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VII.

Nach Verlassen des Postamtes gewann Onésime Coche allmählich seine kühle Ueberlegung wieder zurück. Es war das erste Mal seit drei Tagen, daß er Wichtiges in Erfahrung gebracht hatte. Denn seit seinem Abschied von der Redaktion hatte er mit niemand gesprochen, nichts gehört, nichts gelesen – nichts anderes gekannt als die Angst eines gehetzten Menschen. Gerade jetzt, da es für ihn von größter Wichtigkeit gewesen wäre, über alle Geschehnisse unterrichtet zu sein, fand er sich aller Verbindungen beraubt und in völliger Ungewißheit. Eines lernte er daraus begreifen, daß für den wirklichen Verbrecher solcher Mangel an Nachrichten die wahre Ursache von Nervenzusammenbrüchen sein mußte, wie man sie oft verwundert beobachtete. Und noch ein anderer Umstand, den man nur zu begreifen vermochte, wenn man es selbst erlebte, blieb nicht ohne Einfluß auf seine Stimmung: Er hatte seit ebenso langer Zeit Kleider und Wäsche nicht gewechselt. Sein zweifelhafter Kragen störte ihn, seine Manchetten waren schmutzig, er fühlte sich in höchstem Maße unwohl, zu seinem moralischen Unbehagen gesellte sich auch noch das physische. Darum beschloß er, nach Hause zu gehen, um sich umzukleiden, und fand sich auch um Mitternacht vor seiner Türe ein.

Javel, der noch wachsam Posten stand, näherte sich vorsichtig, und ein triumphierendes Lächeln umspielte, als er ihn erkannt hatte, seine Lippen. So ging sein Wild also in die Falle! Er blieb weiter auf seinem Beobachterstand und ließ das Haustor nicht mehr aus den Augen. Polizisten, die die Runde machten, fiel dieser einsame Passant auf, und sie stellten ihn unwirsch zur Rede:

»Worauf warten Sie da?«

Javel erwiderte, fast ohne den Kopf zu wenden: »Kriminalpolizei,« und zeigte seine Karte.

Nach Verlauf einer halben Stunde war Coche noch immer nicht zurückgekehrt. »Sollte er die Unverfrorenheit haben, in seiner Wohnung zu schlafen?« dachte Javel. »Schließlich, wenn er nicht wirklich schuldig ist und wenn seine Abreise nur zufällig mit dem Verbrechen zusammentraf, wäre ja eigentlich nichts Ueberraschendes daran. Er ist ja damals mit dem Chef im Totenzimmer am Boulevard Lannes gewesen, und es wäre unter Umständen nicht völlig ausgeschlossen, daß er bei diesem Besuche die Papiere, die ich fand, verloren hat … Allerdings …«

Der Inspektor befand sich in einer solch gespannten Erregung, daß er die nächtliche Kälte gar nicht spürte. Die Straße war jetzt fast gänzlich verödet und er durfte unbesorgt auf- und abschreiten, denn, wenn der Journalist das Haus verließ, konnte er ihm nicht mehr entgehen. Gegen zwei Uhr morgens endlich wurde das Haustor vorsichtig geöffnet und Coche trat auf die Straße. Javel sah ihn einen Augenblick unbeweglich auf der Schwelle verharren und dann mit besonderer Behutsamkeit das Tor schließen. Coche zögerte auch jetzt noch, blickte nach links und rechts die Straße entlang und schritt endlich im Schatten der Häusermauern davon. Einige Sekunden nach ihm setzte sich der Inspektor in Bewegung. Coche wandte sich den Boulevards zu, schritt weiter über den Quai und überquerte schließlich auf einer Brücke die Seine.

»Der Teufel mag wissen, wo er mich hinführt,« brummte Javel vor sich hin, als Coche am anderen Ufer unentwegt weiter ging, »doch wo immer er hingehen mag, ich werde ihn nicht früher verlassen, ehe ich nicht sicher bin, daß er irgendwo zum Schlafen eingekehrt ist.«

Coche ging auch noch den Boulevard Saint Michel entlang, und erst in der Nähe des Luxembourg blieb er zum ersten Mal stehen und blickte um sich, als wolle er sich orientieren.

