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III.

Durch länger als fünf Minuten flehte, schrie und fluchte der Redakteur des ›Tageblatts‹ in den Apparat. »Hallo, hallo, mein Gott, so antworten Sie doch … Diese elende Wirtschaft, jetzt hat man uns unterbrochen! Hallo! Hallo!«

Er hing die Hörmuschel auf und begann wütend die Kurbel zu drehen.

»Hallo, Fräulein, Sie haben unterbrochen!«

»Aber durchaus nicht, es wurde offenbar abgehängt.«

»Das muß ein Irrtum sein, ich bitte Sie, verbinden Sie mich sofort noch einmal mit der Nummer …«

Einen Augenblick später meldete sich eine Stimme, die nicht mehr die gleiche war, wie eben zuvor, und frug:

»Hallo, Sie wünschen?«

»Hat man von Ihnen soeben gesprochen?«

»Ja, bei uns wurde allerdings vor wenigen Minuten gesprochen, aber ich weiß nicht, ob mit Ihnen …«

»Wollen Sie die Güte haben, mir zu sagen, wer dort spricht?«

»Hier ist das Café Paul, Trocaderoplatz.«

»Ja, das wird stimmen, bitte sagen Sie dem Betreffenden, mit dem ich eben sprach, daß ich noch etwas hinzuzufügen habe.«

»Das ist unmöglich, der Herr ist schon fortgegangen.«

»Schicken Sie ihm einen Kellner nach … laufen Sie … ich bitte Sie darum, es ist sehr dringend.«

»Bedaure, wir sind im Begriff zu schließen und der Gast muß jetzt schon weiß Gott wo sein.«

»Können Sie mir sagen, wer jener Herr war, mit dem ich sprach? … Kennen Sie ihn? … Ist es einer Ihrer Stammgäste?«

»Nein, ich habe ihn heute zum ersten Mal gesehen. Wenn ich ihn beschreiben soll, – es war ein junger Mann von etwa dreißig Jahren, dunkel, mit einem kleinen Schnurrbart … Ich glaube, er trug einen Abendanzug, aber sicher weiß ich es nicht, ich habe nicht besonders darauf geachtet.«

»Ich danke, verzeihen Sie, daß ich Sie bemüht habe …«

Der Redakteur war ratlos. Sollte er die Meldung veröffentlichen, die man ihm gegeben hatte, oder war es ratsamer, bis zum nächsten Morgen zu warten? Wenn die Nachricht auf Wahrheit beruhte, dann wäre es ein Jammer gewesen, sie einer anderen Zeitung zu überlassen. Doch wenn sie sich als falsch erwies? … Die Zeit drängte, es mußte augenblicklich eine Entscheidung getroffen werden.

Nach reiflicher Ueberlegung ließ er aus der Fortsetzung des Romans einige Zeilen streichen, wodurch es ihm möglich wurde, die ganze Spalte hinaufzurücken, und ersetzte den freien Raum durch folgende Notiz:

 

»Furchtbare Tragödie.«

Wir erfahren, daß ein gräßliches Verbrechen am Boulevard Lannes im Hause No. 29, in dem ein Greis wohnte, soeben entdeckt wurde. Das Opfer ist von den Mördern buchstäblich abgeschlachtet worden. Einer unserer Mitarbeiter begibt sich auf den Tatort.

Wir bringen diese Nachricht, die uns in letzter Stunde zukommt, unter allem Vorbehalt.«

 

Einige Augenblicke später waren die Maschinen in voller Tätigkeit, und um drei Uhr morgens rollten dreihunderttausend Exemplare, der erste Teil der Auflage, auf die verschiedenen Bahnhöfe und trugen die Kunde vom »Verbrechen des Boulevard Lannes« in alle Weltrichtungen. Um dreiviertel fünf war die Hälfte der Pariser Auflage ausgeliefert. Um diese Zeit blickte der Nachtredakteur, der das Zeitungsgebäude bis dahin nicht verlassen hatte, auf seine Uhr und rief einen Laufburschen.

»Eilen Sie in die Wohnung von Herrn Onésime Coche und bestellen Sie ihm, er möchte augenblicklich hierherkommen. Ich muß ihn in einer außerordentlich dringenden Angelegenheit sprechen.«

»Auf diese Art,« dachte er, »vermag dieser unverbesserliche Coche die Nachricht nicht auszuplauschen. Wenn sich die Meldung als falsch erweisen sollte, so schützt mich der Vorbehalt in der letzten Zeile vor allen Vorwürfen; wenn sie aber richtig ist, dann werden wir den Ruhm haben, die Ersten zu sein, die sie brachten. Ja, wenn Coche verläßlicher wäre, dann hätte ich ihn sofort kommen lassen können. Aber wie kann man zu einem Burschen Vertrauen haben, der trotz der besten Absichten gewiß nicht unterlassen hätte, meine Informationen in ganz Paris auszuposaunen! – Ein netter und begabter Bursche, aber ganz unberechenbar, nicht ernst zu nehmen – und gerade heute Nacht bringt er es zuwege, überhaupt nicht in der Redaktion zu erscheinen! Immer dasselbe, wenn man ihn nötig hat, ist er nie zur Stelle.«

— — — — — — — — —

Onésime Coche war eben erst eingeschlafen, als der Bursche vom ›Tageblatt‹ an seine Türe pochte. Er fuhr heftig auf, horchte, da er nicht sicher war, ob er nicht geträumt habe, doch als das Klopfen sich wiederholte, blieb kein Zweifel, er setzte sich im Bette auf und rief: »Wer ist's?«

»Julius vom Tageblatt.«

»Einen Augenblick, ich öffne.«

Coche zündete seine Kerze an, schlüpfte in seine Hose und öffnete, recht übelgelaunt, die Tür.

»Ihr seid wohl verrückt geworden in der Redaktion? Was will man von mir?«

»Herr Avyot läßt Ihnen sagen, Sie möchten sofort kommen.«

»Ja! Und was nicht noch alles! Er scheint ein bißchen übergeschnappt, der Herr Avyot! Es ist ja noch nicht einmal fünf Uhr!«

»Entschuldigen Sie, Herr Coche, aber es ist zwanzig Minuten nach fünf.«

»Fünf Uhr zwanzig, ist das eine Stunde, um die Leute aus ihrem Bett zu jagen? Richten Sie ihm aus, daß ich nicht zu Hause war … Guten Abend, Julius.«

Und er drängte ihn sanft dem Ausgange zu.

»Ich will es ja gerne bestellen,« meinte der Junge verschmitzt lächelnd,« aber ich glaube doch, daß es wirklich dringend ist, wegen dieser Sache …«

»Was für eine Sache?«

Julius zog eine noch feuchte Zeitung aus der Tasche, die Morgenausgabe des Tageblatt, deren Druckerschwärze noch abfärbte, entfaltete sie und wies auf der dritten Seite, ganz am Ende der »Letzten Neuigkeiten«, auf die Notiz, die auf das Verbrechen am Boulevard Lannes Bezug hatte. Während Coche eilig die Zeilen durchflog, fügte er hinzu:

»Eben, da der Druck beginnen sollte, wurde es uns telephonisch mitgeteilt. Wenn's kein Schwindel ist, dann hat der Schlaukopf, der uns anrief, heute Nacht wohl seine fünfundzwanzig Francs verdient.«

»Fünfundzwanzig Francs? …«

»Ja, natürlich, Sie werden doch nicht meinen, daß er nur uns angerufen hat, der hat sicher allen Morgenblättern dasselbe telephoniert und jeder Zeitung geschworen, daß sie die einzige sei, die diese Information erhalte. Und jetzt wird er natürlich bei allen Blättern sein Honorar einkassieren. Damals, beim Brand des Wohltätigkeitsbazars, habe ich's genau so gemacht … Nur waren es damals bloß die Abendblätter, und mehr als zwei haben nicht gezahlt …«

»Ausgezeichnet … Ausgezeichnet,« erwiderte Coche, ihm die Zeitung zurückgebend, »Sie sind ein kleiner Gauner, Julius.« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Ja, es handelt sich sicher um diese Sache. Richten Sie Herrn Avyot aus, daß ich komme, ich muß mich nur ankleiden …«

Allein geblieben, begann Coche zu lachen. War es nicht auch wirklich zu drollig, daß man ihm, gerade ihm diese Neuigkeit ins Haus schickte? Im ersten Augenblick allerdings war er tatsächlich überrascht gewesen. Die zwei, drei Stunden tiefen Schlafes hatten alle Aufregungen der Nacht aus seinem Gedächtnis gelöscht. Er war wirklich erstaunt gewesen, daß man ihn zu nachtschlafender Zeit holen kam, und erst als Julius die Zeitung entfaltete, waren seine Erinnerungen wieder aufgetaucht. – Wahrlich, er konnte mit dem Lauf der Dinge zufrieden sein. Es wäre doch auch möglich gewesen, daß ein Anderer mit der Verfolgung dieser Angelegenheit betraut worden wäre. So aber vermochte er das Spiel nach seinem Belieben zu dirigieren.

