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IX.

Man gefällt sich darin, die Untersuchungsrichter mit hageren Wangen, zusammengekniffenen Lippen und einem funkelnden Drohen in den Augen zu schildern. Wenn man noch genauer sein will, spricht man auch von der faszinierenden Gewalt ihres Blickes, den sie mit gewissen Raubvögeln gemeinsam haben sollen. Unbestritten blieb stets die Behauptung, daß der Untersuchungsrichter der erste und gefürchtetste Feind des Angeklagten sei. Obgleich das Gesetz alle Anstrengungen macht, um die Häftlinge gegen seine Laune, sein Vorurteil und seine Willkür zu schützen, bleibt er – so wird behauptet – doch alleiniger Gebieter über ihre Ehre, ihre Freiheit, ihr Leben. Zynisch und hinterlistig streift er stets hart an die Paragraphen, ohne sie jemals zu verletzen.

Alles dies war Onésime Coche wohl bekannt, und sein Wunsch, mit eigenen Augen diese Mißstände zu prüfen, war nicht zum wenigsten die Ursache, daß er sich in dieses ganze Abenteuer eingelassen hatte.

Nun fand er sich erstaunt einem Untersuchungsrichter gegenüber, der allen Traditionen zu widersprechen schien. Er war ein kleiner, kugelrunder Mann mit einem fettglänzenden Gesichte, in dem die schmalen Aeuglein hinter den Brillen gutmütig zu lächeln schienen. Er wies dem Journalisten vor seinem Tische einen Platz an, den er gut im Auge zu behalten vermochte, und begann eifrig in seinen Akten zu blättern, während er immer wieder verstohlene Blicke auf Coche warf. Diese heimtückische Beobachtung gab den erschütterten Nerven des Reporters bald vollends den Rest, und seine Fingerspitzen begannen erregt auf dem Hute, den er in der Hand hielt, zu trommeln.

Ein Mensch vermag seine Gedanken zu verbergen, seine Augen können lügen, er kann sich so sehr in der Gewalt haben, daß trotz aller innerer Erregung kein Muskel seines Gesichtes zuckt, ja, selbst das Erröten oder Erblassen verstehen manche zu unterdrücken – niemals aber vermögen Hände zu lügen.

Die Hände führen ein selbständiges Leben an unserem Körper. Unser Wille hat keine Gewalt über sie. Unsere klugen, ungebildeten, brutalen oder zärtlichen Hände sind die Verräter, die wir stets mit uns tragen, und der erfahrene Untersuchungsrichter wandte bald keinen Blick mehr von den Händen des Journalisten. Als er sie zittern sah, wußte er, daß der Augenblick, zum ersten Schlage auszuholen, bald gekommen sei. Als er sah, wie sie sich verkrampften, hob er den Kopf und begann mit den unvermeidlichen Fragen nach Namen, Alter und Beruf das Verhör. Nachdem diese Formalität erfüllt war, versenkte sich der Richter wieder in das Studium seiner Akten, während Coche, mehr und mehr aus der Fassung gebracht, den Hut zweimal aus den zuckenden Fingern fallen ließ. Jetzt glaubte der Richter den günstigsten Augenblick gekommen, und ohne jeden Uebergang ließ er sich vernehmen:

»Wollen Sie mir erklären, warum Sie so unvermittelt den Entschluß faßten, Ihre Wohnung zu verlassen und wieso es dazu kam, daß man Sie vor drei Tagen in einem ganz primitiven Hotel der Avenue Orléans wiederfand?«

Auf jede andere Frage wäre Coche eher vorbereitet gewesen, und so war seine Stimme lange nicht so sicher, wie er gewünscht hätte, als er jetzt erwiderte:

»Ich würde, bevor ich Ihnen über diesen Punkt die gewünschten Aufklärungen gebe, es vorziehen, zu erfahren, aus welchem Grunde ich überhaupt hier bin.«

»Sie sind hier, weil Sie Herrn Forget, Boulevard Lannes, ermordet haben.«

Coche atmete befreit auf. Bis zu diesem Augenblick hatte er, obzwar es recht unwahrscheinlich schien, seine Zweifel nicht loswerden können, ob er nicht doch eines anderen Verbrechens geziehen werde. Er gab jetzt mit einem Erstaunen, das er allzulange vorbereitet hatte, um es glaubwürdig zu spielen, zurück:

