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VI.

Der Tag verlief für die Polizei ebenso eintönig wie für Coche. Diese Mordsache, der die öffentliche Neugier von Stunde zu Stunde größeres Interesse entgegenbrachte, wollte nicht recht vorwärts gehen. Außer dem Namen des Opfers wußte man rein nichts. Die Kaufleute des Viertels, die man befragt hatte, erinnerten sich dunkel an den kleinen Alten, der recht ruhig, verschlossen gewesen war, von dem man weder Freunde noch Verwandte kannte und der Briefträger gab an, schon seit Monaten nichts in diesem Hause zu tun gehabt zu haben. –

Onésime Coche rieb seine Nerven in untätigem Warten auf. Am liebsten hätte er den Lauf der Dinge gewaltsam angetrieben und doch wieder war eine andere Stimme in ihm, die jede Verzögerung begrüßte. Er begann sich erst jetzt darüber klar zu werden, welche erschreckenden Komplikationen er in sein Leben getragen hatte und fing an, den Nutzen, der ihm aus diesem Abenteuer erwachsen konnte, mit weniger Begeisterung zu beurteilen. Eines nur stand für den Augenblick fest, daß er wie ein Verbannter leben mußte, daß er sich nirgends zu zeigen wagte, außerstande war, sich zu unterrichten und wie ein wirklicher Verbrecher von dem Hang gequält wurde, den Schauplatz des Mordes nochmals aufzusuchen.

»Und vielleicht wäre das nicht einmal das Dümmste,« meinte er zu sich selbst, »gewiß hat man auf dem Boulevard Lannes eine Mausefalle eingerichtet, unter der Menge, die vor dem Hause vorbeistreift, gibt es sicherlich nicht weniger Geheimagenten als Neugierige. Mich kennen sie alle, und da das Tageblatt mit seinen geheimnisvollen Artikeln zweifellos der Polizei ein Dorn im Auge ist, würde man wahrscheinlich nicht zögern, mir nachzuspüren, wenn man mich erblickte. Damit würde alles rasch in Fluß kommen.«

Doch der bloße Gedanke, mit der Sicherheitsbehörde nun wirklich zu tun zu haben, erschreckte ihn nicht wenig.

Die vollkommene Einsamkeit, in der er seit zwei Tagen lebte, hatte ihm jene Energie, jenen Schwung geraubt, denen er den Ruf des unvergleichlichen Reporters verdankte. Er brauchte, um handeln zu können, die aufpeitschende Stimmung der Zeitungsbetriebe, die berauschende Wirkung von Worten, von Debatten, er mußte im Kampf stehen, in unaufhörlich zitternder Betriebsamkeit. Wenn man ihm alle diese langgewohnten Narkotika entzog, wurde er kraftlos, unentschlossen, ja feige.

Gegen fünf Uhr wollte er wieder seine Redaktion anrufen. Man sagte ihm, daß sämtliche Linien des »Tageblatt« besetzt seien. Er wartete einen Augenblick und verlangte dann neuerdings die Verbindung. Die Strecke schien vollkommen überlastet. Es war ein wirres Durcheinander von undeutlichen Gesprächsfetzen, die er vernahm, immer wieder übertönt von den näselnden Stimmen der Telephonistinnen, die neue Nummern, die verlangt wurden, wiederholten. Und plötzlich hob sich aus all dem Summen und Knattern deutlich eine Männerstimme ab, die frug:

»Spricht dort das Tageblatt?«

Coche neigte sich hastig über die Muschel und rief erregt:

»Ich muß doch bitten, mein Herr, ich habe viel früher als Sie die Verbindung verlangt …«

»Aeußerst bedauerlich für Sie, aber jetzt spreche ich, – Holloh, Tageblatt?«

»Das ist doch wirklich stark! Halloh, Fräulein?«

Am anderen Draht hörte er ein Lachen. Er kochte vor Wut.