Während er dies alles überdachte, kleidete er sich ohne sonderliche Eile an. Da es so zeitlich morgens recht kalt war, nahm er ein Flanellhemd, einen warmen Anzug und einen dicken Reisemantel. Nachdem er seinen Hut aufgesetzt hatte, befühlte er noch seine Taschen, ob er nichts vergessen habe, Schlüssel, Brieftasche, Revolver, Notizblock und Bleistift – alles hatte er bei sich.

Als er um Oeffnung des Haustores bat, hörte er aus dem Zimmer des Hausbesorgers das Knurren einer verschlafenen Stimme: »Soll man denn heute Nacht gar nicht zur Ruhe kommen?«

Ein Einspänner döste auf dem Standplatz. Er gab ihm die Adresse des »Tageblatt«, drückte sich in die Ecke des Wagens und begann seine Ueberlegungen weiterzuspinnen.

In der Redaktion war natürlich die einzig mögliche Haltung die der vollständigen Ahnungslosigkeit. Selbst ein wenig Unlust und Ungläubigkeit konnten nicht schaden. Auf diese Weise würde er im vornhinein jeden Verdacht entkräften und überdies dem Nachtredakteur das Vergnügen machen, als Einziger die Richtigkeit der Nachricht gefühlt zu haben. Er kannte die Menschen im allgemeinen und besonders die Journalisten viel zu genau und wußte wohl, wie wertvoll es war, ihnen bei jedem Unternehmen, das man durchführen wollte, den Großteil des Erfolges zu lassen. Avyot würde sich um so mehr für die Angelegenheit interessieren und voll Selbstbewußtsein prahlen: »Ja, ich habe eine Nase bewiesen. Niemand wollte mir recht geben. Coche meinte sogar, man hätte mich hereingelegt. Aber ich ließ mich nicht beirren, ich fühlte sofort, daß dies keine Ente sei. Mich führt man nicht hinters Licht, ich bin ein alter Hase!«

Der Wagen hielt vor dem Zeitungsgebäude. Coche bezahlte den Kutscher und sprang eilig die Treppen zu der Redaktion hinauf. Der Nachtredakteur, der ihn, erregt im Zimmer auf- und abgehend, erwartete, rief sofort, als er ihn erblickte:

»Na, daß Sie endlich da sind! Seit ein Uhr nachts jage ich hinter Ihnen her, es ist mir ein Rätsel, wo Sie die Nächte verbringen – übrigens ist das Ihre Privatangelegenheit –, aber offen gestanden, Sie könnten sich wirklich die Mühe nehmen, auch einmal in der Redaktion zu erscheinen. Niemals weiß man, wo Sie zu finden sind …«

»Bei mir zu Hause,« warf Coche ganz schlicht ein. »Ich habe in der Stadt gespeist und um ein Uhr lag ich in meinem Bett. Um halb acht verließ ich die Redaktion, alles war ruhig wie gewöhnlich. Was hat sich denn seither ereignet, das meine Anwesenheit dringend erfordert hätte?«

»Etwa um zwei Uhr morgens wurde mir mitgeteilt, daß am Boulevard Lannes eben ein Verbrechen verübt worden sei.«

»Schön, – ich will in ein Taxi springen und zum Polizeikommissariat fahren, mich nach den näheren Umständen erkundigen.«

Der Redakteur legte Coche, der schon im Begriffe war, sich nach der Türe umzuwenden, die Hand auf die Schulter.

»Einen Augenblick! Es dürfte auf Schwierigkeiten stoßen, dort das Geringste zu erfahren – aus dem einfachen Grunde, weil die Polizei von der ganzen Geschichte noch keine Ahnung hat.«

»Das begreife ich nicht recht. Auf dem Kommissariat weiß man von der Sache nichts und Sie sind darüber informiert? Sie? Ja, wieso?«

»Lesen Sie,« entgegnete Avyot, ihm die Zeitung hinhaltend. Coche überflog zum zweiten Mal die von ihm diktierte Notiz und schien trotzdem jedes Wort mit der größten Aufmerksamkeit zu lesen.

»Donnerwetter,« brummte er, als er zu Ende war, »das kommt mir sehr verdächtig vor. Sind Sie auch ganz sicher, daß es sich nicht um eine Mystifikation handelt?«

»Wenn ich ganz sicher wäre,« gab der Redakteur zurück, »dann hätte ich es nicht notwendig gehabt, die Nachricht unter allem Vorbehalt zu bringen – immerhin,« seine Miene wurde geheimnisvoll, »habe ich ganz besondere Gründe, die mich zu der Annahme berechtigen, daß die Nachricht den Tatsachen entspricht …«

»Wäre es unbescheiden, nach diesen Gründen zu fragen?«

»Unbescheiden? – Nein … Aber – überflüssig. Der gegenwärtige Stand der Angelegenheit ist ja klar und in wenigen Worten zusammenzufassen: So rasch als möglich die Nachricht überprüfen, sodann, da wir die ersten und einzigen sind, die sie besitzen, unseren vierundzwanzigstündigen Vorsprung kräftigst ausnützen, um unsere Nachforschungen neben denen der Polizei zu betreiben. – Ich vermute, daß mein Berichterstatter sich mit der Mitteilung von heute Nacht nicht begnügt und daß er sich bald zeigen wird –, wäre es auch nur, um sein Honorar zu beheben …«

»Meinen Sie?« frug Coche.

»Ich bin davon überzeugt,« versicherte der Redakteur.

»Hm,« brummte Coche.

»Mein Lieber, Sie werden mir doch wohl in einem Berufe, den ich seit zwanzig Jahren ausübe, eine gewisse Erfahrung zubilligen …«

Coche dachte bei sich: »Oh, du naive Seele! Du wärest wohl recht erstaunt, wenn du erfahren würdest, wer dein Berichterstatter war. Heute Nacht, als du mich anflehtest, hattest du nicht diesen schneidenden Ton! Nein, der Mann wird kein Geld von dir verlangen. Die paar Francs, die du ihm geben könntest, genügen seinem Ehrgeiz nicht. Seiner Schlauheit ist deine Erfahrung nicht gewachsen …« Laut aber beeilte er sich zu bestätigen:

»Selbstverständlich, darüber ist doch kein Wort zu verlieren … Aber nichtsdestoweniger erscheint dies alles doch recht ungewöhnlich, und ich bin mir noch nicht klar, wie ich die Sache am besten anpacken soll …«

»Das überlasse ich Ihnen. Ueberprüfen Sie zunächst die Richtigkeit und dann bringen Sie mir bis heute Abend zweihundert Zeilen mit Photographien. Wenn Sie mich nicht enttäuschen, will ich eine monatliche Aufbesserung von fünfzig Francs für Sie beantragen.«

»Ich werde Ihnen außerordentlich dankbar sein,« entgegnete der Reporter bescheiden, während er bei sich selbst dachte: »Wenn ich mich nicht selbst enttäusche, so wird nicht von fünfzig Francs die Rede sein, sondern ich selbst werde den Preis diktieren, den die Zeitung, die mich wird haben wollen, bezahlen muß. Die Sache soll großzügig, amerikanisch zu Ende geführt werden!«

Onésime Coche steckte die Zeitung in die Tasche und holte seinen Block hervor.