»Ach, da muß ich sagen, das ist ein starkes Stück …« und nach kurzer Ueberlegung fügte er hinzu:

»Um so mehr, da Sie, wenn ich Ihre Worte richtig verstehe, nicht sagen wollten, daß man mich dieses Verbrechens anklagt, sondern, daß ich dieses Mordes überführt sei.«

»Wirklich, es ist ein Vergnügen, mit Ihnen zu plaudern,« flocht der Richter ein. »Sie haben eine ausgezeichnete Auffassungsgabe.«

»Sie schmeicheln mir außerordentlich, aber selbst, um Ihre Liebenswürdigkeit in gleicher Weise zu vergelten, würde ich mich außerstande sehen, ein Verbrechen einzugestehen, das ich nicht begangen habe.«

»Ich will meine erste Frage neuerlich stellen, Sie werden mir darauf antworten, und wenn Sie mich von Ihrer Unschuld zu überzeugen vermögen, so setze ich Sie augenblicklich in Freiheit.«

»Oho,« dachte Coche, »du willst dir die Sache gar zu leicht machen. Dieser Vorschlag, mein guter Freund, soll in meinen Artikeln einen besonderen Ehrenplatz erhalten,« und, jedes seiner Worte sorgfältig wägend, erwiderte er laut:

»Verzeihen Sie, Herr Richter, aber ich würde es vorziehen, die Rollen nicht zu vertauschen. Nicht ich habe Ihnen zu beweisen, daß ich unschuldig bin, sondern Sie haben die Gründe anzuführen, die Sie berechtigen, von meiner Schuld zu sprechen. Dies möchte ich feststellen und vorausschicken. Im übrigen aber bin ich bereit, in gebührender Weise alle Fragen, die Sie mir zu stellen beabsichtigen, ausführlichst zu beantworten, soweit sie nicht geeignet scheinen, dritten Personen Schaden zuzufügen …«

»Das ist ein ganz gutes System der Verteidigung, das Sie sich da zurechtgelegt haben, Sie wollen mit einem Worte zu verstehen geben, daß Sie über gewisse Dinge, zweifellos die wichtigsten Dinge, eine Aussage verweigern?«

»Nein, ich will durchaus nichts zu verstehen geben. Ich habe bloß in meiner Antwort darauf hingewiesen, daß ich mir zwei prinzipielle Einschränkungen vorbehalte: Eine davon belieben Sie recht willkürlich auszulegen. Ich will nun die andere deutlicher formulieren, um weitere Mißverständnisse zu verhüten. Ich erkläre mich bereit, alle Fragen in vorgeschriebener Weise zu beantworten und verstehe darunter zum Beispiel auch die Anwesenheit meines Advokaten.«

»Das ist ja selbstverständlich und ich wollte eben auch davon sprechen. Bitte, wählen Sie sich einen Verteidiger und wir vertagen die Fortsetzung des Verhöres auf ein anderes Mal …«

»Aber nein, im Gegenteil, ich lege Wert darauf, daß mein Verhör nicht aufgeschoben werde. Wenn der Wärter, der mich herbrachte, oder Ihr Schreiber vielleicht ins Verteidigerzimmer gehen wollte und den erstbesten Anwalt, der dort zu treffen ist, hierher bittet, so genügt mir das vollkommen. Wäre ich schuldig, dann würde ich trachten, eine der großen Leuchten des Barreaus für meinen Fall zu gewinnen, da ich mir indessen nichts vorzuwerfen habe, so genügt mir jeder Verteidiger, den Sie mir bringen lassen, weil ich ganz einfach ein guter Staatsbürger bin, der die Gesetze achtet, und weil das Gesetz eben diese Formalität vorschreibt.«

Nach wenigen Augenblicken schon kam der Aufseher in Begleitung eines jungen Advokaten zurück.