»Halloh, Fräulein, es spricht jemand herein …

»Ja, ich höre es, aber es ist nicht meine Schuld. Treten Sie aus …«

»Ich denke gar nicht daran. Ich warte schon seit einer Viertelstunde, jetzt habe ich es wirklich satt. Verbinden Sie mich mit der Kontr...«

Er sprach das Wort nicht zu Ende, so sehr begann die Unterhaltung, in die er sich eingeschaltet fand, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Vorsichtig hängte er die andere Hörmuschel aus, um auch sie an das Ohr zu legen. Immer deutlicher verstand er Fragen und Antworten. Niemals noch schien ihm eine Verbindung so ruhig und ungestört gewesen zu sein, vor allem hatte er noch niemals ein interessanteres Gespräch belauscht.

Die Stimme, mit der er eben gesprochen hatte, klang ungeduldig.

»Das ist aber sehr ärgerlich. Um welche Stunde pflegt er denn zu kommen?«

Und eine andere Stimme, die er jetzt deutlich als die des Redakteurs Avyot erkannte, erwiderte:

»Gegen halb fünf, fünf … Aber man kann sich nicht darauf verlassen.«

Wie dumm – Und wissen Sie nicht, wo ich ihn finden könnte?«

»Wo, zum Teufel, habe ich diese Stimme schon gehört?« grübelte Coche. –

»Nun, aber im Laufe des Abends wird er doch gewiß kommen?« erklang wieder die zweite Stimme. »Seien Sie so freundlich, ihm auszurichten, er möchte mich unbedingt aufsuchen. Es handelt sich um eine äußerst dringende Mitteilung.«

»Leider ganz unmöglich, es tut mir wirklich leid  … aber ich vermag ihn nicht zu erreichen …«

»Aha,« dachte Coche und drückte die Hörer noch fester an seine Ohren.

»Aber er muß doch schließlich in die Redaktion kommen. Oder nicht?« beharrte die zweite Stimme sehr ungeduldig.

»Auch das weiß ich nicht. Vielleicht kommt er bald wieder, vielleicht aber auch erst nach langer Zeit …«

»Er hat doch nicht Paris verlassen?«

»Auch darüber kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben … Ich weiß es selbst nicht. Ich bedaure außerordentlich …«

»Ach,« dachte Coche, der immer gespannter lauschte, »aber da wird ja von mir gesprochen, und diese Stimme … diese Stimme …«

»Unterbrechen Sie nicht, Fräulein, wir sprechen noch,« hörte er Avyot rufen, und er selbst, in fieberhafter Aufregung den weiteren Verlauf des Gesprächs erwartend, vergaß sich soweit, selbst in den Apparat zu schreien:

»Unterbrechen Sie doch nicht, Fräulein!«

Doch sofort biß er sich, zur Besinnung gekommen, in die Lippen. Ein reiner Zufall, der allerdings häufig genug vorkam, den er aber noch nie so freudig wie diesmal begrüßt hatte, ließ ihn, als verborgenen Dritten, ein Gespräch anhören, aus dem er die wichtigsten Aufschlüsse zu gewinnen vermochte! Es war ein Wahnsinn, diese Unterhaltung durch einen so ungeschickten Ausruf zu unterbrechen. Zum Glück hatte die Telephonistin seine Worte nicht gehört und das Gespräch ging ungestört weiter.

»Aber jedenfalls können Sie mir doch seine Wohnung angeben?«

»Ja, sicherlich …«

»Glauben Sie, daß eine Aussicht besteht, ihn zu Hause zu treffen?«

»Herrgott,« murmelte Coche, »jetzt hab ich's, das ist doch die Stimme des Polizeikommissärs, ich irre mich nicht.«

Ein Schauer überlief ihn. Seine Finger krampften sich um die Hörer und er fühlte Schweißtropfen an seinen Schläfen. Warum bestand der Polizeikommissär dermaßen darauf, ihn zu sprechen, seine Adresse zu erfahren, wenn nicht um … Er wagte es nicht, selbst in Gedanken nicht, den Satz zu beenden, doch die Worte, vor denen er sich fürchtete, richteten sich drohend vor ihm auf: »mich zu verhaften! – Man wird mich verhaften! –«

Ein Zurückweichen war jetzt nicht mehr möglich. Seine Pulse hämmerten, er hatte das Gefühl, als müßte sich im nächsten Augenblicke, beim Verlassen dieser Zelle, eine schwere Hand auf seine Schulter legen. Noch hoffte er töricht, daß der Redakteur nicht antworten würde, am liebsten hätte er ihm zugeschrien:

»Schweigen Sie, um Gotteswillen, schweigen Sie und sagen Sie meine Adresse nicht!«

Doch damit hätte er sich nur ernstlich kompromittiert. Denn, wenn er auch seine Verhaftung, sein Verhör und die Anklage beabsichtigt hatte, so wollte er doch nicht die Möglichkeit verscherzen, durch ein einziges Wort alle Verdachtsgründe, die man gegen ihn gesammelt haben konnte, zu zerstreuen. Wie aber hätte er dann einen solchen Angstschrei erklären sollen?

