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V.

Als Coche erwachte, war es heller Tag, soweit ein Wintertag, der stets noch ein wenig von den Schatten der Nacht mit sich zu ziehen scheint, hell zu sein vermag. Er kleidete sich in Eile an, da er es nicht erwarten konnte, die Morgenblätter zu lesen. Als er das Hotel verlassen wollte, trat der Portier aus seiner Loge.

»Es ist bloß wegen der Formalität … Das Register für die Polizei muß ausgefüllt werden …«

Als Coche nur das Wort »Polizei« hörte, begann er schon zu beben.

»Was denn für ein Register für die Polizei?«

»Wir sind verpflichtet ein Buch zu führen, in dem Name, Beruf und Tag der Ankunft der Reisenden vermerkt werden. Selbstverständlich ist diese Vorschrift im allgemeinen unnötig, insbesondere in einem so ruhigen Hause wie unseres es ist. Doch kann man jemals wissen? Bei all den Verbrechen … Erst jetzt wieder dieser Mord vom Boulevard Lannes …«

Coche fühlte sich erbleichen. Erregt blickte er den Mann vor sich an und seine Lippen öffneten sich schon, um zu fragen, um sich zu verwahren. Doch der Portier hatte sich von ihm abgewendet, um ein großes, dickes Buch aufzuschlagen und sein lächelndes Gesicht, das er Coche wieder zukehrte, beruhigte diesen sogleich.

»Hier, wenn ich bitten darf.« Coche blickte auf die Zeile, die man ihm wies und auf der er das Datum schon ausgefüllt fand. »Sie müssen nur Ihren Namen, Ihren Beruf und den Ort, von wo Sie kommen, einschreiben.«

Und während Coche nach kurzer Ueberlegung zu schreiben begann, fuhr der Portier geschwätzig fort:

»Hier, am linken Seineufer handelt es sich nicht so sehr um Verbrecher, nach denen die Präfektur fahndet. Bei uns werden meist nur politisch Verdächtige, russische Flüchtlinge, Nihilisten aufgegriffen. Die überlaufen uns. Und es ist gar nicht angenehm, Leute zu beherbergen, die ihre Taschen voll Bomben haben und jeden Augenblick Gefahr zu laufen, daß das ganze Haus in die Luft gesprengt wird.«

»Das will ich meinen.« erwiderte Coche, während er den Federhalter niederlegte. Und bei sich dachte er:

»Wenn mir dieser zudringliche Dummkopf nicht innerhalb achtundvierzig Stunden dazu verhilft aufgespürt zu sein, dann müßte geradezu ein Wunder geschehen …«

Er wandte sich zum Fortgehen, doch noch einmal hielt der Mann ihn auf.

»Wenn Sie abends nach Hause kommen, brauchen Sie nur dreimal zu läuten. Ihren Schlüssel finden Sie hier auf der Tafel.«

»Danke,« entgegnete Coche.

Ohne zu wissen warum, blieb er einige Augenblicke auf der Türschwelle stehen und blickte nach rechts und links die Straße entlang mit jenem sonderbaren Zögern von Leuten, die zwar nichts zu tun haben, sich aber doch den Anschein geben, als erwarteten sie etwas.

Der Portier las indes die noch feuchte Eintragung: Farcy, Rentier aus Versailles –

Er sandte einen prüfenden Blick nach der Gestalt des Gastes, die noch vor der Türe sichtbar war und murmelte:

»Na, mein Lieber, du scheinst mir ebenso wenig Rentier zu sein wie ich selbst. Ich kenne mich in Gesichtern ein wenig aus …«

Doch da Coche, dessen Nerven nach all den Ereignissen der letzten Zeit, recht empfindsam waren, den Blick fühlte und sich umwandte, zeigte ihm der Portier nur sein zuvorkommendstes Lächeln und beendete seine Betrachtung, indem er weiter brummte:

»... Uebrigens ist mir das vollkommen gleichgültig, wenn er nur zahlt.«

Und da fiel ihm plötzlich ein, daß dieser Reisende ja ohne ein einziges Gepäckstück angekommen sei und er keinerlei Sicherheit dafür habe, daß er auch zurückkehren würde. Er lief zur Türe und rief Coche, der schon einige Schritte davongegangen war, nach:

»Herr Farcy! … Herr Farcy …«

Da Herr Farcy sein Rufen nicht im geringsten beachtete, lief er ihm nach und schrie noch lauter:

»Herr Farcy, noch ein Wort!«

Coche hatte den Ruf wohl gehört, doch durchaus nicht daran gedacht ihn auf sich zu beziehen. Dieser Name, den er beim Schreiben ganz zufällig erfunden hatte, war ihm so vollkommen fremd, daß er erst nach geraumer Zeit auf den Gedanken kam, die Rufe könnten ihm gelten und sich schließlich erinnerte, daß dies ›sein‹ Name sei. Da er seit Erwähnung des Verbrechens vom Boulevard Lannes ein wahres Unbehagen verspürte, wandte er sich nur recht ungehalten um:

»Was wollen Sie denn noch?«

»Ich vergaß Ihnen zu sagen, daß es bei uns Sitte ist, die Miete im voraus zu bezahlen. In der Regel wird für mindestens eine Woche im vorhinein bezahlt.«

»Das ist vollkommen in Ordnung,« erwiderte Coche und bezahlte den geforderten Preis, trotzdem er fest entschlossen war, keine zweite Nacht in diesem Hause zu verbringen. Man würde gewiß nicht verfehlen, aus diesem Umstande neuerlich, wenn nicht sein Schuldbewußtsein, doch wenigstens seinen Wunsch, nicht erkannt zu werden, zu folgern.

Ein seltsamer Widerspruch war es, daß er in diesem Augenblicke stärker noch als am Abend zuvor, ein Gefühl des Unbehagens empfand. Seit einigen Stunden erst war er aus seinem gewohnten Leben geschlüpft und schon fühlte er sich von Unvorhergesehenem bedrängt und bedrückt, schon spürte er das Räderwerk jener furchtbaren Maschinerie Justiz noch zögernd, doch bald rücksichtslos nach ihm greifen.

Gewaltsam raffte er sich auf. Er überlegte, daß er seit jener unvergeßlichen Nacht nichts mehr getan habe und daß die Zeit vergehe. Er mußte handeln und nicht, nachdem er sich freiwillig auf diesen Weg begeben, alles dem Zufall überlassen. Die Irrtümer der polizeilichen Untersuchung kannte er wohl, doch durfte er ihrer nicht so sicher sein, daß er der weiteren Entwicklung bloß ruhig zusah. Sein Austritt vom Tageblatt und sein Verschwinden vermochten wohl den Ausgangspunkt zu leisen Zweifeln zu bieten, doch jetzt handelte es sich darum, daß er selbst den Schein von Schuld zu einem Verdacht stärkte.

Er las, während er ging, einige Zeitungen. Alle waren schon voll von oberflächlichen, selbst falschen Einzelheiten des Verbrechens. Manche kündigten bereits an, daß die Polizei eine ernste Spur verfolge. Coche lächelte darüber. Beim Tageblatt hatte ein gewisser Bejut, der tags vorher noch das Ressort der überfahrenen Hunde gehabt hatte, seine Nachfolge übernommen. Nach dem ganzen Stil seines Berichts konnte kein Zweifel darüber bestehen, daß er den Polizeikommissär nochmals gesprochen habe.

Coche faltete endlich die Zeitungen zusammen und ließ sie in die Tasche seines Rockes gleiten.