»Was soll das wieder bedeuten?« knurrte der Inspektor. »Er ist doch sicher nicht zum ersten Mal in diesem Viertel und tut ganz so, als ob er nicht wüßte, wo er hin will.« Und halblaut fügte er hinzu: »Vorwärts, mein Alter, höchste Zeit, in die Klappe zu kriechen!«

Gerade in diesem Augenblicke sah Coche nach seiner Richtung. Ihre Blicke kreuzten einander. Javel zuckte nicht, doch Coche überlief ein Zittern, und mit schnelleren Schritten ging er in der Richtung des Observatoriums davon. Der Boulevard war ausgestorben und der Polizeiinspektor konnte auf dem weißen, trockenen Fußsteig den Schatten des Journalisten vor sich herhuschen sehen. Dieser schier endlose Marsch nach einem unbekannten Ziele begann seine Nervenkraft zu erschöpfen. Müdigkeit und Kälte nahmen ihm alle Freude. Es gab Augenblicke, in denen er gewaltsam an sich halten mußte, um Coche nicht mit wenigen Sprüngen einzuholen und ihn am Kragen zu packen. Doch dies durfte er nicht wagen. So blieb nichts übrig, als mit geballten Fäusten und seine Wut verbeißend, hinter Coche weiterzutrotten. Einmal mußte der ja doch in ein Haus eintreten, dann allerdings begann für den Inspektor erst rechtes Leiden, denn dann hieß es, in dieser kalten Nacht mit leerem Magen und frierenden Füßen bis zum Morgen ausharren! Plötzlich hörte er eine leise Stimme hinter sich.

»Grüß' dich, Javel!«

Er wandte sich um und erkannte einen Kollegen. Mit einem Schlage war sein Mißmut verflogen und nur freudige Zuversicht erfüllte ihn wieder. Er legte warnend einen Finger an die Lippen, nahm seinen Kollegen unter den Arm und sprach sehr leise:

»Pst! Vorsicht!«

»Du bist hinter jemand her?«

»Ja, hinter dem, der dort zwanzig Meter vor uns geht …«

»Ernste Sache?«

»Hast du eine Ahnung! – Ich glaub' schon, daß ich gut vorgearbeitet habe … Jetzt aber kann ich dir noch nichts Näheres sagen. Doch hör' zu. Wenn du nicht allzu müde bist, möchte ich dir einen Vorschlag machen. Uebernimm jetzt du meinen Mann, es soll nicht dein Schaden sein … Vielleicht ist es eine ganz erstklassige Sache …«

»Und man darf nicht wissen …«

»Noch nicht. Aber vielleicht schon in wenigen Stunden, schon bei Tagesanbruch … Ich kann kaum mehr weiter, überdies fürchte ich, daß der Kunde mich gesehen hat und auf seiner Hut sein wird. Dir gegenüber würde er sein Mißtrauen verlieren. Einverstanden?«

»Na schön,« entgegnete der Andere, »wenn dir ein Gefallen damit geschieht – Auf Revanche! Du willst, daß ich warte, bis er schlafen geht?«

»Ja, zunächst. Und dann, daß du die Tür des betreffenden Hauses nicht aus den Augen läßt. Morgen früh um zehn Uhr laß mir Nachricht zukommen, wo er die Nacht verbracht hat und wo ich dich ablösen kann. Ich werde vor dem Hause 16, Rue de Douai zu finden sein. – Doch, um Gotteswillen, laß ihn ja nicht auskommen. Wir werden vielleicht niemals eine größere Sache als diese durchzuführen haben … Und du sollst deinen Teil am Erfolge haben, wenn es einer wird. Das garantiere ich dir …«