»Ich danke Ihnen, Herr Doktor,« begrüßte ihn Coche, »daß Sie so liebenswürdig sind, mir zur Seite stehen zu wollen. Im übrigen wird die Sache außerordentlich schnell gehen. – Und jetzt, Herr Richter, stehe ich Ihnen vollkommen zur Verfügung.«

»Ich wiederhole also meine erste Frage: Warum haben Sie so unvermittelt Ihre Wohnung verlassen und wieso kam es, daß man Sie vor drei Tagen in einem ganz primitiven Hotel in der Avenue Orléans wiederfand?«

»Ich habe meine Wohnung verlassen, weil ich Lust verspürte, einige Zeit in anderer Umgebung zu leben, und ich schlief in der Avenue Orléans, weil der Zufall mich zu einer Stunde vor jenes Hotel führte, die schon zu vorgerückt war, um in die Stadt zurückzukehren.«

»Von wo kamen Sie?«

»Mein Gott, das weiß ich wirklich nicht mehr.«

»Dann will ich es Ihnen sagen. Sie kamen von Ihrer Wohnung Rue de Douai 16 …«

»Was?« stammelte Coche verblüfft.

»Aber ja, Sie waren zu Hause gewesen, um Ihre Wäsche zu wechseln und um in der Manschette eines gewissen Frackhemdes einen Knopf zu suchen, der in einem gegebenen Augenblicke für Sie hätte kompromittierend werden können. Diesen Knopf haben Sie nicht gefunden, obgleich er nicht sehr weit war und jetzt hier ist … Sie erkennen ihn doch wieder?«

»Ja,« murmelte Coche, der über die Schnelligkeit und Genauigkeit, mit der man ihn überführt hatte, wahrhaft erschrocken war.

»Möchten Sie mir jetzt sagen, wo Ihnen der zweite Knopf dieser Manschette abhanden kam?«

»Ich weiß nicht …«

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht – wenn das Ihre ganze Verteidigung ist …! Vorhin sagten Sie doch, daß es nicht an Ihnen sei, Ihre Unschuld zu beweisen, sondern an mir, die Behauptung Ihrer Schuld zu begründen. Aber alles muß doch seine Grenzen haben. Indes will ich auch diesmal noch für Sie antworten: den anderen Knopf haben Sie in jenem Zimmer verloren, in dem Forget ermordet wurde … Und man hat ihn dort gefunden …«

»Das ist keineswegs erstaunlich, ich bin ja mit dem Polizeikommissär in jenem Zimmer gewesen. Der Knopf hat sich vermutlich losgelöst und ist eben zu Boden gefallen …«

»Das wäre möglich gewesen. – Da Sie indes bei diesem Besuche ein Flanellhemd trugen, dessen Knöpfe jedenfalls angenäht sind, wird diese Erklärung hinfällig. Außerdem aber ist es meist Sitte, beide Manschettenknöpfe zu gleicher Zeit ins Hemd zu stecken, und ich wiederhole Ihnen, daß der eine dieser Knöpfe in Ihrem Frackhemd geblieben war, aus dem Ihre Bedienerin ihn herausnahm.«

»Ich will diesen Umstand nicht weiter erklären.«

»Ich noch weniger, das heißt, ich glaube, ihn schon allzu deutlich erklärt zu haben.«

»Aber Herr Richter, wollen Sie sagen, daß Sie mich auf diesen lächerlichen Umstand hin schuldig erklären? Aber das ist ja kaum möglich …«

»Lächerlicher Umstand? Teufel nochmal, Sie nehmen die Sache leicht. Ich nenne das eine Belastung, und zwar eine ganz ungewöhnlich schwere Belastung. – Doch es ist nicht die einzige. Was halten Sie zum Beispiel von einem Briefe, den Sie am Tatorte vergessen hätten? Wäre auch dies ein lächerlicher Umstand?«

»Ich kann am Tatorte unmöglich einen Brief vergessen haben, aus dem einfachen Grunde, weil ich mich – ich wiederhole dies – in Begleitung des Polizeikommissärs dort befand und kaum länger als drei Minuten dort blieb und weil ich …«

»Kommen Sie her, Herr Doktor, sehen Sie sich diese Papierschnitzel an. Zufällig hingestreut, scheinen sie nichts zu bedeuten, doch, wenn man sie richtig der Reihe nach legt, und wenn ich die fehlenden Buchstaben ergänze, so lautet es: ›Herrn Onésime – Rue de Douai, 22, Paris‹. Sie werden zugeben, daß Ihr Vorname nicht so verbreitet ist, daß es ganz unberechtigt erscheinen würde, Ihren Zunamen beizufügen, der – ich leugne dies nicht – hier fehlt. Dann aber lautet der Text: ›Herrn Onésime Coche, Rue de Douai 22‹ …«