»So genügten also,« überlegte er, »ein paar hastige, nicht allzu methodische Handgriffe, um das ganze Bild zu fälschen! Die Polizei, die dafür gezahlt wird, Spürsinn zu beweisen, versagt schon bei der ersten Irreführung durch einen Dilettanten wie ich es bin! Die schwerwiegendsten Umstände werden beiseite geschoben – das Verschwinden von Silberzeug, die Lage der Leiche, die keinen Zweifel darüber lassen durfte, daß mindestens zwei Verbrecher am Werke gewesen waren – und ein ganzer Roman wird in die Luft gebaut. Ja, selbst unter allen meinen Kollegen findet sich kein einziger fähiger Kopf, der die Widersprüche in den Folgerungen der Polizei zu erkennen vermöchte! Wirklich, mein Spiel ist leicht!«

Und dann tauchte die Frage vor ihm auf, was wohl die wahren Schuldigen jetzt taten? Vermutlich hatten sie schon einen Hehler gefunden, bei dem sie ihren Raub zu Gelde gemacht hatten und zogen jetzt von Schenke zu Schenke …

Dieser Gedanke führte ihn zu einer neuen Betrachtung:

»Beim Wein werden die Vorsichtigsten geschwätzig. Alle Strolche haben ihren Verbrecherstolz, der sie dazu treibt, bedenkenlos mit ihren Missetaten zu prahlen. Wenn ich noch lange zögere, die Aufmerksamkeit der Polizei gründlich auf mich zu lenken, kann es sein, daß auch mein Kleeblatt diese unvermeidliche Dummheit begehen wird. Ich darf nicht mehr allzuviel Zeit verlieren!«

Er nahm in Eile ein bescheidenes Mahl und fand sich um ein Uhr wieder auf der Straße. Bis vier Uhr nachmittags allerdings war nicht viel zu beginnen. Alle Zeitungen bis auf die Abendblätter, sind um diese Stunden verödet. Avyot kam erst um fünf Uhr in die Redaktion, bis dahin mußte er Geduld haben.

Er betrat ein Kaffeehaus, bestellte eine Flasche Bier, die er nicht zu trinken vermochte, wanderte wieder ziellos durch die Straßen und wartete auf den Einbruch der Nacht. Endlich flammten die Lichter in den Auslagen auf, die Straßenlampen wurden angezündet, Dämmerung senkte sich nieder, dann Dunkelheit und schließlich nahte die Stunde …

Coche befand sich im Viertel der Militärakademie. Hier zumindest war er sicher, keinem Bekannten zu begegnen. Er lauschte den fünf Schlägen der Turmuhren. Von jetzt ab sollte jede seiner Handlungen nur auf das Ziel, das zu erreichen er sich vorgenommen, auf seine eigene Verhaftung berechnet sein. Sich selbst, etwa anonym, anzuzeigen, daran dachte er keinen Augenblick. Er wollte ja die Minderwertigkeit der Polizei beweisen, ihren Mangel an Verständnis und Voraussicht. Seine Verhaftung mußte daher von selbst kommen. Der Triumph für ihn müßte es sein, die wahren Zusammenhänge des Verbrechens aufzudecken und zuzusehen, wie man seine Angaben vernachlässigte.

Er trat in ein Postamt und verlangte telephonische Verbindung mit der Redaktion des Tageblatt. Ebenso wie er es bei dem ersten Gespräche gemacht hatte, veränderte er auch diesmal seine Stimme und begehrte in dringender Angelegenheit den Redakteur zu sprechen. Als Avyot sich meldete, ließ er ihm nicht Zeit ihn auszufragen und begann sogleich:

»Ich bin Ihr Berichterstatter von vergangener Nacht. Ich habe Ihnen das Verbrechen vom Boulevard Lannes gemeldet. Wie Sie sich überzeugt haben, war ich gut unterrichtet und jetzt will ich Ihnen einige neue Einzelheiten bekanntgeben.«

»Ich danke bestens, aber ich möchte doch wissen, mit wem …«

»Mit wem Sie sprechen? Das ist vollkommen überflüssig. Meine Nachrichten sind wertvoll, ich gebe sie Ihnen umsonst, was könnten Sie mehr wünschen? Von mir selbst werden Sie bis auf weiteres nichts erfahren. Wenn Ihnen dies nicht paßt, kann ich mich ja ebensogut an eine andere Zeitung wenden …«