Avyots Stimme fuhr fort:

»Ich weiß nicht, ob Sie ihn zu Hause finden, jedenfalls gebe ich Ihnen die gewünschte Adresse …«

Für den Bruchteil einer Sekunde klammerte sich Coche noch an die Möglichkeit, daß doch nicht von ihm die Rede sei. Aber schon die nächsten Worte Avyots vernichteten jede Hoffnung.

»16, Rue de Douai.«

»Danke bestens und entschuldigen Sie, daß ich Sie bemüht habe.«

»Aber, das ist ja nicht der Rede wert … Auf Wiedersehen, Herr Kommissär.«

»Auf Wiedersehen, Herr Redakteur.«

Es folgte ein Knacken, ein Glockensignal, ein leichtes, summendes Rauschen, und dann war nichts mehr zu hören.

Trotzdem blieb Coche unbeweglich stehen. Er lauschte, wartete, hoffte, fürchtete – kaum wußte er, was. Eine unbeschreibliche Erregung lähmte ihn auf seinem Platze. Erst nach zwei oder drei Minuten erwachte er aus seiner Erstarrung und erst dann bemerkte er, daß nur noch dumpfes Rauschen, gleich dem Klang einer Meeresmuschel, an sein Ohr drang, er begriff, daß das Gespräch zu Ende sei und er hier nichts mehr zu hoffen habe. Zögernd nur öffnete er die Türe der Telephonzelle und scheu blickte er um sich, ob niemand ihn erwarte.

Der Gedanke, daß er ja unschuldig sei, regte sich kaum noch in seinem Unterbewußtsein. Eines allein erfüllte ihn, wogte durch seine Adern, zitterte in seinen Nerven: seine bevorstehende Verhaftung!

Hätte er noch ruhig zu überlegen vermocht, vielleicht würde er dann, selbst auf die Gefahr hin, sich lächerlich zu machen, alles gestanden haben. – Doch er war keines klaren Gedankens mehr fähig. Geblendet, hypnotisiert, gelähmt starrte er nur auf die drei Worte, die wie von fremder Hand in sein Gehirn gegraben waren: Ich werde verhaftet.

Und diese Worte, wie sehr sie ihn auch erschreckten, hatten doch auch ihre Verlockung. Er fühlte sich mit dunkler, furchtbarer Gewalt von den kommenden Geschicken angezogen, deren Drohen er mit verwirrten Sinnen zutaumelte, wie der Wanderer, der sich über den Abgrund beugt, wie die Seeleute dem Rufe der Sirenen folgen und auf die schäumenden Klippen zusteuern …

Auf der Straße beschäftigte ihn einen Augenblick der Gedanke, ob er nicht doch die Redaktion noch anrufen solle. Er überlegte indes, daß ja jeder weitere Schritt jetzt unnötig geworden sei und suchte nach den Gründen, die die Polizei so rasch auf seine Spur gesetzt haben konnten, ein wenig enttäuscht, daß er nicht mehr Schlauheit und Geschicklichkeit hatte anwenden müssen. –

Nachdem der Polizeikommissär sein Gespräch mit dem Redakteur des »Tageblatt« beendet hatte, betrat er das Zimmer, in dem die Kriminalinspektoren sich zu sammeln pflegten. Einer von ihnen, der vor einem Tische saß, schien emsig mit einer wichtigen Arbeit beschäftigt.

»Sagen Sie mal,« sprach der Kommissär ihn an, »ist das sehr dringend, was Sie da tun?«

Der Mann schmunzelte.