»Sie sagten Boulevard Lannes, Nummer …?«

»29 – Fangen Sie nur nicht damit an, daß Sie sich andere Dinge im Kopf herumgehen lassen. Dazu ist jetzt wirklich keine Zeit.«

»Aber,« verwahrte sich Coche, »da seien Sie nur ganz ruhig. Es ist jetzt sieben Uhr, ich gehe los.«

»Und ich gehe schlafen. Ich habe mir einige Stunden Schlaf wahrlich verdient. Ich habe gearbeitet, während Sie …«

Coche wandte den Kopf zur Seite, um das Lächeln, das seine Lippen kräuselte, zu verbergen.

Er nahm einen Wagen und gab dem Kutscher als Ziel: »Ecke Boulevard Lannes und Avenue Henri Martin.«

Ein gewisses Schamgefühl, eine unbewußte Scheu hielt ihn davon ab, dem Kutscher die richtige Adresse zu sagen. Ohne, daß er sich darüber Rechenschaft gegeben hätte, handelte er wie ein wirklich Schuldiger, der es nicht wagt, seinen Wagen vor dem Hause halten zu lassen. Und doch wäre es wohl das Natürlichste gewesen! Er hatte einen klaren Auftrag erhalten und konnte wohl unbekümmert vor aller Augen bei dem Hause Nummer 29 vorfahren. Er aber fürchtete, daß der Kutscher ihn mißtrauisch anblicken würde, wenn er ihm die Adresse Boulevard Lannes Nummer 29 gäbe.

Als der Wagen hielt, war es heller Tag geworden. Zögernden Schrittes ging Coche den Boulevard Lannes entlang. Nach einander erwachten die Häuser, hinter den aufgestoßenen Fensterladen erschienen Gesichter, die, noch verschlafen, einen Blick auf die Straße warfen. Wenig Verkehr gab es hier draußen. Ein Wagen mit Gemüse stand vor einem Hause, ein Bäckerjunge, den Brotkorb unter dem Arm, ging pfeifend seinen Weg, ein Depeschenbote läutete an der Türe eines vornehmen, kleinen Privathauses. Coche blickte nach der Nummer und las: siebzehn.

Der Boulevard hatte bei Tage ein so ganz anderes Aussehen als des Nachts, daß Coche, ohne es zu bemerken, vor dem Hause, das sein Ziel war, anlangte. Alles war verschlossen, kein Laut war hörbar. Auf dem Gartenwege vermochte man noch die Abdrücke seiner Schuhe zu erkennen, deutlicher noch als auf dem gelben Sand am Rande des Rasens, wo sein Fuß den nächtlichen Reif eingedrückt hatte. Coche hatte an diese Kleinigkeit gar nicht gedacht, er freute sich darüber und dankte einem glücklichen Zufall für diese Unterstützung seiner Absichten. Er begann vor dem Hause auf- und abzugehen. Immer häufiger kamen Menschen an ihm vorbei; ein Arbeiter blickte eindringlich prüfend nach ihm – so meinte er wenigstens – und er überlegte schon, ob es nicht besser wäre, nicht unnötig die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Weiß man denn jemals, von wem man beobachtet und bemerkt und in späterer Folge vielleicht wiedererkannt wird?

Wäre es nicht reizvoller, wenn er, der simple Journalist, zum Polizeikommissär ginge, um ihm wortlos die Zeitung unter die Nase zu halten?

Im gleichen Augenblicke fuhren in scharfem Trab zwei Fiaker vor und hielten wenige Schritte von ihm an. Er sah mehrere Herren aussteigen und erkannte unter ihnen den Polizeikommissär. Vier Polizisten auf Rädern folgten. Sie sprangen ab und lehnten ihre Fahrräder an die niedere Mauer, eben unter jene Stelle, an der Coche wenige Stunden zuvor den Efeu beiseite geschoben hatte, um die Hausnummer zu lesen.

Der Kommissär zögerte einen Augenblick vor der Gittertüre und läutete dann an. Coche, der ihn nicht aus dem Auge gelassen hatte, näherte sich jetzt mit seinem liebenswürdigsten Lächeln:

»Ich bezweifle, daß man Ihnen öffnen wird, Herr Kommissär, das Haus ist leer, zumindest ist niemand darin, der imstande wäre, Ihr Läuten zu hören …«

»Wer sind Sie, Herr? Ich habe keine Auskunft von Ihnen verlangt und ersuche Sie, mich nicht zu belästigen.«

»Ach ja,« fuhr Coche mit einer leichten Verneigung fort, »ich hätte mich allerdings zunächst vorstellen sollen. Verzeihen Sie diese Unterlassung. Onésime Coche vom Tageblatt. Hier meine Karte, mein Passierschein.«

»Ja, das ändert die Sache,« entgegnete der Kommissär, seinen Gruß erwidernd, »ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. – Ihre Zeitung veröffentlicht unter den letzten Nachrichten eine Meldung, die mich ganz außerordentlich überrascht hat. Ich fürchte sehr, daß man beim Druck dieser Information allzu leichtgläubig gewesen ist …«

»Meinen Sie, Herr Kommissär? Wir gebrauchen immer so viele Vorsichtsmaßregeln … Wenn das Tageblatt eine Meldung bringt, dann ist sie richtig. Wir haben eine Auflage von achthunderttausend. Wir sind kein Blatt, das Sensationsnachrichten oder Erfindungen notwendig hat.«

»Ich weiß, ich weiß … Trotzdem frage ich mich in Anbetracht der angeblichen Stunde, zu der dieses angebliche Verbrechen Ihnen gemeldet wurde, welche Nachforschungen Sie haben anstellen können? Insbesondere, da ich selbst noch keinerlei Meldung habe.«

»Die Presse verfügt über allerlei Hilfsmittel.«

»Ja … ja …« murmelte der Kommissär ungläubig, und er läutete ein zweites Mal, stärker als vorher.

»Finden Sie es übrigens nicht sonderbar,« beharrte Coche, ohne sich abschrecken zu lassen, »daß sich nichts rührt?«

»Durchaus nicht. Das kann auch bloßer Zufall sein … Nehmen Sie den Fall an, dieses Haus wäre unbewohnt.«

»Dies ist aber nicht der Fall.«

»Woher wissen Sie das?«

»Sie werden mir gestatten, Herr Kommissär, mein Berufsgeheimnis nicht zu verletzen. Ich stehe Ihnen sehr gerne bei ihren Nachforschungen zur Seite, aber fragen Sie mich nicht mehr, als ich Ihnen sagen darf.«

»Wenn Sie mit solcher Bestimmtheit Behauptungen aufstellen, scheinen Sie Ihrer Sache ja ziemlich sicher zu sein!«

»Einigermaßen – unser Berichterstatter war zweifellos sehr gut unterrichtet.«

»Sein Name?«

»Aber, Herr Kommissär, Sie werden doch nicht verlangen, daß ich einen meiner Gewährsmänner bloßstelle! Sie würden es bei Ihren Leuten auch nicht tun!«

Der Polizeikommissär hielt mit einem strengen Blick die Augen von Onésime Coche gebannt:

»Wenn ich nun aber auf Ihrer Antwort bestünde?«

»Ich möchte mich nur ungern auf dieses Gebiet begeben … Und ich wiederhole übrigens, – ich sehe nicht recht, welche Mittel Ihnen zur Verfügung stehen, die mich zwingen könnten, etwas auszusagen, was ich verschweigen will. – Aber, Herr Kommissär, ich lege viel zu großen Wert darauf, mit Ihnen in bestem Einvernehmen zu bleiben und ohne die Unterhaltung in der von Ihnen angedeuteten Richtung fortsetzen zu wollen, ziehe ich es vor, Ihnen offen und ehrlich zu erklären, daß ich über meinen Berichterstatter nicht das Geringste weiß. Ich kenne weder seinen Namen noch sein Alter, nicht seinen Beruf … nichts … nichts … mit Ausnahme einer gewissen Aufrichtigkeit, die in seiner Stimme lag und der Bestimmtheit seiner Worte …«