»Nein, tun Sie das nicht, ich höre Ihnen zu.«

»Bitte, achten Sie gut auf das, was ich Ihnen sage. Die Polizei verfolgt einen durchaus falschen Weg. Nichts von alledem, was seit zwei Tagen veröffentlicht wurde, entspricht der Wahrheit. Es ist ein Unsinn, dem Verbrechen irgendwelche geheimnisvollen Motive unterlegen zu wollen: es handelt sich um einen ganz alltäglichen Mord, dessen Ursache einzig und allein der Raub war. Alle Folgerungen des Polizeikommissärs beruhen auf reiner Einbildung. Leiten Sie selbst eine Untersuchung ein, wenn Sie der Wahrheit auf die Spur kommen wollen. Vor allem aber weisen Sie Ihren Reporter an, nicht alles das wiederzugeben, was man ihm erzählt.«

»Noch einmal, mein Herr, muß ich ersuchen …«

»Unterbrechen Sie mich nicht. Empfehlen Sie in Ihrem Blatte der Polizei, den Weg, den sie eingeschlagen hat, zu verlassen. Behaupten Sie ruhig und halten Sie es trotz aller scheinbaren Gegenbeweise aufrecht, daß das alleinige Motiv der Schuldigen …«

»Wie sagten Sie?«

»Der Schuldigen, Sie haben ganz richtig gehört, gemeiner Raub war. Werfen Sie in Ihrem Artikel die Frage auf, ob man mit Bestimmtheit zu behaupten vermag, daß im Garten keinerlei Fußspuren gefunden wurden. – Für heute habe ich Ihnen genug gesagt. Ich beabsichtige, weiter mit Ihnen in Verbindung zu bleiben und werde Ihnen, je nach dem Verlauf der Dinge, neue Einzelheiten bekanntgeben … Nur auf eines mache ich Sie noch aufmerksam: Sprechen Sie mit niemand von Ihrem geheimnisvollen Korrespondenten und damit empfehle ich mich …«

Coche hängte den Hörer auf und verließ das Amt.

Als der Polizeikommissär am nächsten Morgen den Artikel im Tageblatt las, lächelte er zunächst geringschätzig. Bei den letzten Zeilen aber runzelte er die Brauen und warf die Zeitung wütend von sich.

»So hat der Reporter also trotz seiner Zusage die Fußspuren erwähnt.« Allerdings war es zunächst nur eine schwache Anspielung, aber er fühlte recht wohl die Drohung mit weiteren Enthüllungen, die darin versteckt war. Das also war der Dank dafür, daß er diesen Coche fast wie einen Freund behandelt hatte. Daß er ihm, als einzigem Journalisten erlaubt hatte, das Haus zu betreten! Also war es noch nicht genug daran, daß das Tageblatt als erstes die Nachricht von dem Verbrechen gebracht hatte, ehe noch die Polizei selbst etwas davon wußte; jetzt mußte es auch noch denen die Waffen liefern, die immer bereit sind die Polizei zu verhöhnen!

Gewiß würde man diesem Artikel, der von Unwahrscheinlichkeiten strotzte, nicht allzugroße Aufmerksamkeit schenken. Zweifellos auch war er überzeugt, die richtige Spur zu verfolgen und der schließliche Erfolg würde sein Vorgehen genügend rechtfertigen; aber war es nicht wirklich sonderbar, daß gerade jene Zeitung, der zuliebe er fast eine Unkorrektheit begangen hatte, die erste war, die den Verlauf der Untersuchung bemängelte, die ihn anzugreifen wagte?

»Alle diese Journalisten,« sagte er sich, »leiden unbedingt an Größenwahn. Weil der Zufall ihnen eine sensationelle Nachricht zugespielt hat, meinen sie, daß ihnen alles erlaubt sei. Sie führen geradezu eine ganz selbständige Untersuchung! Wenn diese Geschichte mit den Fußspuren nicht wäre, könnte es mir allerdings nur recht sein. Soll der Schuldige nur meinen, daß wir nach einer ganz anderen Richtung fahnden. Er wird unvorsichtig werden, sich minder gut verstecken und schließlich sich selbst verraten … Immerhin, die Lehre will ich mir merken!«

Er betrat mit der Zeitung in der Hand das Zimmer seines Sekretärs.