»Das alles ist ja sehr nett, aber ich möchte trotzdem wissen …«

»Nun schön,« flüsterte Javel, der fühlte, wie sein Freund zögerte und dem es klar wurde, daß er mit offenen Karten spielen mußte, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, alles zu verlieren. »Paß auf: der Mann da vorne ist vermutlich der Mörder vom Boulevard Lannes.«

Javel selbst war zwar noch keineswegs davon überzeugt, daß Coche der Schuldige sei, doch über eines war er sich klar, daß bei jedem Zögern seinerseits der Andere sich weigern würde, ihn zu unterstützen. Die Aussicht, an einer solchen Sache mitzuwirken, erstickte natürlich bei dem zweiten Kriminalbeamten alle Bedenken, und er sprach nur noch ganz ehrfürchtig:

»Du bist dessen sicher?«

»Unbedingt,« erwiderte Javel mit Bestimmtheit. – »Du siehst, es ist der Mühe wert.«

»Du kannst auf mich rechnen, er soll mir nicht aus den Augen kommen.

»Also zehn Uhr Rue de Douai.«

»Wie besprochen …«

Javel machte Kehrt und ging nach dem Stadtinnern zurück. Er war vollkommen beruhigt. Coche würde ihm nicht mehr auskommen und, wenn er sich doch geirrt haben sollte, so würde niemand außer dem Kameraden, der jetzt, ebenso wie er selbst, jedes Interesse daran hatte, sich nicht auslachen zu lassen, davon erfahren. –

Seit dem Luxembourg hatte Coche sich nicht mehr umgewandt. Er ging aufs Geratewohl durch die Straßen, und mehr sein Instinkt verriet ihm die nahe Gefahr, als der mit dem Polizisten gewechselte Blick. Manchmal ging er langsamer weiter und trat leiser auf, um deutlicher das Geräusch der ihn verfolgenden Schritte zu vernehmen. Einen Augenblick schon – es war, als die beiden Polizisten einander begegneten – glaubte er sich gerettet. – Wäre in diesen Sekunden eine Seitenstraße in der Nähe gewesen, er hätte nicht gezögert, mit Anspannung aller Kräfte davonzurennen, doch es gab keinen anderen Ausweg als geradeaus weiterzugehen, und bald schon hörte er stärker und deutlicher wieder die Schritte hinter sich und begriff, daß jetzt zwei Männer die Verfolgung aufgenommen hatten. Auf diesem nächtlichen Wege lernte er eine Angst kennen, die noch viel stärker war als jene, die er in der Nacht des Verbrechens am verödeten Boulevard verspürt hatte. Das gleiche Grauen vor dem Unbekannten setzte sich in ihm fest, die gleiche qualvolle Stille erfüllte seine Ohren, und je mehr er seine Schritte beschleunigte, desto weniger meinte er vorwärtszukommen. Er fühlte Blicke an seinem Nacken brennen, er erriet flüsternde Stimmen hinter sich, seine nervöse Erregung erreichte einen solchen Grad, daß er in der Tasche den Schaft seines Revolvers umklammerte und fast entschlossen war, eine plötzliche Wendung zu tun und zu [schießen]. Ein einziger Gedanke war es, der ihn davon abhielt, ein wahrhaft ungewöhnlicher Gedanke, der Gedanke eines überhitzten Hirnes: die Furcht, wenn er sich umkehren würde, niemanden in der Straße zu sehen und sich klar werden zu müssen, daß er an Halluzinationen leide.

Wahnsinn war ihm immer als etwas Entsetzensvolles erschienen, und schon der bloße Gedanke, daß er möglicherweise den Beweis erhalten könnte, an seinem Verstande gelitten zu haben, peinigte ihn. Diesen Beweis zumindest wollte er sich nicht liefern, wenn er auch schon fühlte, daß er nicht mehr Herr seiner selbst sei, da die furchtbarste Angst sein Denken beherrschte, seinen Willen lähmte und jedes eigene Urteil trübte. Auch müde fühlte er sich schon. Plötzlich, unerwartet hatte ihn jene Mattigkeit überfallen, die Arme und Beine fühllos macht, gegen die jeder Kampf vergeblich wäre, die die Füße wie mit Blei beschwert und alles, alles vergessen läßt – Sorgen, Gefahren und Reue. Er taumelte fast beim Weiterschreiten, so heftig war ein Bedürfnis nach Schlaf in ihm erwacht. Mit zusammengebissenen Zähnen, im Gefühl der Angst, das ihm die Kehle einschnürte, sprach er immer wieder halblaut vor sich hin:

»Vorwärts … du mußt weiter … vorwärts …«

Ganz am Ende der Avenue Orléans entdeckte er die runde Laterne eines Hotels. Er läutete und wartete, halb bewußtlos gegen die Mauer gelehnt, bis die Türe geöffnet wurde. In seinem Zimmer warf er sich vollkommen angekleidet, ohne nur daran zu denken, den Riegel vorzuschieben oder das Schloß zu versperren, auf das Bett und versank augenblicklich in den tiefen, traumlosen Schlaf der Erschöpfung.

Zwei Minuten nach ihm läutete der Polizist, der nicht im mindesten gesonnen war, die Nacht unter freiem Himmel zu verbringen, an der Türe des Hotels und sprach mit der größten Natürlichkeit zu dem Portier, der ihm öffnete:

»Geben Sie mir das Zimmer neben meinem Freund, der eben hereinkam. Wenn er wach wird, verständigen Sie mich, aber sagen Sie ihm nichts davon, daß ich hier bin, ich will ihn überraschen.«

Auf Zehenspitzen schlich er die Treppe hinauf, und kaum fand er sich allein in seinem Zimmer, das er sorgsam verriegelte, stürzte er zur Wand, die ihn von Coche trennte, und legte horchend das Ohr daran. Deutlich hörte er die ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge des Schlafenden, und zufrieden legte auch er sich zu Bett.

In dieser Nacht träumte Coche, daß er in einem Gefängnis wäre und daß ein Wächter seinen Schlaf beobachte. Dieser Traum kam der Wirklichkeit seltsam nahe. Hatte er doch seit einigen Stunden aufgehört ein freier Mann zu sein und glich nur noch einem umstellten Wild. –

Schon um acht Uhr morgens stand Javel wieder in der Rue de Douai vor dem Hause Nummer 16. Er hätte wohl ganz einfach in die Wohnung von Coche hinaufgehen können, um mit der Bedienerin zu sprechen, doch zog er es vor, nicht nochmals der Hausbesorgerin zu begegnen und wartete darum, bis sie ausgehen würde. Er wußte ganz gut, daß es in Paris nicht vorkommt, daß eine Hausbesorgerin länger als eine Stunde in ihrer Loge bleibt, besonders des Morgens nicht, wo es so viele Neuigkeiten zu erfahren gibt, und er war sicher, bald unbemerkt das Haus betreten zu können. Und wirklich mußte er nicht lange warten, um die Hausmeisterin davongehen zu sehen. Er eilte ins Haus. In welchem Stockwerke die Wohnung von Coche lag, wußte er zwar nicht, doch diese Kleinigkeit störte ihn wenig. Er läutete einfach bei der ersten Türe, an der er vorbeikam und erfuhr sofort, daß er in den vierten Stock gehen müsse.

Oben öffnete ihm ein altes Weib.

»Der Herr ist zu Hause?«

Javel stellte die Frage mit dem gleichgültigen Tone eines Mannes, der bloß der Form genügen will, aber gar nicht daran zweifelt, daß Coche zu dieser frühen Stunde anzutreffen sein müsse.

»Nein, mein Herr …«

Javel lächelte.

»Ach, sagen Sie nur, daß ich es bin … Er wird mich bestimmt empfangen … Wenn Sie ihm bloß meinen Namen sagen, melden Sie Herrn …«

»Aber nein. Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß Herr Coche nicht da ist.«

»Ach so … Ich meinte, daß er bloß … Das ist aber recht ärgerlich … Und Sie wissen nicht, wann er nach Hause kommt?«

Die Frau hob ratlos die Arme.