»Ich mache Sie nochmals darauf aufmerksam, Herr Coche, daß zu einer Zeit, da ich, der Polizeikommissär, in voller Unkenntnis der ganzen Sache war, niemand, mit Ausnahme des Mörders oder seines Opfers, davon sprechen konnte. Da nun nach Ihrer Information das Opfer angeblich tot ist, kann es nur der Mörder gewesen sein, der …«

»Habe ich denn das Gegenteil behauptet?«

»Das wird ja immer besser. Meiner Seel', dann wäre dieser Verbrecher das größte Unikum, das mir jemals untergekommen ist. Im Laufe der vielen Jahre, die ich meinen Beruf ausübe, habe ich manch sonderbare Exemplare unter den Verbrechern gefunden, aber mit diesem hier, der selbst nichts Eiligeres zu tun gehabt haben soll, als seinen Mord an die große Glocke zu hängen, ließe sich keiner vergleichen. Wirklich, Herr Coche, wenn der Mann zu Ihren Freunden gehört, dann müssen Sie mir ihn bringen.«

»Es ist nur die Schwierigkeit,« murmelte Coche immer noch mit seinem geschmeidigen Lächeln, »daß er zweifellos Ihren Wunsch nicht teilt. – Im übrigen sehe ich nicht den Verbrecher in ihm, sondern nur meinen Gewährsmann. Wenn ich durchaus davon überzeugt wäre, daß er mit dem Mörder identisch ist, dann würde ich nicht zögern – meine Achtung vor dem Gesetze würde mir dies zur Pflicht machen – Ihnen nichts zu verheimlichen. Aber, ich neige eher zu der Meinung, es hier mit einem Amateurpolizisten zu tun zu haben, mit einem, der scheinbar ungewöhnlichen Scharfsinn besitzt und zu Jenen gehört, die aus Freude an der Sache, aus Ehrgeiz arbeiten …«

In diesem Augenblicke trat einer der Polizisten auf den Kommissär zu:

»Auf der anderen Seite des Hauses befindet sich kein Eingang. Es ist mit der Rückseite an ein Zinshaus angebaut und die einzige Tür ist hier, vor der wir stehen.«

Der Kommissär hatte die Meldung aufmerksam angehört, überlegte noch einen Augenblick und befahl dann:

»Also, dann vorwärts. Ist der Schlosser zur Hand? – Uebrigens brauchen wir ihn noch nicht, die Türe ist unversperrt.«

»Würden Sie es als unzulässig betrachten, wenn ich Sie begleite?« Mit diesen Worten wandte sich Coche fragend an den Kommissär, der schon im Begriffe stand, den Garten zu betreten.

»Unzulässig ist nicht der richtige Ausdruck … Aber Sie begreifen es vielleicht, wenn ich es vorziehe, zumindest bei der ersten Tatbestandsaufnahme – falls eine notwendig werden sollte – allein zu sein. – Wie berechtigt ich auch das Verlangen der Oeffentlichkeit nach Aufklärung finde, der Wunsch der Behörden, in der Untersuchung in keiner Weise behindert zu werden, erscheint mir noch berechtigter.«

Coche verneigte sich.

»Im übrigen,« fügte der Kommissär hinzu, indem er sich nochmals nach Coche umwandte, »glaube ich kaum, daß ich mit diesem Vorgang Ihrer Zeitung irgendwie Abbruch tue. Ihr Berichterstatter, der sich als so vorzüglich unterrichtet erwies, weiß ja zweifellos schon jetzt ebensoviel, wie ich wissen werde, wenn ich aus diesem Hause wieder heraustrete. Und wenn ich es im Interesse der Untersuchung zufällig für nötig halten sollte, Ihnen einige Einzelheiten zu verschweigen, so wird er sie Ihnen ja gerne liefern.«

Coche nagte verärgert an seiner Unterlippe und dachte bei sich:

»Du hast Unrecht, mein Lieber, solch ironischen Ton anzuschlagen. Später einmal werden wir in dieser Sache weitersprechen!«

Eines vor allem war ihm seit jeher unerträglich: wenn man ihn nicht ernst nahm. Und obgleich er diesmal sicher war – und dies nicht ohne Grund –, den entscheidenden Trumpf in seiner Hand zu halten, erbitterte ihn der Hohn, der in der Stimme des Kommissärs gelegen hatte.

Er blickte dem Kommissär, dessen Sekretär und einem Wachinspektor nach, die in das Haus eintraten, und blieb als Schildwache vor der Türe stehen, denn, wenn schon er nicht hineindurfte, wollte er wenigstens sicher sein, daß auch keiner seiner Kollegen die Schwelle übertrete.

Durch die Gruppe der Polizisten, die vor dem Hause standen, angelockt, sammelte sich langsam eine Schar von Neugierigen. Man frug herum, was sich hier ereignet habe; einer der Männer äußerte seine Ansicht, daß es sich um eine politische Angelegenheit, um eine Hausdurchsuchung handle, ein anderer, der schon das Tageblatt gelesen hatte, stellte richtig, daß hier ein Mord geschehen sei. Er gab Einzelheiten, die seiner Phantasie Ehre machten, und deutete auch die düsteren Ursachen dieses Dramas an. Coche hatte es anfangs unterhalten, den verschiedentlich geäußerten Meinungen zu lauschen, doch bald hörte er nicht mehr hin und hing seinen eigenen Gedanken nach. Fieberhafte Ungeduld verzehrte ihn. In seinem Geiste verfolgte er den Weg, den der Polizeikommissär dort hinter jenen Mauern ging. Jetzt mußte er den Gang betreten haben, jetzt die Treppe ersteigen, jetzt zögerte er wohl im ersten Stock, welche der Türen er zuerst öffnen solle – außer, der Weg fand sich durch Blutspuren bezeichnet, die er – Coche – des Nachts nicht bemerkt hatte. Bei dieser Möglichkeit fühlte Coche sogar einen aufrichtigen Schrecken: Wenn die Mörder im Stiegenhause Spuren hinterlassen hätten, an deren mögliches Vorhandensein er gar nicht gedacht hatte, dann waren ja seine Bemühungen vergeblich. – Doch rasch schob er diesen Gedanken wieder beiseite. Denn, wenn dies der Fall gewesen wäre, dann hätte die Kommission ohne Aufenthalt geradeswegs in das Mordzimmer treten müssen und man hätte oben ihre Stimmen schon längst gehört. Nein, nein, seine Furcht war sicher unbegründet. Dort drinnen, im Dunkel hinter den zugezogenen Vorhängen, ging man nur tastend, Schritt für Schritt, weiter … Und während seine erregten Nerven ihm sein eigenes, zögerndes Vorwärtstappen auf dem gleichen Wege, auf dem seine Gedanken den Kommissär jetzt begleiteten, in die Erinnerung zurückriefen, fühlte er in Mund und Nase wieder den quälenden Eindruck jenes blutüberströmten Zimmers, den säuerlichen Geruch, der halb mit Rotwein gefüllten Gläser auf dem Tische, das große, gähnende Loch in dem zerschmetterten Spiegel stand ihm wieder vor Augen, der grauenhafte Anblick des über das Bett geworfenen Körpers mit den weit aufgerissenen, starren Augen.

Niemals vorher hatte er so heftige, innere Erregung gefühlt, wie in diesen wenigen Minuten des Wartens.

Plötzlich entstand Bewegung in der inzwischen recht angewachsenen Menge vor dem Hause, und atemloses Schweigen, das jetzt dem Stimmengewirr folgte, zeigte die Spannung der Wartenden. In diese Stille klang das Aufstoßen der Läden eines Fensters oben im ersten Stock, man sah für einen Augenblick den Kopf eines Polizisten erscheinen und wieder verschwinden, man hörte, wie das Fenster wieder geschlossen wurde.