»Sehr dringend … nein, aber je früher ich damit zu Ende komme, desto besser wird es sein … Ich suche mir aus dem Verzeichnis alle Straßen mit ›de‹ heraus. Ein Versuch kann ja nichts schaden …«

»Schön, schön, aber lassen Sie das einen Augenblick sein, nehmen Sie einen Wagen und sehen Sie nach, ob Sie Herrn Onésime Coche zu Hause treffen. 16, Rue de Douai.«

»Da ist ja das ›de‹!« rief der Inspektor lebhaft aufspringend. »Das ›de‹ – und die Nummer 16 …«

Jetzt war es an dem Polizeikommissär, zusammenzuzucken. Er blickte den Inspektor an, dieser starrte wieder auf seinen Vorgesetzten, keiner von beiden rührte sich in den nächsten Sekunden und keiner wagte es, den Gedanken, der in ihren Köpfen aufblitzte, laut werden zu lassen …

»Ach, was,« sprach der Kommissär schließlich achselzuckend, »das sind ja Hirngespinste. Wenn man anfangen wollte, alle Leute, die in einem Haus mit der Nummer 16 wohnen, mißtrauisch zu betrachten …«

»Gewiß, gewiß, aber es ist doch ein sonderbares Zusammentreffen … Ich will gleich hinfahren …«

Der Polizeikommissär ging nachdenklich in sein Zimmer zurück. Da nicht er es gewesen war, der die Papiere entdeckt hatte und auch er nicht als Erster das immerhin erstaunliche Zusammentreffen mit der Adresse des Reporters bemerkt hatte, wollte er sich nicht den Anschein geben, als würde er dem Verdacht seines Untergebenen irgendwie beipflichten. Aber allein geblieben, bedauerte er doch recht sehr, daß sein Inspektor ihm zuvorgekommen war. Große Bedeutung vermochte er all diesen Umständen zwar noch immer nicht beizumessen, denn daß Coche in die Angelegenheit verwickelt wäre, schien doch wirklich allzu unwahrscheinlich! Durfte man einzig und allein auf die zufällige Uebereinstimmung einer Zahl einen ganzen Roman aufbauen?

»Nein … das ist völlig widersinnig …«

Doch, wie sehr er sich auch bemühte, er vermochte die aufgetauchten Fragen nicht mehr abzuschütteln. Unaufhörlich kreisten seine Gedanken um sie. Er nahm einen Akt zur Hand und begann ihn durchzulesen, doch als er am Ende der ersten Seite angelangt war, entdeckte er, daß ihm der Sinn all der Worte, die er doch gewissenhaft gelesen hatte, vollständig entgangen war, daß nicht die geringste Erinnerung an all die Sätze in ihm haften geblieben war … Statt dessen tanzte die Zahl 16 vor seinen Augen und, undeutlich zuerst, dann immer klarer sah er die Züge von Onésime Coche vor sich.

Allmählich wuchs aus der Vergessenheit eine Fülle bisher unbeachteter Einzelheiten empor …

Die überraschend frühe Meldung des Tageblatt, deren Quelle er vergeblich nachgeforscht hatte, die rätselhaften Andeutungen dieses Coche, als er das erste Mal mit ihm sprach, seine Ironie, die fast an Frechheit grenzte, seine zweideutigen Antworten, die Fußspuren im Garten, auf die er hingewiesen hatte, und schließlich das mehr als sonderbare Verhalten dieses Reporters vor der Leiche … Zweifellos, dies alles konnte man in gewissem Sinne schon als Indizienbeweise anführen … Doch, wenn der Journalist in irgendeiner Weise mit dem Verbrechen zu tun gehabt hätte, – war solche Unverfrorenheit, wie sein späteres Verhalten sie bewies, denkbar? – Trotzdem …