»Ich weiß jetzt gar nicht mehr, woran ich bin. Seit vier Tagen ist er schon fort. Er kann jeden Augenblick heimkommen und ebensogut kann er gar nicht mehr zurückkommen.«

»Das begreife ich nicht,« murmelte Javel. »Ich hätte so dringend mit ihm zu sprechen …«

»Ja, was kann man machen,« seufzte die Frau, »treten Sie halt ein … warten Sie eine Weile … vielleicht kommt er doch.«

»Gut, ich werde auf ihn warten.«

Der Inspektor trat in das Wohnzimmer, nahm Platz und überlegte, wie er ein Gespräch beginnen solle. Doch er wurde aller Mühe, seine Einbildungskraft anzustrengen, enthoben, denn die Bedienerin wartete gar nicht erst eine weitere Frage von ihm ab und schien froh, ihrem Kummer Luft machen zu können.

»Ja, ja, ganze vier Tage ist er schon nicht mehr zu Hause gewesen. Und das ist um so erstaunlicher, da er niemals früher verreiste, ohne es vorher anzukündigen. Briefe liegen für ihn da, Telegramme sind gekommen, Leute waren hier, die ihn sprechen wollten und denen ich keine Auskunft geben konnte …«

»Vielleicht ist er zu seinen Angehörigen gereist?«

»Oh, gewiß nicht. Seinen Koffer hat er ja hier gelassen. – Und überdies ging er unter ganz wunderlichen Umständen fort …«

»Sie sahen ihn fortgehen?«

»Nein. Als ich des Morgens hierher kam, fand ich sein Bett benützt und seine Kleider über einen Stuhl gelegt … Für gewöhnlich geht er kaum vor elf Uhr aus dem Hause, weshalb ich nicht wenig erstaunt war. Ich habe alles rein gemacht und eingeräumt, und wie ich mittags nach Hause ging, wollte mir die Sache – ich weiß nicht, warum – nicht aus dem Kopfe, und was glauben Sie wohl, was für einen Gedanken ich nicht loszuwerden vermochte? … Sie müssen wissen, einmal war es schon vorgekommen, daß er zu so früher Stunde fortging, es war damals, als er sein Duell hatte – Und da meinte ich halt, auch diesmal müsse es wieder so etwas gewesen sein …«

»Ach, glauben Sie? – Davon hätte ich doch wissen müssen …«

»Jetzt rede ich auch so wie Sie. Aber damals waren es halt die besonderen Umstände … Er, der doch immer so nett und gepflegt dahergeht, – Sie als sein Freund müssen es ja wissen …«

»Ja, ja,« beeilte sich Javel einzuflechten,« er hält auf seine Kleidung …«

»Nun, sehen Sie – und sein steifes Hemd fand ich blutig und …«

»Was?« entfuhr es dem Polizisten, der kaum seinen Ohren traute.

»... die eine Manschette war ganz zerdrückt und zerrissen und einer der Manschettenknöpfe fehlte. Denken Sie bloß, einer von den schönen Knöpfen, auf die er so viel hielt …«

»Von diesen goldenen Knöpfen mit den Türkisen?«

»Ich weiß nicht, wie man diese Steine nennt«

»Also,« frug Javel, dessen Stimme vor Erregung zitterte, »sind es solche kleine, blaue Steine?«

»Ja, ganz richtig. – Nun, sehen Sie, das Knopfloch war ausgerissen, der Knopf fehlte, da hätten sicherlich auch Sie gemeint, daß es irgendeinen Streit gegeben haben müsse, obzwar er doch ein so gutmütiger Mensch ist und …«