»Oh nein! Nein und abermals nein. Ich protestiere in entschiedenster Weise gegen ein derartiges Verfahren. Zuerst ergänzen Sie einige zufällige Buchstaben willkürlich zu einem Vornamen und dann setzen Sie ganz einfach meinen Zunamen dahinter. Und selbst, wenn ich mich gegen diese wohl recht kühne Arbeit nicht auflehnen würde, so bleibt ja schließlich noch das Ende Ihrer Auslegungskünste, durch das alles zerstört wird, was Sie am Anfang mühselig aufbauten. Hier steht: ,... 22, Rue de‹. Was für eine Straße zunächst? Und überdies wohne ich ja gar nicht auf Nummer 22. Da man Sie über alles andere so gut unterrichtet hat, wundert es mich, daß Sie dies nicht wissen. Ich verlange, daß mein Protest ins Protokoll aufgenommen werde.«

»Ihr Protest wird im Protokoll stehen, da seien Sie nur ganz beruhigt. Doch wir werden ihm noch einige kleine Bemerkungen zu diesem Punkte folgen lassen. – Wenden wir diese Papierstückchen mit den zufälligen Buchstaben einmal um – haha, da schauen Sie! – Und jetzt lesen Sie, diesmal voll ausgeschrieben, ohne einen fehlenden Buchstaben. ›unbekannt auf 22, vermutlich auf Nummer 16‹ – Sie wohnen Rue de Douai Nummer 16; dieser Brief, der irrtümlich nach Rue de Douai 22 gesandt war, ist Ihnen in Ihre Wohnung nachgeschickt worden, und dieser Fall war nicht der erste, daß derartige Irrtümer auf Ihren Adressen vorkamen. Sie sehen also, daß es kein allzu phantastischer Schluß ist, wenn ich behaupte, daß dieser Brief an Sie gerichtet war. Wenn Sie jetzt noch etwas zu erwidern haben, so bitte ich darum.«

Coche ließ den Kopf sinken. Als er den Briefumschlag zerriß, hatte er nicht daran gedacht, daß sich auf der Rückseite noch ein Vermerk befand. Es wurde ihm klar, daß die Ansicht des Richters schon jetzt feststand. Er begnügte sich daher mit einer ausweichenden Antwort.

»Ich weiß darüber weiter nichts und gebe auch keine anderen Erklärungen ab. Was ich zu versichern vermag, was ich beschwören kann, ist, daß ich unschuldig bin, daß ich das Opfer niemals kannte und daß schließlich mein ganzes vergangenes Leben jede derartige Anklage widerlegt.«

»Ich behaupte nicht das Gegenteil. Doch für heute mag es genug sein. Man wird Ihnen Ihre Aussagen verlesen, und wenn kein Einwand besteht, ist das Protokoll zu unterfertigen.«

Coche hörte nur zerstreut der eintönigen Vorlesung durch den Schreiber zu, unterfertigte an der Stelle, die dieser ihm bezeichnete, streckte dem Aufseher, der die Handschellen bereit hielt, gedankenlos die Arme hin und verließ die Kanzlei des Untersuchungsrichters.

Auf dem Gange sprach sein Anwalt zu ihm:

»Ich werde Sie morgen früh aufsuchen, wir müssen die Sache eingehend besprechen.«

»Ich danke Ihnen.« gab Coche zurück.

Und er ließ sich durch die engen Gänge zum Ausgange des Justizpalastes führen. In seiner Zelle wieder allein geblieben, dachte er angestrengt und lange nach. Wie weit entfernt war er doch, wenn es darauf ankam, von dem wagemutigen, geistesgegenwärtigen, erfindungsreichen Reporter, als den er sich gewünscht hätte! Er begann sich in dem Spiel, in das er sich eingelassen hatte, nicht recht wohl zu fühlen. Nicht etwa deshalb, weil er die geringste Besorgnis über den Ausgang gehabt hätte, wußte er doch, daß ein einziges Wort aus seinem Munde jederzeit genügen würde, alle Anschuldigungen zu vernichten. Doch trotz alledem fühlte er, wie der drohende Kreis sich enger um ihn schloß, und jetzt, da einer seiner Finger schon vom Räderwerk der Maschine, die sich Justiz nennt, erfaßt war, begriff er, daß jedenfalls eine gewaltige Anstrengung notwendig sein würde, wenn er seinen Arm retten wollte. Er hatte sich eingebildet, daß er durch sein Eingreifen bloß die Polizei verwirren und zu Ungeschicklichkeiten, zu groben Fehlern verleiten werde, die öffentlich zu brandmarken ihm ein Vergnügen gemacht hätte. Jetzt aber, nach seinem ersten Verhör, begann er einzusehen, daß er so schwere Indizien gegen sich geschaffen hatte, daß auch der unbefangenste Beurteiler nicht zögern konnte, in ihm den Schuldigen zu sehen.