Hier unterbrach er seine Ueberlegungen. Er fühlte sich gehemmt, ein Hindernis lag über dem Wege und er wagte nicht, sich selbst einzugestehen, daß es ihn ebenso sehr störte, nicht der Erste gewesen zu sein, der an all dies gedacht hatte, wie auch die Unmöglichkeit, für ein solches Verbrechen dieses Täters ein Motiv zu finden, seine Gedanken verwirrte. – In wenigen Minuten würde er ja übrigens Klarheit haben. Ohne ihn auch nur das Geringste von seinen Zweifeln ahnen zu lassen, wollte er dem Reporter zu verstehen geben, daß seine sonderbare Haltung nach Aufklärung verlange. Denn der Kommissär war jetzt davon überzeugt, daß Coche so manches über den Mord erzählen könnte. Die Schwierigkeit lag nur darin, ihn zum Sprechen zu bringen. Hatte Coche damals nicht die geheimnisvollen Worte gesprochen: Die Presse verfügt über allerlei Hilfsmittel? – An welche Hilfsmittel mochte er dabei gedacht haben? – Das mußte in Erfahrung gebracht werden, und um dahin zu gelangen, wollte der Kommissar selbst vor Einschüchterungen und Drohungen nicht zurückschrecken …

Schrill ertönte das Läuten des Telephonapparates. Seltsam erregt, hob der Kommissär die Muschel ab.

»Wer spricht?«

»Javel, den Sie in die Rue de Douai geschickt haben, Herr Kommissär.«

»Und was haben Sie zu melden?«

»Herr Coche ist seit drei Tagen nicht mehr in seiner Wohnung gesehen worden.«

Heftige Bestürzung malte sich auf den Zügen des Kommissärs. Seit drei Tagen also hatte sich der Journalist weder in seiner Wohnung noch in der Redaktion gezeigt! Wie unwahrscheinlich auch die Sache schien, man konnte nicht anders, als ernste Gründe für ein solches Verschwinden annehmen. Und wenn man die Ereignisse in ihrem raschen Lauf und ihren dunklen Zusammenhängen betrachtete, dann war es wohl mehr als wahrscheinlich, daß diese ernsten Gründe irgendwie mit dem Verbrechen vom Boulevard Lannes im Zusammenhange stehen mußten. – Zwei Möglichkeiten waren zu erwägen: entweder Coche hatte sein Verschwinden vorgetäuscht, um unbehindert und unauffällig eine Untersuchung auf eigene Faust führen zu können – oder er war selbst in das Drama mitverwickelt. In diesem zweiten Falle gab es auch wieder zweierlei Lösungen: freiwillige Flucht des ängstlich gewordenen Verbrechers oder, was der Wahrheit vielleicht näher kam, die eigentlichen Verbrecher, die seine Mitwisserschaft kannten und fürchteten, hatten ihn beiseite geschafft …

Der Kommissär, stets der gleich flüchtige und phantasievolle Arbeiter, fand sich durch diese zweite Hypothese sogleich gefesselt. Er wandte sich wieder dem Apparat zu.

»Sonst haben Sie nichts ermittelt?« und, da der Inspektor nicht sogleich antwortete, klopfte er nervös auf den Apparat: »Halloh, hören Sie mich?«

»Jawohl, Herr Kommissär. – Sonst liegt nichts vor.«

»Nun, dann ist es gut Ich werde die Angelegenheit morgen selbst weiter verfolgen.« Und er legte die Hörmuschel hin.

»Morgen?« schmunzelte der Inspektor, während er von seinem Apparat zurücktrat, »da wirst du vermutlich schon nach getaner Arbeit erscheinen, mein Lieber, denn morgen muß der gute Coche schon in meinen Händen sein!«

In der Tat hatte er seinem Vorgesetzten nicht alles gesagt, denn es war ja seine Theorie, die er allein verfolgen und deren Früchte er allein genießen wollte. Er war noch viel zu jung in seinem Berufe, als daß man auf seine Meinung gehört hätte, diesmal aber wollte er sich seinen Plan nicht entwinden lassen und nach seinem eigenen Kopfe vorgehen. Seit der Entdeckung jener kleinen Reste eines Briefumschlages hatte er die bestimmte Empfindung gehabt, daß bei diesen Papierstückchen die ganze Entscheidung lag. Und diese Empfindung hatte sich von der Ahnung zur Gewißheit verdichtet, als er die Adresse jenes Coche vernommen hatte. Er bedauerte fast, seine Erregung vor dem Kommissär verraten zu haben, doch tröstete er sich über diesen Mangel an Selbstbeherrschung mit dem Gedanken, daß sein Vorgesetzter viel zu stolz sei, um die Theorie eines simplen Inspektors ernst zu nehmen. Ja, vielleicht war es sogar ganz gut so. Was ihm anfangs als Ungeschicklichkeit leid gewesen war, betrachtete er jetzt als besonders günstigen Umstand. Die Tatsache allein, daß er es gewesen war, der auf die Uebereinstimmung der Adresse mit den gefundenen Papierfetzen hingewiesen hatte, schien ihm jetzt, wenn er darüber nachdachte, sichere Gewähr dafür zu bieten, daß der Kommissär dieser Entdeckung eines Neulings nicht den mindesten Gedanken schenken würde, ja wahrscheinlich gerade, weil er darauf hingewiesen hatte, gar nicht weiter auf diese Möglichkeit eingehen würde. Der Weg für ihn war frei, er konnte, ohne Rede und Antwort stehen zu müssen, unbehindert seinen eigenen Plan verfolgen.

