter, denn aus den Fehlern der Polizisten, deren Arbeit sie ja genau zu verfolgen vermögen, lernen sie mehr als ihre unfreiwilligen Helfer.

Und doch gibt es nichts Packenderes als solche Jagd auf Menschen! Mit kaum sichtbaren Merkmalen, an denen Laien achtlos vorbeigehen würden, beginnt die Kette, an die das ganze Drama in allen seinen Einzelheiten, Glied für Glied angereiht wird. Ein Fingerabdruck, ein fallen gelassenes Stückchen Papier, ein weggerückter Gegenstand weisen auf den Ursprung der Ereignisse. Aus der Lage des Körpers vermag man die Stellung des Mörders, aus der Art der Wunde seine Kraft, seinen Beruf zu folgern! Die Zeit, zu der das Verbrechen geschah, muß Aufschluß über die Gewohnheiten des Täters geben. Nach der bloßen Prüfung der vorhandenen Spuren soll man die ganze Tat mit allem, was vorher und nachher geschah, rekonstruieren, wie ein Gelehrter aus einem einzigen ausgegrabenen Knochen das ganze prähistorische Tier rekonstruiert! – Was für wunderbare Sensationen muß solche Arbeit schenken, welches Triumphgefühl krönt das vollendete Werk! Selbst ein Erfinder, der in seinem Laboratorium Tage und Nächte verbissen der Lösung eines Problems nachgrübelt, kennt keine höheren Schöpferfreuden! – Und das Ziel, dem seine Arbeit zusteuert, steht doch unveränderlich am Ende des richtigen Weges. Er weiß wenigstens, daß es nur eine unverrückbare Lösung gibt, daß keine Ereignisse sie zu verändern vermögen. Gemächlich kann er jeden Schritt überlegen, jeder bringt ihn dem Ziele näher, ob er Monate, ob er Jahrzehnte zu seinem Wege braucht, die Lösung harrt auf ihn, starr, unveränderlich, unbeeinflußbar … Wie anders muß der Detektiv arbeiten! Ständig gejagt, gehetzt von den Ereignissen, das Versäumnis einer Minute vernichtet wochenlange Mühen, das Ziel, das eben noch greifbar schien, ist einen Augenblick später entschwunden, der Triumphschrei, den die Kehle formt, wird von den Lippen erstickt, das vielfältige, unbegreifliche Leben selbst mit all seinen Hoffnungen, seinen Zweifeln, seinen Enttäuschungen spiegelt seine Arbeit! Er kämpft gegen alles, gegen alle und dieser Kampf fordert das Wissen eines Gelehrten, die List des Jägers, die Kaltblütigkeit eines Heerführers, Geduld, Mut und den angeborenen Instinkt, alle Eigenschaften, die erst zusammen den wahrhaft bedeutenden Mann ergeben, und nur in ihrer Vollendung Großes schaffen lassen.

»Diese köstlichen Augenblicke,« so dachte Coche, »die die Hingabe an solche Arbeit gewährt, die möchte ich erleben. Im Rudel der unfähigen Polizisten, die morgen hier ihren ganzen Apparat in Bewegung setzen werden, will ich der Schweißhund sein, der auf der rechten Fährte galoppiert. Ohne Hilfe der anderen, ohne Sorge um Mühe und Gefahr will ich einmal diesen Beruf ausüben und die Welt durch die ungewöhnliche Tatsache in Erstaunen setzen, daß ein einzelner Mann, ohne jeden Rückhalt bei den »Eingeweihten«, ohne andere Stütze als die seines entschlossenen Willens, ohne andere Auskünfte, als jene, die er sich selbst zu beschaffen versteht, die Wahrheit dort aufzudecken vermag, wo die amtlich Berufenen stets versagen. Meine ganze Zeit will ich dieser Aufgabe widmen, meine Tage und meine Nächte so viele Wochen wie es nur nötig sein wird. So werde ich den ganzen Taumel des Suchens und des Findens durchleben. Was bedeutet daneben der Rausch jedes anderen Erfolges, die Leidenschaft des Spielers, das Triumphgefühl des Erfinders? Alle menschlichen Erregungen werden mir in meiner Jagd geschenkt. – Alle? – Nein, doch nicht, denn eine fehlt: die Angst. Die Angst, die alle Kräfte vervielfacht, die jede Stunde verdoppelt, verdreifacht …

