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IV.

Als Coche das Kaffeehaus am Trocaderoplatz betrat, rief der Reporter des Abendblattes eben mit seiner Stentorstimme: »Kein Stich mehr!« und breitete mit geübter Bewegung die Karten offen auf den Tisch, indem er triumphierend seine Mitspieler frug: »Ihr legt doch keinen Wert darauf, die Partie zu Ende zu spielen?« Als er die Karten von neuem zu mischen begann, erblickte er Coche und rief ihm schon von weitem zu: »Was Neues?«

»Eine ganze Menge,« entgegnete Coche herantretend. »Nehmt Papier und Bleistift heraus, und schreibt, was ich euch diktieren will. Jeder mag es dann nach seiner Art ausschmücken. – Ich habe eingehend mit dem Polizeikommissär gesprochen, er hat mir alle Informationen gegeben, die ich gebraucht habe – bis auf eine, nach der ich ihn ganz zu fragen vergaß: den Namen des Ermordeten.«

»Das macht nichts, damit können wir aushelfen. Es war ein gewisser Forget, ein kleiner Rentier, der seit drei Jahren da wohnte. Um Genaueres über ihn zu erfahren, brauchen wir ja nur irgendeinen Beamten des Polizeikommissariats zu fragen.«

»Sehr gut. Also, dann beginn' ich.«

Und er diktierte fast wörtlich alles, was der Polizeikommissär ihm gesagt hatte, wobei er die kleinsten Einzelheiten nicht vergaß, den Tonfall der Stimme hervorhob und eingehend die Theorie der Polizei darlegte. Indessen hütete er sich, seinen Besuch im Hause selbst zu erwähnen, auch die Fußspuren im Garten behielt er für sich und seine Zweifel an der Richtigkeit der amtlichen Folgerungen teilte er seinen Kollegen ebensowenig mit. Das waren Dinge, die nur ihm, ihm allein gehörten! Uebrigens wären sie auch für jeden anderen, der nicht wie Coche die wahren Zusammenhänge kannte, recht wertlos gewesen.

Während seine Freunde eifrig schrieben, ließ er den Blick zerstreut durch den Saal gleiten und mit einem Male bemerkte er, daß dies dasselbe Kaffeehaus war, aus dem er gestern nachts seine Redaktion angerufen hatte und durch ein seltsames Spiel des Zufalls saß er ganz auf dem gleichen Platze, auf dem er zwölf Stunden zuvor seinen Kognak getrunken hatte. Er dachte zuerst daran, sein Gesicht zu verbergen, um nicht erkannt zu werden, doch niemand achtete auf ihn. Die Kassiererin war ganz damit beschäftigt, ihre kleinen Untertassen mit Zucker zu ordnen, die Kellner hatten um diese Tageszeit vollauf zu tun und der Besitzer, der neben dem Kamin lehnte, war in seine Zeitung vertieft.

So vollendete Coche ruhig seinen Bericht, beantwortete mit der größten Bereitwilligkeit alle weiteren Fragen, die man ihm noch stellte und freute sich an dem doppelt erhebenden Gefühl, seinen Kollegen alle Mühe abgenommen zu haben und doch die große Sensation dieses Falles für sich allein zu behalten.

Schließlich verließen sie alle das Kaffeehaus und eilten in verschiedene Richtungen auseinander. Der Journalist des Abendblattes hastete zur Untergrundbahn, manche nahmen Wagen, um in die Stadt zu fahren, Coche schützte noch andere Wege vor, die er in der Gegend zu machen hätte und verabschiedete sich von den übrigen, um zu Fuß, ganz gemächlich davonzugehen. Er war glücklich, endlich allein zu sein, ungestört sein weiteres Verhalten überdenken zu können, ohne unentwegt auf seine Haltung und Miene und auf die Worte, die nicht gesprochen werden durften, achten zu müssen.

Er speiste in einem der Restaurants des Viertels, durchflog die Zeitungen, ging wieder über den Boulevard Lannes und machte, von einem plötzlichen Bedürfnis nach körperlicher Tätigkeit getrieben, über dessen Ursache er sich zunächst nicht recht klar wurde, einen weiten Umweg den Festungsgürtel entlang. Der Gedanke störte ihn nicht wenig, daß die wahren Verbrecher, um die sich doch niemand kümmerte, jetzt vermutlich viel ruhiger sein mochten als er selbst.