Javel täuschte sich, wie man gesehen hat. Doch das Ergebnis war schließlich wegen der überstürzten Folgerungen des Kommissärs, der die Ereignisse schon auslegte, statt sich, wie Javel, damit zu begnügen, sie zu konstatieren – nicht anders als der Inspektor erwartet hatte. Der Kommissär, in seine eigenen Phantasien verstrickt, hatte seine Meldung hingenommen, ohne weiter nach Mitteilungen von Einzelheiten zu drängen und hatte schließlich, was Javel augenblicklich das wichtigste war, keine neuen Aufträge in dieser Sache erteilt. So vermochte der Inspektor in Ruhe die mit ganz erstaunlichem Glück gesammelten Nachrichten weiter zu verfolgen. Und diese Nachrichten bildeten allerdings eine seltsam ineinandergreifende Kette von Tatsachen, denen weit größere Bedeutung zukam als dem bloßen Umstand von der Abwesenheit Coches, den allein er dem Kommissär gemeldet hatte.

Als er, den Auftrag des Polizeikommissärs ausführend, durch die Rue de Douai seinem Ziele zugeschritten war, hatte er unwillkürlich gestockt, als sein Blick auf die Nummer 22 über einem Haustore gefallen war. Sicher war es ein Zufall, daß er gerade bei diesem Hause aufgeblickt hatte, aber er legte solchen Zufällen viel zu große Bedeutung bei, um nicht ihren Winken zu folgen. Er überlegte noch rasch, daß, wenn er sich täuschte, niemals jemand davon erfahren würde, daß eine kurze Nachfrage weder mühevoll noch aufsehenerregend sei und trat ein.

Die Wohnung des Hausmeisters lag gleich neben dem Eingang. Er öffnete die Tür und frug hinein:

»In welchem Stock wohnt, bitte, Herr Onésime Coche?«

»Den kenne ich nicht,« lautete eine brummige Antwort.

Javel zeigte eine enttäuschte Miene und stotterte mit gutgespielter Schüchternheit:

»Er ist Journalist, vielleicht könnten Sie mir doch sagen …«

Der Hausbesorger, der sich an seinem Ofen die Hände wärmte, schüttelte den Kopf, ohne aufzublicken. Indessen aber war seine Frau aus dem Nebenzimmer zum Vorschein gekommen und erkundigte sich, um was es sich handelte. Javel, der sie redseliger und neugieriger als ihren Mann einschätzte, wandte sich sofort an sie:

»Ich suche einen Journalisten, Herrn Onésime Coche, man gab mir dieses Haus als seine Adresse an. Man scheint sich geirrt zu haben, vielleicht aber könnten Sie mir doch sagen, wo ich ihn finde.«

Der Mann zuckte nochmals mit den Achseln, die Frau aber wurde lebhaft:

»Was! Du erinnerst dich nicht?« Und sich an den Inspektor wendend, begann sie sogleich die gewünschte Auskunft zu geben:

»Jetzt haben wir allerdings keinen Mieter dieses Namens, aber es hat tatsächlich ein Journalist hier gewohnt, der vor etwa sechs Monaten ausgezogen ist. Seither hat der Briefträger sich schon zwei- oder dreimal geirrt und Briefe hier abgegeben, die den von Ihnen erwähnten Namen trugen.« Und sie wandte sich wieder, ganz eifrig geworden, an ihren Mann: »Aber du mußt dich doch erinnern. Es ist ja noch keinen Monat her, daß wieder so ein Brief hierher kam … Ich weiß nicht sicher, aber es kommt mir vor, als wenn Sie Ihren Bekannten im Sechzehner oder Achtzehner Haus finden müßten …«