Coche blickte auf seine Uhr. Es war drei Minuten nach neun. Jetzt, in diesem Augenblicke, wußte die Polizei einen Teil von dem, was ihm selbst schon seit ein Uhr nachts bekannt war. Sein Vorsprung waren genau acht Stunden, und er mußte trachten, nichts davon zu verlieren, wenn es auch jetzt vor allem notwendig war, über den ersten Eindruck, den der Polizeikommissär gewonnen hatte, Klarheit zu erhalten. Dieser erste Eindruck, der zumeist ein falscher ist, beeinflußt trotzdem in höchstem Maße den Gang der Untersuchung. Der schlechte Kriminalist folgt blindlings der ersten Spur, die er zu erkennen glaubt, und nur ein Wunsch beseelt ihn: rasch zu arbeiten. Der gewiegte Spürhund aber, der sich niemals aus seiner Ruhe bringen läßt, geht bedächtig schrittweise vor und weiß, daß die Zeit, die er methodisch verwendet, niemals verloren ist und daß jede, auch die logischeste Theorie, geringeren Wert besitzt, als selbst die allerkleinsten Spuren, die am Tatort immer zu entdecken sind, wenn ein geübtes Auge nach ihnen sucht.

Die Neugierigen vor dem Hause hatten sich indes derart vermehrt, daß es notwendig geworden war, durch eine Kette von Polizisten die Menge zurückzudrängen und in dem leeren Halbkreise vor dem Gartentore stand nur noch Coche in lebhafter Unterhaltung mit einigen anderen, hastig herbeigeeilten Journalisten. Der Vertreter eines Abendblattes, ein lebhaft gestikulierender Südländer, beklagte sich laut darüber, daß man die Reporter hier draußen stehen lasse, ohne ihnen Informationen zu geben. Jetzt war es schon nahe an zehn Uhr, und bis Mittag mußte er doch seinen Bericht fertig haben! – Coche, dessen Blatt als erstes und einziges die Nachricht gebracht hatte, wurde mit Fragen bestürmt. Doch diesmal vergebens. Seine gewohnte Redseligkeit war auffallender Zurückhaltung gewichen.

Die Zeit verging und noch immer regte sich nichts in dem Hause, vor dem sie standen, und keiner der eingetretenen Beamten kam heraus. Einer der Journalisten äußerte schließlich einen unbezähmbaren Wunsch nach Alkohol und meinte, man könnte ebensogut in einem Kaffeehause in der Nähe warten. Wo aber sollte man in diesem gottverlassenen Viertel eines finden?

»Bloß fünf Minuten von hier,« beantwortete einer der Umstehenden die laut gestellte Frage. »Wenn Sie den Boulevard entlanggehen, dann die Avenue Henri Martin, so finden Sie das Kaffeehaus am Trocaderoplatz.«

»Ausgezeichnet,« rief der durstige Journalist, »kommen Sie mit, Coche?«

»Oh, ich – nein, ich kann noch nicht, ich bleibe noch. Aber geht ihr nur voraus, sobald etwas los ist, benachrichtige ich euch.«

»Einverstanden, auf Wiedersehen.«

Coche sah seine Kollegen abziehen und fand sich wieder allein. Es war eine Erleichterung für ihn, daß sie fortgingen, denn jetzt erst, in ihrer Gegenwart, hatte er die ganze Schwere seines Geheimnisses gefühlt. Unzähligemal hatte ihm ein verräterisches Wort auf der Zunge geschwebt und es hatte ihn die größte Ueberwindung gekostet, seinem Freund vom Abendblatt nichts zu verraten, obwohl er wußte, wie nötig der arme Bursche seine vier Centimes Zeilenhonorar brauchte, um die Schulden bei seinem Hauswirt zu bezahlen. Aber was half das? Er durfte sich doch nicht der Gefahr aussetzen, bloß aus dummem Mitleid, wegen einer sentimentalen Anwandlung, alles zu verderben! Später wollte er ihn schadlos halten.

Nach und nach fühlte Coche, wie dieses endlose Warten an seinen Nerven zerrte, denn obwohl er den Eindruck des Polizeikommissärs zu berechnen vermochte, war er doch ungeduldig, seine Feststellungen im einzelnen kennen zu lernen. Indessen bemühte er sich, aus den Gesprächen ringsum eine Andeutung über die Person des Ermordeten, seine Gewohnheiten, seinen Verkehr zu erlauschen. Denn Coche fand sich ja wahrlich in einer ganz seltsamen Situation. Er kannte besser als jeder Andere die Umstände dieses Verbrechens, und gerade das, was jeder beliebige Fernstehende zu wissen vermochte, war ihm unbekannt: Der Name des Ermordeten. Aus den Bruchstücken der Unterhaltung, die er auffing, erkannte er indeß, daß auch die anderen nicht viel mehr wußten als er. Nachbarn erzählten, daß der Greis selten ausgegangen war, nur eben, wenn er Einkäufe zu machen gehabt hatte. Manchesmal, an Sommerabenden, hatte man ihn in seinem Garten umhergehen sehen, niemals aber war ein Besuch bei ihm gewesen. Sein Haus bestellte er ganz allein und sein Leben war etwas geheimnisvoll gewesen, immer schon hatte man sich in der Gegend ein wenig den Kopf über ihn zerbrochen.

Gegen zwölf Uhr endlich erschien der Kommissär mit seinen Begleitern wieder im Haustor. Die drei Männer blieben im Garten stehen, hoben die Augen zu den Fenstern und gingen, immer in eifriger Unterhaltung, noch der Mauer des Hauses entlang. Dann durchquerten sie den Garten, und im Augenblicke, da der Polizeikommissär auf die Straße heraustrat, ging Coche auf ihn zu.

»Nun, Herr Kommissär?«

»Ihre Meldung stimmt.«

»Und jetzt, da Ihre ersten Erhebungen vorbei sind, wäre es jetzt möglich, sei es auch nur für einen Augenblick, einzutreten?«

»Das hätte wirklich gar keinen Zweck für Sie. Sie können mir's glauben. Ich habe keinen anderen Wunsch, als Ihre Bemühungen zu erleichtern, aber dort oben würden Sie nichts Besonderes sehen. Wenn Sie mich dagegen bis in meine Kanzlei begleiten wollen, so erzähle ich Ihnen gerne unterwegs, was ich gesehen habe … Ich kann hinzufügen, daß mein Urteil bereits feststeht, und daß die Sache, wie ich glaube, nicht allzu schwierig zu lösen sein wird …«

»Sie haben gewisse Anzeichen entdeckt, Spuren gefunden?«

»Herr Coche, fragen Sie mich nicht allzuviel … Und Sie, was taten Sie während der ganzen Zeit?«

»Ich … ich habe nachgedacht … habe herumgehorcht … habe mich umgesehen …«

»Und das ist alles?«

»Ja, beinahe …«

»Sie sehen also, wenn ich Ihnen nichts sagen wollte, wären Sie wegen Ihres morgigen Artikels in der größten Verlegenheit! Aber machen Sie sich keine Sorge, Sie werden mehr von mir hören als Sie brauchen, um zwei Spalten zu füllen.«

»Ich danke Ihnen, Herr Kommissär, und ich möchte nicht in Ihrer Schuld bleiben. – Wie ich Ihnen eben sagte, habe ich während der drei Stunden, die ich hier wartete, nachgedacht, gehorcht und mich umgesehen. Das Nachdenken – ich gestehe es offen – hat mir nicht viel eingetragen. Auch beim Herumhören vermochte ich keine besonders wertvollen Neuigkeiten zu erfahren. Aber, als ich Umschau hielt …! Sie ahnen gar nicht, wie ein so müßiges Warten alle Sinne schärft. Mein ganzer Verstand, mein ganzer Wille, alle meine Fähigkeiten arbeiteten ausschließlich in meinen Augen und da erblickten diese Augen etwas, dem Sie, wie ich vermute, nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkten, etwas, das vielleicht ganz belanglos ist, vielleicht aber auch von entscheidender Bedeutung sein kann, etwas, das man nur heute sehen kann, weil es zweifellos schon morgen … schon heute Abend … vielleicht schon in einer Stunde verschwunden sein wird …«

»Und das wäre?«

»Wenn Sie sich gefälligst umdrehen wollen, werden auch Sie es bemerken, nicht mehr so deutlich wie ich, denn seit einer Stunde beginnt es zu verschwimmen, doch immerhin noch klar genug, um zu bedauern, – davon bin ich überzeugt – nicht früher darauf geachtet zu haben. Es sind Fußabdrücke, die Sie dort am Rande des Rasens zu erkennen vermögen, jene kleinen Flecke, die sich dunkler gegen den Morgenreif ringsum abheben. Die Sonne hat diese Spuren schon ein wenig zu verwischen begonnen, vor kurzer Zeit noch waren sie von außerordentlicher Deutlichkeit.«

»Sehen wir uns das aus der Nähe an!« rief lebhaft der Kommissär, während er in den Garten zurückkehrte. Coche folgte ihm diesmal. Als er seine Füße auf den Sand des Gartenweges setzte, fühlte er eine unbeschreibliche Erregung, in der Furcht und Stolz sich mischten, und unwillkürlich verglich er die Fußspur am Rasen mit dem frischen Abdruck seiner Schritte im Sande. Indessen war zwischen dem langen, schmalen Abdruck seiner Abendschuhe, die er gestern nachts getragen hatte, und den breiten, derbsohligen, amerikanischen Schuhen, die er jetzt anhatte, nicht die geringste Aehnlichkeit.