Ueber seine eigene Stellung in der Gesellschaft war er sich nicht völlig klar. Die moralische Verkleidung, die er angelegt hatte, störte ihn nicht sonderlich. Denn sein Entschluß, alle Verdachtsmomente auf sich zu lenken, war so unverrückbar, daß er selbst sich schon fast schuldig zu fühlen begann.

Und war er es nicht auch wirklich? Ohne sein Dazwischentreten wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Vielleicht wäre man den wahren Mördern schon auf der Spur … Ja, wenn er gesprochen hätte …

Angesichts des stumm anklagenden Toten war er schon auf dem besten Wege gewesen, alles zu enthüllen und nur der Gedanke an seine Hoffnungen, die mit einem solchen Geständnisse zunichte geworden wären, hatte ihn im letzten Augenblick diese Regung unterdrücken lassen. Jetzt aber fühlte er diese Unterlassung als furchtbare Last. War er durch sein Verhalten nicht gewissermaßen Komplize der Verbrecher geworden? Eines Tages, vielleicht schon morgen, würde er dies vor den Richtern zu verantworten haben. – Doch was winkte ihm andererseits für ein Erfolg! Was standen ihm für Einblicke bevor, was für beißende Artikel sollten seinen Namen berühmt machen! Die einzigen Verbrechen, die sein Gewissen hätten belasten können, waren doch nur Verbrechen gegen die Mitmenschen; gegen Gesetze und Einrichtungen, die doch alles in allem nur erstarrte Vorurteile bildeten, zu sündigen, konnte ihn wahrlich nicht anfechten! Eine Geldstrafe oder einige Wochen Arrest wegen Irreführung der Behörden, dies würde ihm in seiner eigenen Achtung und auch in der seiner Mitmenschen nicht schaden. Die volle Wahrheit der von ihm beobachteten Zusammenhänge zu enthüllen, blieb ihm immer noch Zeit genug, denn schließlich war er für den Tod des armen Alten ja nicht im mindesten verantwortlich, denn der war ja schon eingetreten gewesen, ehe er das Zimmer betrat. Und wer weiß, ob die kleine Verzögerung, die der Lauf der Gerechtigkeit durch ihn erlitt, der Allgemeinheit nicht als eine jener guten Lehren zum Vorteil gereichen würde, die die Menschen nachdenklicher, die Gesetze weiser und den ganzen Mechanismus der Bureaukratie einsichtsvoller machen …

Bei Einbruch der Nacht fand er sich endlich vor seinem Wohnhause. Der Hausbesorger hielt ihn auf, um ihm zu berichten, daß man schon zweimal vom Tageblatt nach ihm geschickt und daß ein Herr, der seinen Namen nicht hatte nennen wollen, nach ihm gefragt habe. An jedem anderen Tage hätte Coche dies gleichmütig mit dem Gedanken zur Kenntnis genommen, daß dieser Unbekannte wohl nochmals vorsprechen würde. Diesmal aber ließ er sich eine genaue Beschreibung des Besuchers geben und grübelte lange darüber nach, wer es wohl gewesen sein mochte. Da es schon sieben Uhr abends geworden war, nahm er sich nicht mehr die Zeit, bis zu seiner Wohnung emporzusteigen und schlug sogleich den Weg nach der Redaktion ein.

Mit Ungeduld wurde er dort erwartet. Kaum hatte der Nachtredakteur ihn erblickt, als er ihn sehen mit Tragen und Vorwürfen zu überschütten begann.

Wahrlich, sein Benehmen in den letzten vierundzwanzig Stunden sei beispiellos! Man bekam ihn nicht mehr zu Gesicht, man mußte in ganz Paris unaufhörlich nach ihm suchen, nachts, da der telephonische Bericht eingelaufen sei, war er unauffindbar gewesen und heute, da man fieberhaft auf seine Ermittelungen warte, sei er seit acht Uhr morgens einfach verschwunden! Er allein trage die Schuld, wenn das Tageblatt aller Vorteile dieser sensationellen Meldung verlustig gegangen sei! Jetzt natürlich seien alle anderen Zeitungen schon ebenso gut, wenn nicht besser unterrichtet, ja, die Abendblätter hätten sogar schon spaltenlange Artikel über das Verbrechen vom Boulevard Lannes gebracht. –