Javel entschuldigte sich wegen der Störung, die er verursacht hatte, dankte, und auf der Straße angelangt, vermochte er seine Freude nicht zu unterdrücken und rief fast laut vor sich hin:

»Sieg! Sieg! Ich habe ihn!«

Ein Vorbeigehender, den er anstieß, wandte sich kopfschüttelnd um und knurrte: »Der ist verrückt!«

Javel betrat rasch das Haus Nummer 16 und frug die Hausbesorgerin:

»Herr Coche?«

»Nicht zu Hause.«

»Wissen Sie, wann er kommt?«

»Nein, er muß verreist sein.«

»Teufel,« brummte Javel, »das ist recht ärgerlich … Und Sie wissen auch nicht, wann er wiederkehrt?«

»Nein … Lassen Sie ein paar Zeilen da, man wird sie ihm mit all den Briefen, die seit drei Tagen auf ihn warten, übergeben.«

»Seit drei Tagen!« dachte Javel. »Sollte ich doch auf der richtigen Fährte sein?« Und er fügte laut, wie im Selbstgespräch, hinzu: »Ihm ein paar Zeilen hinterlassen?«

Dann überlegte er rasch, daß vielleicht doch noch Einiges von der Hausbesorgerin zu erfahren wäre und daß sie vermutlich in ihrer Loge weniger kurz angebunden sein würde als hier auf dem Flur.

»Sie haben recht, wenn ich Sie nicht störe, möchte ich gerne einen Brief zurücklassen.«

»Durchaus nicht, treten Sie nur ein … Brauchen Sie Tinte und Papier?«

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar.«

Als ihm Tinte, Feder und Papier gebracht war, nahm er bei dem Tische Platz und begann einen umständlichen Bettelbrief zu schreiben, in dem er sich als stellenlosen, von Mißgeschick verfolgten Journalisten ausgab und seinen verehrten Kollegen anflehte, ihm zu helfen.

Als er die Seite zu Ende geschrieben hatte, hielt er ein, nahm das beschriebene Blatt zwischen zwei Finger und schwenkte es durch die Luft, um es zu trocknen.

»Ein Löschblatt vielleicht?« frug die gutmütige Hausbesorgerin.

»Oh – aber liebe Frau, ich mache Ihnen zuviel Mühe …«

»Ach Gott, wirklich nicht …«

Während er sorgfältig die Tinte trocknete, umständlich den Brief zusammenfaltete und in einen Umschlag steckte, frug er so nebenbei, als fühle er sich bloß verpflichtet, ein Gespräch in Gang zu bringen:

»Herr Coche hat Ihnen seine Abreise gar nicht vorher angekündigt?«

»Nein. – Die Frau, die seine Wohnung in Ordnung bringt, kam vorgestern ganz wie an anderen Tagen, auch sie wußte von nichts und frug mich das Gleiche. Sie kommt auch jetzt jeden Morgen, aber auch sie hat keinerlei Nachrichten bekommen … Wir haben uns nicht wenig gewundert, denn immer sonst, wenn er eine Reise vorhatte, versäumte er nicht, mir zu sagen: ›Frau Isabella, ich fahre für so und so viele Tage weg, ich werde Montag oder Mittwoch zurück sein.‹ – Kurz, alles, was nötig war, um Auskunft zu geben, wenn jemand in seiner Abwesenheit vorsprechen sollte …«

Javel kaute an seinem Federstiel und verschlang jedes Wort. Ihm schien diese Abreise mehr und mehr einer Flucht zu gleichen, und wenn er an das sonderbare Zusammentreffen der Zahlen 16 und 22 dachte, konnte er sich nicht zurückhalten, dieses auffällige Verschwinden mit dem Verbrechen vom Boulevard Lannes in Verbindung zu bringen.