Auch die Ueberzeugung des Richters, die offensichtlich gegen ihn sprach, war nur allzu verständlich. Was hatte er auch schließlich zu erwidern vermocht? Nichts! Er hatte seine Unschuld beteuert? Der aufrichtige Klang seiner Stimme, der Tonfall der Wahrheit? – Damit hat es doch kaum andere Bewandtnis, als mit der ›Stimme des Blutes‹. – Die Angst vor dem Unbekannten vermehrte seine Besorgnis. Was würde der Richter bei der nächsten Einvernahme wohl für neue Beschuldigungen vorzubringen haben? Hatte er doch schon heute kaum zu antworten gewußt, obwohl zumindest zwei der Fragen doch vorauszusehen gewesen waren, wie würde er sich erst einer Beschuldigung gegenüber verhalten, auf die er nicht gefaßt sein konnte? – Leugnen wollte er, alles leugnen, allen Beweisen, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, das sollte Richtschnur seiner Handlung sein. Den Gedanken, schon jetzt dem Richter gegenüber vorsichtig auf den wahren Sachverhalt anzuspielen, verwarf er. Wußte er doch, daß die ganze Anklage gegen ihn ins Stocken geraten müßte, sobald die Frage nach den Beweggründen seines angeblichen Verbrechens zu klären sein werde. Der Verlauf der Untersuchung mußte ja ergeben, daß er nicht einmal von der Existenz dieses Forget jemals das Geringste gewußt hatte und niemals in irgendeiner Verbindung mit ihm gewesen war. Wäre es denkbar, daß man einen Mann mit untadeliger Vergangenheit auf bloße Indizien hin in Haft behält, wenn man nicht imstande ist, den Beweis zu erbringen, daß er mit seinem Opfer ein einziges Mal vor dem Verbrechen zusammentraf? – Dann würde der richtige Augenblick gekommen sein, die Behörden durch Enthüllung des wahren Sachverhaltes aus der Sackgasse, in die sie durch Erhebung der Anklage gegen ihn geraten waren, herauszuführen, und dem Hohngelächter von ganz Frankreich preiszugeben.

Am nächsten Tage kam sein Verteidiger. Zunächst begann der junge Anwalt, ihn in sehr vorsichtiger Weise über sein Leben, seine Gewohnheiten, seinen Freundeskreis auszufragen, wagte indes offensichtlich nicht, über das Verbrechen selbst zu sprechen. Nachdem eine Viertelstunde solch erzwungener Unterhaltung verstrichen war, unterbrach Coche, schon recht ungeduldig geworden, das zwecklose Gespräch:

»Lassen Sie das doch, Herr Doktor, und sagen Sie mir die Wahrheit: Sie halten mich für schuldig?«

Der Advokat hob abwehrend beide Hände.

»Sprechen Sie nicht weiter, ich bitte Sie darum. Ich nehme Ihre Unschuldsbeteuerungen als aufrichtig, als wahr, verstehen Sie wohl, als wahr an. Wie schwer Sie auch belastet erscheinen mögen, ich will in all den Anschuldigungen nichts anderes als eine furchtbare Laune des Zufalls sehen. Die Methode, die Sie zur Verteidigung gewählt haben, ist die, alles zu leugnen und Ihre Unschuld zu behaupten – daher sind Sie auch unschuldig und ich werde mich dafür einsetzen!«

»Aber, ich schwöre Ihnen, Herr Doktor, ich schwöre Ihnen bei allem, was mir teuer ist, daß ich unschuldig bin!«