»Sie haben das Tageblatt gelesen?«

»Jawohl, Herr Kommissär.«

»Und Ihre Meinung?«

»Es dürfte sich empfehlen, diesen Coche aufzusuchen. Mit ein oder zwei kleinen, besonderen Informationen, die wir den anderen nicht geben, wird er zufriedenzustellen sein …«

»Was denken Sie aber über seine Theorie, die der meinen geradezu entgegengesetzt ist?«

»Na, ich denke, daß sie so viel wert ist, wie die Theorie eines Journalisten eben wert sein kann. Die Meldungen, die wir seit achtundvierzig Stunden erhalten haben, ergeben allerdings, das ist richtig, keinerlei Tatsachen, die unsere Auffassung bestätigen würden. – Doch auch die seine wird durch nichts bewiesen.«

Der Polizeikommissär überlegte einen Augenblick schweigend und murmelte dann:

»Jeder Zweifel ist ja unmöglich! Meine Meinung muß richtig sein. Rufen Sie einmal beim Tageblatt an und ersuchen Sie, daß man mir diesen Coche sogleich, wenn er in der Redaktion erscheint, schicken möchte – Ich fahre nochmals auf den Boulevard Lannes, um einige Einzelheiten genauer festzustellen, damit die Sache für den Untersuchungsrichter reif wird,« –

Das Haus war seit dem letzten Besuche des Polizeikommissärs vollkommen unberührt geblieben, nur die Leiche hatte man, nachdem ihre Stellung in mehreren Aufnahmen festgehalten worden war, nach der Totenkammer gebracht.

Das Zimmer machte immer noch den gleichen düsteren Eindruck. Nichts vermag einem Raum ein trüberes, trostloseres Aussehen zu geben als ein offenstehendes, zerwühltes und kaltgewordenes Bett. Der schale Geruch nach Blut hatte sich verloren und man spürte jetzt nur noch jenen kalten Hauch von Farbe und Rauch, wie er verlassenen Wohnungen anhaftet. Die Farbe der im Kamin gehäuften Asche hatte einen dunkleren Ton angenommen, im Waschbecken war das rotgefärbte Wasser verändert und zeigte jetzt winzige, rote Kügelchen, während sich an der Oberfläche rings um den Rand ein grauer Streifen von Seife und Schmutz gebildet hatte. Die letzten Spuren von Leben, die bei dem ersten Besuche der Beamten zwischen den Mauern des Hauses noch zu zittern schienen, waren jetzt endgültig entschwunden …

»Wie kalt es hier ist,« sprach der Polizeikommissär vor sich hin …

Dann begann er langsam durch das Zimmer zu schreiten, – prüfte aufmerksam die Mauern und jedes einzelne Möbelstück und durchforschte jeden Winkel, der im Schatten lag. Er blieb einen Augenblick vor dem Waschtisch stehen, spielte eine Weile mit einem Lineal, das auf dem Tische lag und blickte nachdenklich auf die umgestürzte Stehuhr, deren Zeiger um zwölf Uhr fünfunddreißig zum Stillstand gekommen waren.

Nichts ist so erschreckend, so rätselhaft wie ein Uhrwerk. Aus Menschenhand hervorgegangen, um die Zeit zu messen, ist es zu unserem Tyrannen geworden, es regelt unser Leben, eilt mit immer gleichem Schritte der undurchdringlichen Zukunft entgegen, wie ein Spion, den das Schicksal neben uns gesetzt hat …

Welche Stunde mochte es sein, die der Stand dieser Uhrenzeiger verkündete? Die Mittagszeit mit ihrem fröhlichen, strahlenden Licht oder die schweigende, finstere Mitternacht? War es bloßer Zufall gewesen, der ihren Lauf beendete oder war es die Minute, die dem Verbrechen voranging, in der sie den Stoß erhielt, der ihren Gang unterbrach? Hatte sie, als schweigsamer Zeuge, den ermordeten Mann mit ihrem Ticken bis zum letzten Atemzuge begleitet?