Avyot schwenkte eine dieser Abendausgaben vor Coches Augen und schrie in höchster Erbitterung:

»Da, lesen Sie das Interview mit dem Polizeikommissär und kommen Sie mir nur nicht damit, daß es unmöglich gewesen sei, Informationen zu beschaffen! Dieser Artikel hier muß spätestens um ein Uhr geschrieben worden sein. Sie natürlich wußten um ein Uhr überhaupt noch nichts! Sie haben sich in einem für unser Blatt ganz besonders wichtigen Falle als vollkommen unbrauchbar erwiesen. Ich werde mir den Burschen kommen lassen, der diesen Artikel schrieb, um die Sache ihm zu übergeben …«

Coche ließ das Unwetter austoben und erst als der Redakteur, um Atem zu schöpfen, eine Pause machen mußte, warf er ganz unberührt ein:

»Gestatten Sie einen Augenblick? – Sie sagten, daß dieser Artikel um ein Uhr geschrieben wurde?«

»Jawohl, das sagte ich. Längstens kann es eine Viertelstunde nach eins gewesen sein!«

»Sie irren. Dieser Artikel ist sicher schon um halb eins geschrieben worden …«

»Eine halbe Stunde früher oder später, das ist doch jetzt wirklich nicht von Wichtigkeit!«

»Verzeihen Sie, aber das ist sogar von außerordentlicher …«

»Wie wollen Sie das überhaupt so genau wissen, um welche Stunde Ihr Kollege seinen Bericht geschrieben hat?«

»Weil ich selbst ihm diesen Bericht diktierte – ihm und vier anderen Kollegen, deren Artikel in den Morgenausgaben erscheinen werden.«

»Also, da hört sich … Das schlägt dem Faß den Boden aus! Sie also hatten die Unterredung mit dem Polizeikommissär und nur, um uns einen Streich zu spielen und um sich Liebkind bei den Kollegen zu machen, hatten Sie nichts Besseres zu tun, als die anderen Blätter damit zu versorgen? Das, was nur uns allein zugekommen wäre, bringt also morgen die ganze Pariser Presse! – Das geht wahrlich zu weit.«

»Die ganze Presse wird es leider nicht bringen und das bedaure ich sehr … Nur fünf Zeitungen werden es sein und nicht einmal die bedeutendsten …«

»Hören Sie an. Coche. Es ist ganz und gar zwecklos, eine derartige Diskussion fortzuführen. Sie scheinen Ihre Sinne nicht ganz beisammen zu haben. Und andererseits ist es mir nicht länger möglich, mit einem Manne zusammen zu arbeiten, der sich in einer Angelegenheit, die alle Geisteskräfte erfordert, so unverläßlich benimmt. – Ob die Geschichte mit dem Interview, das Sie gehabt und den anderen Blättern ausgeliefert haben wollen, wahr ist, ob sie falsch ist, ich will es nicht mehr wissen. Ich habe schon, bevor Sie endlich herkamen, alles Erforderliche veranlaßt. Sie können an der Kasse drei Monatsbezüge beheben, wir verzichten auf Ihre weiteren Dienste.«

»Mit dieser Mitteilung machen Sie mir eine außerordentliche Freude, Herr Avyot. Mein Vorsatz war Ihnen anzukündigen, daß ich gerne wieder meine volle Freiheit zurückgewinnen möchte. Sie erfüllen meinen Wunsch, ohne daß ich darum bitten muß und Sie fügen sogar noch eine großmütige Abfindung hinzu. Dies alles hatte ich kaum erhofft … Ja, es ist wahr, daß ich mich nicht ganz wohl fühle. Ich bin müde, überarbeitet, ich brauche Erholung und Ruhe … Später, wenn meine Kräfte wieder hergestellt sein werden, melde ich mich wieder bei Ihnen … Jetzt, für den Augenblick will ich verreisen. Wohin, weiß ich wohl noch nicht, aber die Luft von Paris tut mir nicht mehr gut …«

»Das nenne ich aber einen recht plötzlichen Entschluß!« lenkte jetzt der Redakteur mißtrauisch geworden und überrascht ein. »Gestern noch fühlten Sie sich ausgezeichnet und heute behagt Ihnen die Pariser Luft nicht mehr … Was ich Ihnen vorhin sagte, war ja nicht ganz so unwiderruflich … Sie müssen doch nicht gleich den Gekränkten spielen und, um mich zu übertrumpfen, antworten, daß Sie selbst schon die Absicht hatten uns zu verlassen … Vergessen wir, was ich sagte und was Sie erwiderten und gehen Sie rasch in Ihr Zimmer, um Ihren Bericht niederzuschreiben … Ich kenne Sie doch jetzt schon lange genug und weiß ganz genau, daß Sie uns Einiges zu erzählen haben werden. Daß Sie sicher ebensogut, wenn nicht besser unterrichtet sind, als irgendein anderer … Also, lieber Freund, abgemacht und an die Arbeit!«

Coche aber schüttelte den Kopf.