In diesem Augenblick war Coche nahe daran, sein ganzes Erlebnis zu erzählen. Welcher Anwalt aber hätte es gewagt, ihn nach einem solchen Geständnisse noch zu verteidigen? Wenn er seinen Plan bis zum erhofften Triumphe durchführen wollte, dies sah er ein, blieb ihm nichts anderes übrig, als ohne Rücksicht auf die bestehenden Tatsachen, alles zu leugnen. Doch trotzdem wollte er, daß wenigstens sein Verteidiger auch innerlich an seine Wahrhaftigkeit glaube. Erregt und beschwörend klang seine Stimme, als er fortfuhr:

»Ich bin wirklich, tatsächlich unschuldig! Vollkommen unschuldig! Später, vielleicht schon bald, werden Sie den Beweis dafür haben …«

»Aber ich glaube Ihnen ja …«

Und Coche begriff, erkannte es an der ganzen Haltung seines Anwaltes und an dessen Blick, der seine Worte Lügen strafte, daß auch er von seiner Schuld überzeugt sei. Sie sprachen noch eine Weile über die verschiedensten Dinge – das Verbrechen wurde mit keinem Worte mehr berührt. –

Am nächsten Tage holte man Coche aus seinem Gefängnis und ließ ihn wieder den Zellenwagen besteigen. Er dachte, daß man ihn nochmals zum Verhör bringen werde, doch die Fahrt schien ihm diesmal länger als das erste Mal zu dauern. Endlich hielt der Wagen an. Man öffnete seine Türe und stieß ihn rasch in ein Haustor – indessen trotzdem nicht rasch genug, daß er nicht Zeit gehabt hätte, die trüben Fluten der Seine zu erkennen und sich darüber klar zu werden, daß er vor der Totenkammer sei.

»Das ist der Gipfel,« sagte er sich, »Konfrontation des Mörders mit dem Opfer!«

Der Gedanke, der Leiche vom Boulevard Lannes gegenübergestellt zu werden, diese Prozedur über sich ergehen zu lassen, deren bloße Ankündigung jeden Verbrecher mit Schauder erfüllt und nicht selten zum Geständnisse treibt, bewegte ihn nicht im mindesten. Was bedeuteten ihm die erloschenen Augen jenes armen Toten? Ohne Scheu würde er diesen Körper ansehen, dem er schon zweimal gegenübergestanden hatte: das erste Mal in der Nacht, da noch der letzte Wiederschein des Lebens über ihn gebreitet schien, das zweite Mal wenige Stunden später, als er schon steif und kalt gewesen. – Dann aber, als er im großen Saale stand, die weißen Wände sah und die hohen Fenster, durch die das bleiche Licht auf die Marmortische fiel, fühlte er doch ein leises Unbehagen. Ein dumpfer Geruch von Karbolsäure und Thymol, der an Krankenhaus und Friedhof gemahnte, erfüllte die feuchte Luft. Und Coche bildete sich ein, auch jenen anderen peinlichen und schalen Geruch zu verspüren, der schon nach kurzer Zeit an Leichen bemerkbar ist. Trotzdem blickte er aufmerksam umher und bemühte sich, alle Einzelheiten in seinem Gedächtnisse festzuhalten, um sie späterhin gewissenhaft schildern zu können.

Man führte ihn endlich in ein kleineres Nebengemach, in dem, mit einem Leintuche bedeckt, ein menschlicher Körper auf einem Tische lag. Man schlug das Tuch auf und, obgleich er nicht unvorbereitet war, zuckte er doch unwillkürlich, von Grauen gepackt, zurück. Diese Leiche, die da vor ihm lag, erkannte er nicht, wenigstens im ersten Augenblicke vermochte er sie nicht wiederzuerkennen. Der Tod hatte sein Werk vollendet, das Antlitz, das Coche einst rund und voll gesehen, war jetzt eingefallen und runzelig, graue und grüne Schatten liefen von den Wangen zum Kinn. Diese Züge schienen kaum noch menschliche zu sein, sie waren wie die aus Wachs geformte Maske einer grauenhaften Karrikatur des Todes.