Tief über den Rasen geneigt, prüfte der Polizeikommissär die Fußspuren. Die Wolken hatten sich indeß verzogen, die Sonne stand schon hoch am Himmel und ihre Strahlen verwandelten den nächtlichen Frost des Gartens in eine glitzernde Fläche, die in kurzem ganz aufgetaut sein mußte.

»Ein Meßband, einen Bleistift, schnell,« befahl der Kommissär, indem er, ohne sich aufzurichten, ungeduldig die Hand ausstreckte.

Sein Sekretär sprang mit einem Bleistift herbei, aber Meßband hatte er keines. Der Polizeikommissär rief erregt:

»Lassen Sie sofort eines holen – Herr Coche, Sie haben doch natürlich einen Photographieapparat – Würden Sie wohl so gut sein, eine Aufnahme dieses Abdruckes für mich zu machen?«

»Mit Vergnügen, aber die Photographie gibt Ihnen ja nur ein sehr mangelhaftes, viel zu kleines Bild, ohne jede Vergleichsmöglichkeit mit der Umgebung. Und überhaupt sind Aufnahmen in der Horizontallage immer verzerrt und unbrauchbar. Man müßte besondere Apparate mit einem komplizierten Linsensystem zur Verfügung haben … Abgesehen davon, fürchte ich, daß Sie schon zu spät gekommen sind. Die Sonne taut den ganzen Boden auf und meine Fußspur« – er stockte, jedoch fast unmerklich, da ihm dieses Wort entschlüpft war, und verbesserte sich sofort – »die Fußspur, die ich beobachtet hatte, wird immer undeutlicher … ihre Ränder fallen ein, verschwinden … in einer Minute wird nichts mehr zu sehen sein. Jetzt erkennt man schon den Absatz kaum mehr … auch die Sohle verwischt sich, beginnt zu schmelzen … nichts mehr zu sehen! – Wie schade, daß Sie nicht einige Augenblicke früher herauskamen!«

Ganz im Innern aber fühlte Coche eine aufrichtige und nicht geringe Erleichterung. Während der letzten Augenblicke hatte er das unbehagliche Gefühl gehabt, – natürlich war es bloße Einbildung seiner überreizten Nerven – daß die drei Männer ihn mißtrauisch von der Seite anblickten, als hätten sie unter seinen derben Schuhen den schmalen, kleinen Fuß erraten, der wohl fähig sein mochte, im nächtlichen Reif jene Spuren zu hinterlassen, die die Sonnenstrahlen eben ausgelöscht hatten. Allerdings war es sein Ziel, den Verdacht auf sich zu lenken und die eigene Verhaftung herbeizuführen, aber je näher dieses Ziel kam, desto heftiger erhob sich, unbewußt, ja gegen seinen Willen, in seinem Innern ein Widerstand gegen seine eigenen Pläne.

Die Justiz erschien ihm jetzt wie eine furchtbare Gewalt, wie ein Meeresungeheuer mit hundert Armen, die nach ihrem Opfer greifen und die gefaßte Beute nicht gutwillig wieder auslassen. Ohne sein inneres Zurückweichen einzugestehen, begründete er es damit vor sich selbst, daß sein Erfolg davon abhänge, noch freier Herr seiner Entschließungen zu bleiben und selbst den richtigen Augenblick zu bestimmen, in dem später seine Festnahme erfolgen sollte. Um den Betrieb der Polizei richtig kennen zu lernen und kritisieren zu können, mußte er auch Zeit haben, ihr Spiel zu beobachten, ja, fast den Lauf ihres Räderwerkes zu bestimmen, nach seinem Belieben zu verzögern oder zu beschleunigen! Darum widersprach er auch weiter nicht, als der Kommissär, um seine Enttäuschung zu bemänteln, jetzt vor sich hinmurmelte: »Schließlich kann ja dieser Abdruck ebensogut auch von einem von uns hergerührt haben. Mein Sekretär, der links von mir gegangen ist, konnte denn der nicht mit einem Fuß den Rasen betreten?«

Coche nickte wohl zustimmend mit dem Kopfe, doch nach einer Weile erwiderte er absichtlich zögernd, als ob er selbst dessen nicht ganz gewiß wäre:

»Soweit ich mich zu erinnern glaube, scheint es mir fast, daß keiner von Ihren Herren außerhalb des Weges ging. Während Sie dem Hause zuschritten, folgte ich Ihnen mit den Augen, und ich glaube doch, mich nicht zu täuschen … Allerdings, sicher weiß ich nur eines, daß dieser Schuhabdruck vollkommen deutlich sichtbar war, als ich ihn das erste Mal bemerkte – schwören aber könnte ich nicht darauf, daß er schon dagewesen ist, bevor Sie den Garten betraten. – Ich glaube, am besten ist, man erwähnt die Geschichte weiter gar nicht.«

Dieser letzte Satz beruhigte den Kommissär vollends. Der Vorwurf wäre ihm recht peinlich gewesen, daß ein Journalist sich scharfblickender erwiesen habe als er selbst. Man hätte ihm diese Unterlassung an höherer Stelle übel vermerkt, und dankbar dafür, daß Coche seine Gedanken erraten hatte und seinem Wunsche zuvorgekommen war, sprach er in beinahe herzlichem Ton zu ihm:

»Steigen Sie mit mir in den Wagen, begleiten Sie mich zum Kommissariat, unterwegs werde ich genügend Zeit haben, Ihnen einige Winke zu geben.«

»Ich würde doch vorziehen,« entgegnete Coche, da er ihn nun ein wenig von sich abhängig fühlte, »sei es auch nur für eine Minute, mit Ihnen den Tatort zu besichtigen. – Sicherlich sind die Mitteilungen, die Sie mir machen können, von allergrößtem Werte für mich, doch wenn einer meiner Kollegen in einer Stunde bei Ihnen vorsprechen würde, könnten Sie sich kaum weigern, ihm die gleichen Auskünfte wie mir zu geben. – Jetzt aber, sehen Sie, bin ich hier der einzige Journalist. Die anderen haben die Geduld verloren, sind fortgegangen, und wenn Sie meinem Wunsche entsprechen, dann wird es Ihnen nicht schwer fallen, jenen, die sich etwa darüber beklagen sollten, nicht ebenso bevorzugt zu werden wie ich, zu erwidern: ›Ja, Sie hätten eben auch da sein müssen‹ – Sie können es gar nicht ermessen, welch anderen Eindruck man den Lesern von einer Sache, die man selbst gesehen hat, zu geben vermag. Selbst, wenn ich nur eine Sekunde die Leiche und ihre Umgebung besichtigen darf …«

»Wenn Ihnen gar so viel daran liegt, so mögen Sie denn mit hineinkommen. Wir werden zwar bloß einen Blick in das Zimmer werfen und uns nicht weiter aufhalten, aber zumindest werden Sie, wie Sie es wünschen, alles gesehen haben …«

»Ich verlange durchaus nicht mehr.«

Die kleine Gruppe trat in das Haus. Der Gang, in dem sich Coche des Nachts entlanggetappt hatte, und den er sich eng mit grauen Fliesen und weißgetünchten Mauern vorgestellt hatte, erwies sich als ein geräumiger, behaglicher Vorraum.