... So gibt es also ein Erlebnis, das stärker ist als Verfolgen? – Ja, das Bewußtsein gejagt zu werden! Was könnte das gehetzte Wild, dem die Hunde auf den Fersen sind, gegen dessen Stirne die tiefen Zweige schlagen, dessen Flanken die Sträucher blutig kratzen – was könnte es für eine Schilderung seiner Angst, seines Entsetzens geben! Und der Verbrecher, der sich entdeckt fühlt, der an jeder Straßenecke dem Verhängnis der Staatsgewalt zu begegnen glaubt, dem die Tage endlos scheinen, dessen Nächte fiebervolle Angstträume sind … was muß er fühlen, wenn es ihm gelingt, seine Verfolger auf eine falsche Spur zu locken, wenn er kurze Augenblicke, die er mit List, mit Behendigkeit erkämpft hat, Atem schöpft und die Meute kläffend an ihm vorüberjagt, die Spur verliert, ruhelos sucht und nicht ahnt, daß er aus sicherem Versteck ihre Mühen geruhsam beobachtet? … Ja, das erst ist der wahre Krieg, das Ringen Mann gegen Mann, der erbarmungslose Kampf mit allen seinen Gefahren und Listen …

»Jetzt bleibt mir zu entscheiden. Soll ich die neuen Sensationen, die mir vorschweben, in der Rolle des Jägers oder in der des Wildes, als Polizist oder als Verbrecher suchen? – Hundert andere haben sich schon vor mir als Amateurdetektive versucht, kein einziger aber nahm noch das Los des Täters auf sich. – Nun gut, ich will es wählen. Sicherlich wird mir, da ich ein ruhiges Gewissen habe, die wahre Angst vorenthalten bleiben, aber das Vergnügen am Kampf kann mir nicht entgehen. Ein Spieler, der keinen Einsatz wagt, werde ich immerhin in den Zügen meines Gegners den leidenschaftlichen Ausdruck aller Phasen unserer Partie zu beobachten vermögen. Ohne Risiko kann ich nichts verlieren, doch alles gewinnen. Und wenn es ein glücklicher Zufall fügen sollte, daß man mich verhaftet, dann würde man der Polizei endlich einmal zu Dank verpflichtet sein, denn ihr Eingreifen würde den sensationellsten Bericht, der jemals geschrieben wurde, veranlaßt haben! Alle die Tore, die meinen Kollegen bisher verschlossen blieben, würden sich mir öffnen. Ohne Furcht vor einem Dementi könnte ich die Zustände im Gefängnis geißeln. Ich würde die Wahrheit darüber enthüllen, wie die Untersuchungshäftlinge behandelt werden und mit welchen Mitteln man ihr Geständnis erpreßt. Kurz, meine Aufzeichnungen sollen die flammendste Anklage und der vernichtende Schlag gegen die beiden furchtbarsten Geißeln unserer Zeit – Polizei und Gericht – werden und niemand wird wagen dürfen, mich nicht ernst zu nehmen.

»Erinnerungen und Eindrücke eines Mörders« – so soll der Titel sein!

– Für das Leben eines Menschen reicht ein einziger Einfall aus – wenn ich nach diesem nicht berühmt werde, dann will ich nicht mehr Coche heißen! Onésime, mein Freund, von diesem Augenblicke an bist du für die ganze Welt: der Mörder vom Boulevard Lannes. – Der Prolog ist zu Ende, der erste Akt mag beginnen!«


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