Während Coche noch auf diese so gräßlich veränderte Leiche starrte, hörte er die Worte des Untersuchungsrichters neben sich:

»Das ist Ihr Opfer!«

»Ich verwahre mich ganz entschieden und immer wieder gegen eine derartige Beschuldigung. Diesen Mann kenne ich nicht und ich habe ihn niemals gekannt.«

Die Konfrontation dauerte nicht lange. Der Richter sah ein, daß Coche sein hartnäckiges Leugnen nicht aufgeben wolle und daß er sich, wenn seine Kräfte ihn in diesem Augenblicke nicht verlassen hatten, kaum noch verraten würde.

Er hoffte, ihn mit der Zeit zu zermürben. Auch diese Mühe erwies sich als zwecklos. Auf alle Fragen erwiderte der Beschuldigte sein unveränderliches: »Ich weiß nicht«, und wenn man Schuldbeweise auf Schuldbeweise gehäuft hatte und ihn aufforderte, dazu Stellung zu nehmen und die Anklage zu entkräften, dann hob Coche seine Arme und begnügte sich zu murmeln:

»Ich begreife das nicht … ich kann es nicht erklären.« –

Die lange, schwierige Untersuchung förderte keinerlei neue Aufschlüsse zutage. Es war unmöglich, die geheimnisvolle Mauer zu durchbrechen, hinter der sich das Leben des ermordeten Forget abgespielt hatte. Niemand kannte ihn, niemand fand sich, der über seine Gewohnheiten hätte Mitteilungen machen können. Es ergaben sich keinerlei Tatsachen, die gegen Coche gezeugt hätten, doch eben darum war es nicht schwer, die Anklage gegen ihn zu begründen. Denn eben aus dem Umstande, daß niemand über den Verkehr des Opfers Auskunft zu geben vermochte, folgerte man, daß Coche sehr leicht in Beziehungen zu ihm hatte stehen können, ohne daß irgend jemand darum zu wissen brauchte. Das Motiv allerdings, das Coche zu seinem Verbrechen getrieben haben konnte, schien nicht geklärt. Genaue Nachforschungen über sein Vorleben und seine Einkünfte ergaben nichts außer der Tatsache, daß er wenig ausging, pünktlich seine Miete bezahlte und daß man ihm kein kostspieliges Verhältnis vorzuwerfen hatte. Auch ein Verzeichnis der auf dem Boulevard Lannes geraubten Gegenstände vermochte man nicht aufzustellen, und der Zufall, auf den man zur Aufklärung dieser Frage immer gehofft hatte, wollte sich nicht einstellen. So war nach Verlauf von drei Monaten, trotz allen Eifers der Polizei, trotz aller Hartnäckigkeit des Untersuchungsrichters und trotz der unausgesetzten Bemühungen aller Pariser Zeitungen, die Untersuchung nicht um einen Schritt weiter als am Tage der Verhaftung des Journalisten. Der Briefumschlag mit seinen rekonstruierten Schriftzügen und der am Tatorte gefundene Manschettenknopf waren auch jetzt noch die beiden einzigen tatsächlichen Belastungsmomente, die allerdings mit außergewöhnlichem Ernst und besonderer Schwere gegen Coche zeugten. Neben diesen Verdachtsgründen, die der Beklagte in keinem der Verhöre zu entkräften vermocht hatte, gewannen die anderen Umstände – seine unbegründete Flucht aus der Wohnung, sein unvermitteltes Ausscheiden aus der Redaktion des »Tageblatt«, seine Irrfahrt durch Paris, sein Uebernachten unter falschem Namen in drei verschiedenen Hotels, was man unschwer erhoben hatte – erhöhte Bedeutung. Wenn man zu alledem noch sein recht sonderbares Verhalten bei der Verhaftung, seinen Versuch, sich den Polizisten mit bewaffneter Hand zu widersetzen, die verstohlene, nächtliche Rückkehr in seine Wohnung in Betracht zog, so war das gesamte Material unleugbar ausreichend, um alle Zweifel, ja fast eine Ueberzeugung seiner Schuld zu erklären. Der Akt enthielt allerdings keinerlei moralische Begründungen oder Beweise, doch schienen die gesammelten tatsächlichen Beweise dem Untersuchungsrichter zu genügen. So wurde die Untersuchung als abgeschlossen erklärt, der Akt an die Staatsanwaltschaft abgetreten und die Verhandlung über den Mord am Boulevard Lannes fand man für die Aprilsession des Geschworenengerichtes ausgeschrieben.


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