Der Boden bestand aus roten, polierten Fayenceplatten, die Mauer, in zartem Grün gehalten, war mit alten Stichen, Waffen und Tellern geziert und die Treppe, von der er geschworen hätte, daß sie aus wurmstichigem Holze gewesen sei, erwies sich als gediegene Eichenarbeit. Alles in diesem Hause machte einen heiteren, sauberen Eindruck.

Im ersten Stock angelangt, blickte er sich nur einen Augenblick um und trat dann unwillkürlich geradeswegs auf die Türe des Totenzimmers zu. Sofort bedauerte er diese unvorsichtige Handlung und erschreckt frug er sich: »Wäre mir an Stelle des Kommissärs dies aufgefallen?«

Doch er hatte nicht lange Zeit zum Ueberlegen. Die Tür wurde geöffnet, er machte einen Schritt in das Zimmer und blieb ergriffen auf der Schwelle stehen.

Diese Wiederkehr in den Raum, in dem er so entsetzensvolle Augenblicke erlebt hatte, war doppelt eindrucksvoll. Im Bruchteil einer Sekunde verwünschte er sowohl den tollen Plan der gestrigen Nacht, wie auch sein Verlangen, an diesen Ort des Schauderns zurückzukehren. Ohne daß er gewagt hätte, Umschau zu halten, entblößte er seinen Kopf.

Sonderbar, doch Tatsache war es, daß er, der sich gestern nicht gescheut hatte, in den verstreut umherliegenden Papieren zu wühlen, die blutgetränkten Wäschestücke und den Leichnam selbst zu berühren, – gestern, nachts, da jeder Augenblick eine Lebensgefahr bedeutete – jetzt, am hellen Tage, in Begleitung der Polizisten wie im Schüttelfrost zitterte und die gleiche unerklärliche, unbestimmbare und doch so unabweisliche Angst empfand, die ihm des Nachts auf dem einsamen Boulevard die Kehle zugeschnürt hatte.

»Geben Sie nur ja acht,« wies ihn der Kommissär an »nichts zu berühren und nichts zu verrücken, selbst diesen Glassplitter nicht, da, gerade unter ihrem Fuß … In einem solchen Falle darf nicht das Geringste vernachlässigt werden. Dort … da liegt ja auch etwas … ach, bloß ein zerbrochener Manchettenknopf … Der dürfte wohl kaum von Wichtigkeit sein – indes, man kann niemals wissen …«

Coche gehörte nicht zu jenen, die lange einen peinlichen Eindruck auf sich wirken lassen. Die jahrelange Gewohnheit, andere zu verblüffen, hatte ihn schließlich so weit gebracht, daß er auch sich selbst bluffte. Und die naive Bemerkung des Kommissärs brachte ihm vollends seine Absichten in Erinnerung und erfüllte ihn mit gewaltiger Befriedigung. Dieser Manchettenknopf – ohne Bedeutung …! – Bei sich überlegte er aber doch einen Augenblick, ob dieser Polizist nicht mit ihm sein Spiel treibe, ob er nicht vielleicht gerade einer der Fähigsten sei? Wenn er es inmitten dieser Unordnung verstanden hätte, Wahrheit und Fälschung zu unterscheiden? Wenn er in seiner ironischen Art Coche schon längst durchblickt hätte und sich bloß damit unterhalten wollte, ihn mit großer Mühe schlecht lügen zu sehen? …

Die Stimme des Kommissärs weckte Coche aus seinem Grübeln.

»Alles deutet auf einen kurzen, aber verzweifelten Kampf … Dieser zur Seite gestoßene Tisch, jener zerbrochene Stuhl, der zersplitterte Spiegel, der Körper, der auf das Bett hingeworfen ist … Betrachten Sie bloß das Gesicht! Niemals werden Sie in den Zügen eines Ermordeten größeres Entsetzen lesen. Der ganze Verlauf des Mordes spiegelt sich auf diesem Antlitz. Ich errate ihn aus den krampfhaft verzerrten Lippen, aus diesen weit aufgerissenen Augen, die in das Bett eingekrallten Finger klären mich auf … Ist dies nicht grauenhaft? – Ich bin sicher, daß auch Sie noch niemals Aehnliches zu sehen bekamen …«

»Doch,« Coche flüsterte fast, wie sich selbst auf diese Frage Antwort gebend, »ich sah einmal einen Ermordeten, der kaum seit einer Stunde – ja bloß seit einer halben Stunde tot war. Der Körper war noch nicht erkaltet und in den Augen lag, wie ein Abschiedsgruß an das Leben, noch ein Schimmer … Er lag gleich diesem ausgestreckt in einem Meer von Blut. Auch die Wunde war fast die gleiche … Und doch war etwas um ihn, düsterer als diese Leiche. Den da vermag ich ohne Furcht zu betrachten, als wäre es ein Kopf aus Wachs geformt. Es ist ein Toter, weiter nichts … Und dieses Zimmer gleicht zwanzig anderen Zimmern. – Aber, als ich vor dem Anderen stand … vor Jenem von damals … vor langer Zeit … da hatte ich das Gefühl, als ob etwas von dem Entsetzen, das er in den letzten Augenblicken seines Lebens erfahren haben mußte, noch in dem Körper, zwischen den Lippen, in den Augen haften würde. – Selbst das Haus … ein friedliches, heiteres Haus wie dieses hier, war von dem Mord erfüllt. Nach Blut rochen die Mauern, nach lebendem, heißem, dampfendem Blut, wie es durch die Rinnen der Schlachthäuser fließt … Morgen, vielleicht erst in wenigen Tagen werde ich diesen Armen hier vor uns vergessen haben … Das Bild jenes Anderen aber steht immer noch deutlich vor mir, und ich fühle, daß es niemals entschwinden wird.«

Er hatte mit mühsamer Stimme gesprochen, wie mit Anstrengung waren die Sätze über seine Lippen gekommen, erregt verkrampften sich seine Finger, ein wahrhaftes Grauen lag über ihm und gleichzeitig der wollüstige Taumel, sich am Rande des Abgrundes zu wissen und zu sich selbst ganz anders zu reden:

»Alle Worte, die ich jetzt hier äußere, haben nur für mich einen Sinn. Niemand anderer vermag meine Gedanken, in denen sich die ganze Wahrheit birgt, zu enträtseln. Ich halte mein Geheimnis wie einen gefangenen Vogel in meiner Hand, ich lockere meine Finger und fühle, wie er sich regt, bereit, mir zu entschlüpfen. Ich schließe meine Faust wieder, ich würge ihn, ich lasse ihn zu Atem kommen … Ein Wort nur brauchte ich zu sagen … nur eine Bewegung zu tun … nein … es wird nicht gesagt werden … sie wird nicht getan …«

»Das ist allerdings sonderbar …« meinte der Kommissär nachdenklich. »Ich bin doch gewiß an solche Anblicke gewöhnt und ich gestehe es offen, daß ich vor dieser Leiche ganz außerordentlich erregt stand … Und … das war in Paris, wo Sie jenen Toten sahen?«

»Nein, o nein – in der Provinz, vor langer Zeit. Es sind sicher schon zehn Jahre,« stammelte Coche. Er fühlte selbst, daß er seine Stimme nicht in der Gewalt hatte, daß sich die Lüge allzusehr verriet, und fügte rasch, um den Eindruck seines wunderlichen Berichtes abzuschwächen, hinzu:

»Ich war damals ganz jung beim Fach. Bei einem kleinen Lokalblatt in der Gegend von Lyon. Das Verbrechen – übrigens eine recht alltägliche Geschichte – machte nur in einem kleinen Umkreis Aufsehen. Ich glaube mich zu erinnern, daß die Pariser Zeitungen kaum eine Notiz darüber brachten.«

Diesmal – und er wußte bestimmt, daß es jetzt keine Täuschung sei – fühlte er deutlich die Augen der drei Männer fragend und verwundert auf sich ruhen. Sein Angstgefühl verstärkte sich dermaßen, daß er unwillkürlich einen Schritt zurückwich und sich mit der Hand an die Wand stützte, um sich Haltung zu geben.