»Nein, nein. Ich gehe fort, es muß sein … es geht nicht anders.«

»Sollten Sie vielleicht die Absicht haben uns im Stiche zu lassen, um für ein anderes Blatt zu arbeiten? Könnten Sie uns jetzt im Stiche lassen, da wir in eine so sensationelle Sache gestellt sind? – Wenn Sie eine Gehaltserhöhung haben wollen, so müssen Sie es doch nur sagen.«

»Herr Avyot, ich will keine Gehaltserhöhung und ich trete bei keiner anderen Zeitung ein … Ich wünsche nur ganz einfach – ob für den Augenblick oder für immer, das steht noch nicht fest, darüber können allein die Ereignisse entscheiden – meine volle Freiheit wieder zu haben …«

Und mit einer Stimme, die ein wenig zitterte, fuhr er etwas leiser fort:

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich nichts beabsichtige, was den Interessen unserer Zeitung im geringsten schaden könnte. Und ich versichere Ihnen, daß mein Entschluß mit keinem derartigen Hintergedanken zusammenhängt wie Sie ihn vermuten. – Trennen wir uns deshalb als gute Freunde. Wollen Sie? – Und nur noch eine Bitte. Da ich vollkommene Ruhe nötig habe und da ich abseits von dem lärmenden Paris Erholung finden will, ohne all den Fragen Gleichgültiger oder der Teilnahme von Freunden ausgesetzt zu sein, da es mir aber andererseits auch nicht passen würde, wenn man meine Abreise als eine Flucht auslegen könnte, so behalten Sie, bitte, die Briefe, die für mich hierher kommen sollten, bei sich. Lassen Sie sie nicht in meinem Fache draußen liegen, da man sich darüber wundern könnte, daß ich keine Adresse angegeben habe, an die man sie mir nachschicken könnte. Bei meiner Rückkehr hole ich dann alles von Ihnen ab.«

»Ihr Entschluß ist unwiderruflich?«

»Unwiderruflich.«

»Ich will, wie Sie es wünschen, nicht fragen, wo Sie hinreisen, aber eines könnten Sie mir doch immerhin sagen: Wann wollen Sie Paris verlassen?«

»Noch heute Abend.«

»Und wie lange gedenken Sie wegzubleiben?«

Coche machte eine ungewisse Handbewegung.

»Ich weiß es nicht …«

Nachdem er sich mit einem Händedruck vom Redakteur verabschiedet hatte, verließ er ihn. Im Gewimmel der Straße, durch das er so rasch als möglich seinen Weg suchte, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus. Wie eine Eingebung war der Entschluß für seinen weiteren Schlachtenplan während der Unterredung in ihm gereift. Als er die Redaktion betreten hatte, war er noch erregt und sorgenbeschwert gewesen, denn seit der letzten Nacht hatten die Ereignisse sich ja wahrlich derart überstürzt, daß er gar nicht Zeit gefunden hatte, mit sich selbst über sein weiteres Vorgehen ins Reine zu kommen. Unverrückbar war einzig und allein das schließliche Ziel gewesen: möglichst unauffällig die Aufmerksamkeit der Polizei nach seiner Richtung zu lenken, sich als den möglicherweise Schuldigen zu benehmen und verhaftet zu werden.