Die Hausbesorgerin sprach, nachdem sie einmal begonnen hatte, immer noch weiter. Sie erzählte von dem regelmäßigen Leben, das Coche sonst zu führen, von den Stunden, zu denen er auszugehen pflegte, – doch alles dies schien dem Inspektor, wenigstens für den Augenblick, unwichtig. Nur einmal blitzte es triumphierend in seinen Augen auf und er hörte wieder gespannt zu, als die geschwätzige Frau in ihren Mitteilungen fortfuhr:

»Die letzte Nacht, in der er hier schlief, kam er, wie gewöhnlich, erst gegen zwei Uhr morgens nach Hause. Ich kenne ja schon seinen Schritt und seine Art, die Türe zu schließen. Er macht sie ganz leise, fast geräuschlos zu; andere haben wir hier, die knallen, wenn es noch so spät ist, das Haustor zu, daß das ganze Haus aufwacht. – Ich erinnere mich, daß dann um fünf Uhr früh jemand kam und nach ihm frug. Lange blieb der Betreffende nicht oben, denn schon fünf Minuten später öffnete ich ihm wieder das Tor. Und kurz danach ging auch Herr Coche wieder fort. Ich denke, daß vielleicht seine Familie nach ihm geschickt hat, möglicherweise ist jemand erkrankt … Seine Eltern sollen irgendwo auf dem Lande leben.«

»Das wäre möglich,« dachte der Inspektor, »aber andere Gründe scheinen wahrscheinlicher …«

Die Hausbesorgerin schien alles gesagt zu haben, was sie wußte. Wichtiges war nicht mehr von ihr zu erfahren, vielleicht würde noch jene Frau, die die Wohnung in Ordnung hielt, einiges wissen … Javel erhob sich.

»Sie werden wohl so gut sein, diesen Brief zu seiner übrigen Post zu legen. Da es mir sehr dringend ist, möchte ich morgen früh gegen neun Uhr nochmals vorsprechen, vielleicht habe ich Glück und er ist schon zurück …«

»Wie Sie wollen, Herr. Seine Bedienerin werden Sie jedenfalls antreffen.«

Er dankte und verließ das Haus. Für ihn bestand kaum mehr ein Zweifel. Der Empfänger jenes am Boulevard Lannes zerrissen aufgefundenen Briefumschlages und Onésime Coche waren ein und dieselbe Person. Blieb nur noch die Frage, ob man in der überstürzten Abreise des Journalisten, die in der gleichen Nacht erfolgte, in der das Verbrechen geschah, ein bloß zufälliges Zusammentreffen sehen durfte? Das mußte bedächtig und vorurteilslos geprüft werden. Während er noch alle Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten sorgsam erwog, rief er den Polizeikommissär an, um seinen Bericht zu erstatten. Er begnügte sich dabei, nicht mehr als die Frage zu beantworten, die ihm gestellt worden war, alles andere war eine Fleißaufgabe, die er freiwillig gemacht hatte und die seinen Vorgesetzten nichts anging. Der Befehl hatte gelautet, in der Rue de Douai 16 zu erfragen, ob Coche zu Hause sei. – Nun, er war nicht zu Hause, er war seit drei Tagen nicht zu Hause gewesen.

Javel hatte ein eigenes System. Wenn er jemanden auszuforschen hatte, so pflegte er nicht darüber nachzudenken, welches wohl das klügste Versteck für den Betreffenden sein könnte, sondern er legte sich gewöhnlich die Frage vor, was sein Gegner wohl als größte Dummheit und Ungeschicklichkeit beginnen könnte. Nun, im Falle Coche – angenommen, daß Coche schuldig sei – wäre der größte Fehler, den er begehen könnte, in seine Wohnung zurückzukehren. Von diesem Gedanken bis zur Annahme, daß Coche diesen Fehler nicht vermeiden werde, war nur ein kleiner Schritt. Denn wenn ein Mann zwischen zwei Möglichkeiten wählen kann, so wird es selten geschehen, besonders wenn er die Polizei fürchtet, daß er sich für die bessere entschließt. Die einfachste Vorsicht hätte dem Journalisten raten müssen, sich in der Rue de Douai nicht mehr zu zeigen: Eben darum war es hier, wo man ihn zu erwarten hatte.

Nachdem Javel diese Gedankenkette durchgedacht hatte, lehnte er sich, einige Schritte vom Haustor entfernt, an die Mauer, um den Gesuchten zu erwarten.


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