Javel bemühte sich, die alte Frau zu unterbrechen. Alles, was sie jetzt noch hätte sagen können, war ja im Vergleich zu den beiden fürchterlichen Tatsachen – Blut auf dem Hemd und Verlust eines Manschettenknopfes, der ganz gleich jenem war, der am Tatorte gefunden wurde – gegenstandslos! Doch ihm selbst kam die Sache so überraschend, es schien ihm, als ob der Zufall die Dinge mit allzugroßer Gefälligkeit für ihn vorbereite, daß er sich selbst durch eigenen Augenschein auf der Stelle überzeugen wollte. So zeigte er ein überlegenes Lächeln, täuschte Ungläubigkeit vor und sprach:

»Ach, was – sind Sie auch sicher?«

»Wie, ob ich sicher bin? Nachdem Sie die Knöpfe kennen, werden Sie sich gleich selbst überzeugen. Ich habe das Hemd absichtlich so, wie es war, aufgehoben, um es ihm zu zeigen, damit er nicht glaubt, daß ich die Knöpfe verloren habe, falls er sich nicht mehr daran erinnern sollte. Sie können es sich ansehen.« Und sie ging nebenan ins Schlafzimmer, doch kaum war sie eingetreten, hörte Javel sie laut schreien: »Aber nein – so etwas! Da hört sich alles auf! – Er muß seit gestern hier gewesen sein und seine Wäsche gewechselt haben! – Der Kasten ist ganz durchwühlt, alles liegt drunter und drüber … Und hier, sehen Sie, liegt sein Flanellhemd im Korb, das gestern noch nicht da war …«

»Teufel,« dachte Javel, »sollte er gar heut Nacht hergekommen sein, um das blutige Hemd und den Manschettenknopf verschwinden zu lassen? Die Alte würde zwar immer noch den anderen identifizieren können, aber das wäre weniger beweiskräftig und vor allem weniger effektvoll …«

Er trat ins Schlafzimmer ein und murmelte vor sich hin:

»Was sagen Sie da? Er soll hier gewesen sein, um frische Wäsche zu nehmen?«

»Und ich bin auch sicher, daß es so gewesen ist … Da liegt sein Flanellhemd, das er nur morgens anzuziehen pflegt, und gestern war im Wäschekorb nichts anderes als das gestärkte Abendhemd mit den Blutflecken, … Da ist es … Hier sehen Sie die zerrissene Manschette … Und der eine Manschettenknopf mit dem Stückchen gebrochener Kette, der noch darin steckte, der liegt hier auf dem Kamin, ich habe ihn da aufgehoben … Sie sehen, daß ich nicht lüge.«

Hätte man den herrlichsten Edelstein in die Hände des Polizisten gelegt, er würde ihn mit keiner größeren Liebe und Freude bewundert haben, als diesen wertlosen Türkis, den er jetzt andächtig betrachtete.

So war es ihm also in weniger als vierundzwanzig Stunden, geleitet von einem kleinen Fetzen Papier, das zusammenhanglose Buchstaben enthielt, geglückt, dieses scheinbar undurchdringliche Geheimnis aufzuklären. So lange die Beweise gegen Coche nur in seiner Auslegung des Briefumschlages bestanden, hatte er nicht gewagt, einen Verdacht auszusprechen. Doch jetzt war ein Zweifel nicht mehr möglich. Alles fand ja eine nur allzu deutliche Erklärung. Die roten Flecken auf der Hemdbrust, die zerrissene Manschette, der gebrochene Knopf – hatte nicht alles im Zimmer am Boulevard Lannes auf verzweifelte Gegenwehr des Greises, auf ein wütendes Handgemenge hingewiesen?