»Ich denke,« meinte der Kommissär, »daß Sie jetzt genug gesehen haben, um Ihren Artikel zu schreiben. – Doch, zum Teufel, Sie sind ja ganz bleich … Sie, mit Ihren erstaunlichen Erinnerungen, sollten doch wirklich mehr aushalten …«

»Ja … ich fühle es … ich muß wirklich recht bleich sein … Es kam plötzlich so ein Schwindel über mich … Es geht schon vorüber …«

»Also gehen wir,« ordnete der Polizeikommissär an, und mit leiser Stimme zischelte er seinem Sekretär zu: »Einer wie der andere, diese verdammten Journalisten! Immer haben sie noch Aergeres gesehen und wenn's dazu kommt …«

Coche hörte wohl nicht, was gesprochen wurde, aber, da er den Polizeikommissar flüstern und nach ihm deuten sah, mußte er davon überzeugt sein, sich durch sein Erbleichen und durch die umständliche Erzählung, die niemand von ihm gefordert hatte, verraten zu haben.

»Schon!« dachte er. »Was bin ich doch für ein Idiot!«

Erst auf der Straße, als die frische Luft über seine Schläfen strich, fand er alle Kaltblütigkeit wieder, er lächelte über seine Nerven und als er im Fiaker saß, rief er:

»Tatsächlich, ich bin ganz außer Form. Entschuldigen Sie, bitte. Ich muß mich kläglich benommen haben … Unter aller Kritik …«

»Mein Gott … das ist Gewohnheitssache …«

Beide Männer schwiegen dann, jeder in seine Gedanken vertieft. Coche brannte wohl darauf, die Meinung des Kommissärs über das, was er gesehen hatte, zu erfahren, doch eine übertriebene Vorsicht warnte ihn davor, als Erster die Unterhaltung zu beginnen. Mit der Zeit schien ihm aber sein Schweigen doch wieder auffallend zu werden und so frug er:

»Nun, Herr Kommissär, und Ihre Ansicht über diese Sache? – Ist es wohl ein gemeines Verbrechen, das nur den Raub als Ursache hatte oder soll man nach tieferen Gründen forschen?«

»Wenn ich Ihnen mein Urteil sagen soll – ich weise den Diebstahl als Motiv zurück! Wohlverstanden, ich behaupte nicht, daß nicht gewisse Gegenstände, vermutlich auch solche von Wert, verschwunden wären, im Gegenteil, ich bin sogar davon überzeugt. Doch dies geschah nur, um einen Raubmord vorzutäuschen.«

»Sie meinen also …?«

»Ich meine, daß man den Versuch gemacht hat, uns irrezuführen.«

»Teufel,« dachte Coche, »sollte ich auf den leibhaftigen Herrn Lecoq gestoßen sein? Wenn das der Fall wäre, hätte ich wenig Glück gehabt,« und laut fügte er hinzu:

»Oho, das beginnt ja geradezu spannend zu werden. – Was mich betrifft, muß ich gestehen, daß nichts von alledem, was ich zu sehen vermochte, einen derartigen Verdacht in mir erwachen ließ. Nach Ihrer Theorie wird das Problem ein recht kompliziertes …«

»Für einen oberflächlichen Betrachter vielleicht. Für mich, der seit dreiundzwanzig Jahren mit solchen Dingen zu tun hat, kaum. – Wenn ich meinen Eindruck kurz zusammenfassen soll, möchte ich Folgendes sagen: Ein Mann, der mit den Gewohnheiten des Greises vollkommen vertraut war, ist in das Haus eingedrungen, um sich gewisser Papiere zu bemächtigen, von denen er sich entweder Nutzen verspricht oder die ihm in den Händen des anderen hätten schaden können …«

»Ach, nein,« entfuhr es Coche, der mit außerordentlicher Spannung zuhörte. »Papiere? … Ganz gewöhnliche Papiere? … Sie meinen? …«

»Ich bin davon überzeugt. Ich fand in einer der Laden einige hundert Briefe, offensichtlich durchwühlt und wahllos hineingestopft. Bestimmt hat nicht ihr Besitzer sie in dieser Weise verwahrt. Es muß der Mörder gewesen sein, der Grund hatte, nach bestimmten Schriftstücken zu suchen. Fand er das Gesuchte? Die Untersuchung wird uns über diesen Punkt gewiß Aufschluß geben … Fest steht ferner, daß der Mörder, um den Diebstahl als Motiv vorzutäuschen, einige Silbersachen mitnahm – eine Vitrine fand sich erbrochen – und auch den Inhalt der Brieftasche, die mein Sekretär leer hinter dem Bette fand. Es würde mich nicht wundern, wenn auch einige Schmuckstücke fehlten. Da in einer Stunde alle Juweliere von Paris und morgen die der ganzen Provinz es wissen werden, verrate ich Ihnen kein Geheimnis, wenn ich Ihnen anvertraue, daß ich einen Manschettenknopf mit einer zerbrochenen Kette am Boden fand, der zweifellos auch dem Opfer gehörte. – Schließlich – obgleich dies nur eine psychologische Folgerung ist, halte ich sie darum doch nicht für weniger beachtenswert – fiel mir in all der Verwüstung des Raumes doch eine gewisse Ordnung auf. Manche Anzeichen bestärken mich in der Ueberzeugung, daß der Verbrecher in den besseren Kreisen gesucht werden muß. Er ist ein Mann von seltener Kaltblütigkeit, der sich in jeder Situation vollkommen in der Hand behält und hat ganz allein, ohne Mithelfer, die Tat vollbracht … Ja, ich kann Ihnen noch sagen – doch nein, ich sagte schon zu viel …«

Coche hatte dem Polizeikommissär, ohne ihn zu unterbrechen, zugehört. Seine anfängliche Unruhe war schnell verflogen. Jetzt war er sicher, daß sein so kühn entworfener, so rasch ausgeführter Plan nicht mißlingen werde. Ja, mehr noch, die Art, wie er die Szene verändert hatte, führte die Polizei zu Folgerungen, an die er selbst nicht einmal gedacht hatte. Man hätte meinen können, daß der Polizeikommissär aus reiner Freude an der Sache alle Dinge unnötig kompliziere und statt aus den Tatsachen logisch seine Folgerungen abzuleiten, nur immer neue, eingebildete Schwierigkeiten sah. Von einer falschen Fährte ausgegangen, versuchte er gewaltsam die widersprechenden Indizien seiner unrichtigen Theorie anzupassen. Mit dem ersten Schritt, ohne nur einen Augenblick zu zögern, blind und taub für alle die vielen Gegenbeweise, war die Polizei in die Falle getappt, die Coche ihr gestellt hatte. Man durchschaute nicht bloß seine plumpe Täuschung nicht, man erklärte einfach alles, was zu der vorgefaßten Meinung nicht passen wollte, für geringfügige Nebensächlichkeiten. –

Der Wagen hielt vor dem Kommissariat. Coche sprang als erster heraus und stampfte mit den Füßen auf den Boden, um seine steif gewordenen Beine zu erwärmen. Er war in allerbester Laune. Verliefen doch die Ereignisse noch viel günstiger, als er jemals zu hoffen gewagt hätte. Er dankte dem Kommissär, indem er mit einem Doppelsinn, dessen Ironie nur ihm selbst verständlich war, hinzufügte:

»... Was Sie mir anvertraut haben, befriedigt mich wirklich ganz außerordentlich. Ich stehe Ihnen in jeder Weise zur Verfügung, wenn Sie glauben, daß ich Ihnen irgendwie nützen kann …«

»Ich sage nicht nein … vielleicht ergibt sich die Gelegenheit …«

»Und noch ein Wort, Sie werden die Fußabdrücke, auf die ich Sie im Garten aufmerksam machte, in Ihrem Protokoll nicht erwähnen?«

»Mein Gott, nein – da ich sie doch kaum gesehen habe …«

»Sehr richtig … Auch ich will nichts darüber schreiben. – Also, auf Wiedersehen, Herr Kommissär und nochmals vielen Dank.«

»Keine Ursache – auf Wiedersehen!«

»Und jetzt,« sprach Coche zu sich, »sollst du mich kennen lernen!«


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