»Man wird einen erfahrenen Uhrmacher holen müssen,« sprach der Kommissär nachdenklich vor sich hin, »er wird uns über die Ursache aufklären können, die den Stillstand des Werkes herbeiführte.«

»Verzeihen Sie, Herr Kommissär,« mit diesen Worten unterbrach ein Inspektor seine Betrachtung und trat mit einigen zusammengelesenen Papierstückchen auf ihn zu. Dies hier erscheint mir doch ganz eigenartig! Als wir das erste mal hier waren, hatten wir es nicht bemerkt …«

Der Kommissär nahm zwei weiße Papierstückchen aus der Hand seines Untergebenen und las:

Herrn

                      22, R

                                   Paris
                                      ési
                                         ne de

Er zuckte mit den Achseln:

»Das bedeutet gar nichts … Das hat keinerlei Interesse … Was wollen Sie mit einigen unvollständigen Silben anfangen? … Lassen Sie das doch …«

»Möglich, daß dies nicht viel heißen soll, aber wer weiß? – Wenn sich das Fehlende ergänzen ließe! … Wenn ich es genau betrachte, scheinen es die Reste eines Briefumschlages zu sein. – Und wenn man es nebeneinander hält, sieht es fast wie eine Adresse aus: Herrn – 22, Rue de – Paris – es bleibt das Bruchstück ési, das vielleicht zu dem Namen der Straße, möglicherweise aber auch zu dem Namen des Empfängers gehört. Eines ist jedenfalls sicher, daß der Adressat auf Nummer 22 einer Rue de … wohnt und das erleichtert schon die Nachforschungen.«

»Großartiger Fortschritt,« sprach der Kommissär lachend. Der Inspektor aber ließ sich nicht abschrecken. Er drehte jedes der Papiere nach allen Seiten, roch daran, hielt sie gegen das Licht und mit einemmale rief er aus:

»Ach, aber da sehen Sie her … Das ist ja ein wunderbarer Zufall … Lesen Sie doch! Bisher haben wir nur die eine Seite betrachtet, aber es gibt auch noch eine Rückseite, die Rückseite des Briefumschlages, und da steht mit Bleistift … hier auf dem einen

unbekannt auf 22

und auf dem anderen Abriß

vermutlich auf Nummer 16

und ganz am Rande ist noch der halbe Poststempel zu sehen, die Nummer des Postamtes ist ganz deutlich, darüber eine verwischte Zahl, die wohl das Datum bedeutete und unten wieder ganz klar die Jahreszahl: 08. Da wir im Januar sind, kann diese Adresse nicht vor allzulanger Zeit geschrieben worden sein. – Nein, ich lasse mich davon nicht mehr abbringen, mögen Sie denken, was Sie wollen, Herr Kommissär, ich bin davon überzeugt, daß es wichtig ist, den unbekannten Herrn, an den dieser Brief geschrieben war, zu finden …«

»Suchen Sie immerhin – ich gebe alles, was Sie mit diesen Papierfetzen zu entdecken vermögen, gerne für einige Auskünfte über das Leben und den Verkehr des Opfers … Sonst haben Sie nichts gefunden? … Dann wollen wir also wieder gehen.«

Und der Kommissär verließ mit seinem Detektivinspektoren das Haus. Auch jetzt standen wieder Reihen Neugieriger auf dem Boulevard und Polizisten mühten sich, einen Teil der Fahrbahn und den Fußsteig für den Verkehr freizuhalten. Ein Photograph war an der Arbeit, das Haus von allen Seiten aufzunehmen. Im Augenblicke, da der Polizeikommissär den Wagen besteigen wollte, rief er ihm lebhaft zu: »Eine Sekunde, Herr Kommissär … Schon geschehen, danke sehr …«

»Die Mühe von mir ein Bild zu machen, hätten Sie sich ersparen können. Glauben Sie denn, daß dies Ihren Lesern ein besonderes Vergnügen bereiten wird? … Für welches Blatt arbeiten Sie denn? ..«

»Für das Tageblatt, das als erstes …«

»Immer das Tageblatt«, rief der Kommissär wütend. »Also richten Sie zu Hause nur aus … Ach, nichts, gar nichts richten Sie aus …«


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