Eines nur blieb ein Rätsel: die Haltung, die Coche seit der Entdeckung des Mordes gezeigt hatte, seine lächelnde Kaltblütigkeit, sein unbegreiflicher Wunsch, in Begleitung des Polizeikommissärs die Leiche des Opfers – seines Opfers! – wiederzusehen. Und wie sollte man es schließlich erklären, daß ein ruhiger, behaglich lebender, geachteter Mann mit einemmal zum Dieb, zum Verbrecher, zum Mörder wurde? … Sollte plötzlicher Wahnsinn … doch das war ja nicht mehr seine Sache. Ihm genügte das Bewußtsein, sich nicht gescheut zu haben, eine Spur, die von anderen als wertlos angesehen wurde, aufgenommen zu haben, und diese Spur hatte ihn mit so erstaunlicher, nie erträumter Schnelligkeit zum Ziele geführt. In einer Stunde würde er diese Mordaffäre abschließen können, Coche würde verhaftet sein. Außer – Coche war seinem Kollegen entschlüpft … Bei dem bloßen Gedanken an eine solche Möglichkeit fühlte er rasende Wut in sich aufsteigen, und um sich selbst zu beruhigen, sprach er vor sich hin:

»Das darf nicht sein, das kann nicht sein!«

Jetzt, da er alles wußte, was es zu erfahren gab, war er viel zu ungeduldig, um noch eine Minute länger mit der Alten das Gespräch fortzusetzen. Er blickte auf seine Uhr und sprach:

»Ich kann nicht mehr länger warten. Ich muß jetzt gehen, aber ich werde wiederkommen …«

Und während er diese Worte: »Ich werde wiederkommen« aussprach, umspielte gegen seinen Willen ein triumphierendes Lächeln seine Lippen, so reizvoll schien es ihm, diese so unschuldig klingenden und trotzdem so inhaltsschweren und drohenden Worte zu formen. Im Vorhaus begegnete er der Hausbesorgerin, doch nahm er sich nicht die Zeit, stehenzubleiben. Als er die Straße betrat, war es gerade halb zehn. Ein Mann ging vor dem Hause auf und ab und trat, sobald er ihn erblickte, auf ihn zu.

»Javel?« Flüsternd stellte er die Frage.

»Der bin ich,« gab der Inspektor zurück und fügte hinzu: »Wo ist er?«

»Im Hotel Ecke Avenue Orléans und Boulevard Brune – mit dem Kollegen.«

»Ausgezeichnet. Spring in einen Fiaker, fahr' zum Hotel zurück und haltet ihn noch eine Stunde lang dort auf. Wenn nötig, auch mit Gewalt. Ich übernehme jede Verantwortung. Fürchtet nichts. Es ist alles in bester Ordnung.«

Der Mann zog ab und auch Javel bestieg einen Wagen, gab die Adresse des Polizeikommissariats an und rieb sich triumphierend die Hände. Kein Gedanke an eine Belobung oder ein Avancement erhöhte für den Augenblick seine Freude. Einzig und allein das ungewohnte Gefühl des Erfolges erfüllte ihn mit einem solchen Stolz, daß er es für kein Vermögen hätte hingeben mögen.

Im Kommissariat begegnete ihm einer der anderen Kriminalbeamten auf den Treppen und flüsterte ihm zu:

»Eil' dich hinaufzukommen, der Chef erwartet dich. Er ist wütend, ich glaube, du wirst was anzuhören haben.«

Javel zuckte die Achseln und erwiderte gleichmütig, ohne seinen Schritt zu beschleunigen:

»Ach Gott, es wird nicht so schlimm sein …«

Er wußte, daß er sich auf eine Strafpredigt gefaßt machen konnte, weil er den Dienst, ohne sich abzumelden und ohne weitere Befehle einzuholen, verlassen hatte. Aber die Ereignisse hatten sich so überstürzt, daß er solchen Kleinigkeiten nicht die mindeste Aufmerksamkeit hatte schenken können. Ja, es mißfiel ihm nicht einmal, unwirsch empfangen zu werden, denn auf diese Art mußte die Wirkung seiner Nachrichten um so größer sein. Darum ließ er auch, als er vor seinem Vorgesetzten stand, das Unwetter, ohne es durch die mindeste Entschuldigung abzuschwächen, über sich ergehen.

Der Polizeikommissär war hauptsächlich deshalb in so gereizter Stimmung, weil der Untersuchungsrichter eben die Akten der Mordaffäre von ihm verlangt hatte und er sich in der peinlichen Verlegenheit sah, nur ein lächerlich dürftiges Ergebnis der polizeilichen Untersuchung vorlegen zu können. Es war ihm geradezu eine Wohltat, seine schlechte Laune an Javel auslassen zu können.

Hatte man es schon jemals erlebt, daß ein Kriminalinspektor seine Pflichten derart vernachlässigte? Wer hatte Javel ermächtigt, nicht mehr ins Amt zurückzukommen? Er hatte ihm einen Befehl erteilt und Javel hatte sich unterfangen, einfach durchs Telefon Meldung zu erstatten und sich nicht mehr blicken zu lassen. Und wenn man ihn noch gebraucht hätte? – Der Kommissär hatte ihn gebraucht. Die anderen Beamten waren auswärts beschäftigt, er hatte auf ihn gerechnet und bis acht Uhr abends gewartet. Wenn er zu dieser Zeit einen Mann zur Hand gehabt hätte, dann würde er jetzt wahrscheinlich schon die richtige Spur gefunden haben. – Was hatte Javel zu erwidern, welche Erklärungen, welche Entschuldigungen vermochte er vorzubringen, um ein derart unqualifizierbares Benehmen zu verteidigen?

»Herr Polizeikommissär,« begann Javel endlich, indem er seine Worte bedächtig wählte, »Sie werden wohl vermuten, daß es ernste Beweggründe gewesen sein müssen, die mich abhielten, meinen Dienst mit jenem Pflichteifer zu versehen, den Sie von uns fordern. Die Gründe waren ernst. Gehen Sie mit mir und ich will Ihnen in der nächsten halben Stunde den Mörder vom Boulevard Lannes gegenüberstellen, und Sie werden nichts weiter zu tun haben, als ihn zu verhaften. Sie sehen, Herr Kommissär, daß ich diese Nacht nicht nutzlos verbracht habe und, was Ihre Spur anbetrifft, so kann ich Ihnen die Versicherung geben, daß sie, wenn es nicht dieselbe war, die ich verfolgte, wertlos gewesen ist.«

Der Kommissär starrte mit aufgerissenem Munde auf seinen Untergebenen. Die Mitteilung Javels erschien ihm derart unfaßbar, daß der Gedanke in ihm auftauchte, ob der Inspektor sich nicht über ihn lustig machen wolle und mehr, um sicher zu sein, ob er richtig gehört habe, als aus mangelndem Vertrauen zu seiner eigenen Auffassungsgabe, befahl er:

»Wiederholen Sie das, was Sie eben gesagt haben!«

»Ich wiederhole, daß ich den Mörder vom Boulevard Lannes gefaßt habe und daß Sie ihn in einer Stunde ebenfalls haben werden.«

»Ja … aber … wie ging denn das zu?«

»Erlauben Sie, Herr Kommissär, so sicher, wie ich meiner Sache bin, so sicher weiß ich auch, daß keine Zeit zu verlieren ist. Lassen Sie uns aufbrechen. Unterwegs will ich Ihnen alle Einzelheiten geben, die Sie zu wünschen wissen. Jetzt, für den Augenblick, begnüge ich mich, Ihnen den einen Umstand, der nicht der entscheidendste und nicht der überraschendste ist, zu verraten: Der Mann, der den Alten vom Boulevard Lannes ermordet hat, der Mann, den ich die ganze Nacht verfolgt habe, und den ein Kollege jetzt in einem Hotel der Avenue Orléans bewacht, dieser Mann, den Sie verhaften werden, ist Onésime Coche …«

»Sind Sie wahnsinnig?« brüllte der Kommissär.

»Ich glaube nicht … Und wenn ich Ihnen sage, daß jener Manschettenknopf, den wir bei der Leiche gefunden haben, seinen Zwillingsbruder in einer Wohnung der Rue de Douai Nummer 16 besitzt, dann werden Sie wie ich zugeben, daß es nicht unwichtig sein dürfte, Herrn Onésime Coche zu fragen, was er in der Nacht vom 13. getan hat.«


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