Um nun diesen Plan durchführen zu können, brauchte er völlige Freiheit, nichts durfte ihn hindern unter Umständen alle seine Gewohnheiten, sein ganzes Leben ändern zu können. Als Mitarbeiter des »Tageblatt« hätte er das, was er wußte, niemals unter seinem Namen veröffentlichen dürfen, denn es wäre doch der Polizei unmöglich zuzumuten gewesen, in ihm den Schuldigen zu sehen, wenn er selbst als Einziger die Einzelheiten seines Verbrechens schilderte. Wie eine Erleuchtung hatte ihn die Kündigung des Redakteurs getroffen, die ihm den einzigen Weg wies, der ihm ungehinderte Handlungsfreiheit zu sichern vermochte. –

Er überlegte, ob er nach Hause gehen solle und entschloß sich, nicht mehr in seiner Wohnung zu erscheinen. Er hatte tausend Francs in der Tasche – die Abfertigung des Tageblatts – und dies war mehr als er, um eine Zeitlang zu leben, nötig gehabt hätte. Ein Zimmer in einem Vorstadtviertel, das Essen in kleinen Gasthäusern – dies alles ließ sich mit sehr geringen Mitteln bestreiten, so daß er in dieser Hinsicht vollkommen ruhig sein konnte. Und im Augenblicke, da ein Verdacht gegen ihn aufkommen würde, mußte seine plötzliche Abreise als Flucht gedeutet werden und die Folgerungen, die man nicht ermangeln würde, aus diesem seltsamen Zusammentreffen seiner Flucht und der Entdeckung des Mordes abzuleiten, mußten eine weitere starke Belastung seiner Person ergeben.

Gegen zehn Uhr abends dachte er daran, daß es jetzt an der Zeit sei eine Nachtherberge zu wählen. Montmartre kam ihm zuerst durch den Sinn. Was wäre auch naheliegender gewesen, als in diesem lärmenden Viertel unterzutauchen, in dem Künstler, Müßiggänger und lichtscheue Gesellen Tag und Nacht in ungeordnetem Leben unaufhörlich in Bewegung sind? Doch er mußte diesen Gedanken verwerfen, da die Gefahr, bei jedem Schritt Bekannte anzutreffen, allzugroß war. Dann erinnerte er sich an die Zeit, da er als junger Journalist das Quartier Latin bewohnt hatte, um die Studenten zu beobachten, in deren jedem er damals noch einen Helden von Murger vermutete. Die armselige Einrichtung seines Zimmers hatte nur aus einem Eisenbett, einem Tisch, der gleichzeitig zum Waschen und Schreiben diente und seinem großen Holzkoffer bestanden. Der Gedanke gefiel ihm, sich für einige Tage wieder in einen gleich trüben Winkel der Hauptstadt zurückzuziehen, wie jener es war, der ihn voll Illusionen und Begeisterung von der Eroberung der Welt hatte träumen sehen. Und überdies bot diese Gegend den Vorteil, nahe genug dem Zentrum zu sein, um rasch alles erfahren zu können, was sich zutrug und trotzdem genügend weitab zu liegen, daß niemand auf den Gedanken kommen würde, ihn dort zu suchen.

Zunächst betrat er nochmals ein Kaffeehaus, um mit einem Brötchen seinen Magen zu beruhigen und um die Abendblätter durchzusehen.

Sogar die hochgeachtete Temps widmete dem Verbrechen vom Boulevard Lannes mehr als hundert Zeilen! Und doch, wenn man es recht überlegte, war nichts an diesem alltäglichen Mord, das diese Aufmerksamkeit gerechtfertigt hätte. Wurden doch fast täglich in Paris ähnliche Verbrechen aufgedeckt und in wenigen Zeilen mit recht bescheidenen Ueberschriften abgetan. Bei diesem Verbrechen vom Boulevard Lannes aber war es geradezu sonderbar, daß es schon vom Beginn ab den ausgesprochenen Charakter einer Sensation annahm. Man hätte meinen können, daß ein wahrhaft staunenswerter Instinkt die Menschen ahnen ließ, daß sich Unvorhergesehenes, Ueberraschendes hinter dieser Tat verberge.

Mit der größten Aufmerksamkeit las Coche die Artikel, die sein Interview mit dem Polizeikommissär schilderten und lächelte, wenn er auf seine eigenen Redewendungen, die von ihm beigegebenen Bemerkungen und die Fragen, die er selbst seinen Kollegen gegenüber aufgeworfen hatte, stieß.

»Morgen,« sprach er vor sich hin, »will ich auf den Plan treten.«

In seinem kleinen Hotelzimmer blickte er eine Weile träumend aus dem Fenster und unzählige Erinnerungen an vergangene Zeiten zogen durch seinen Sinn. Fast bedauerte er, durch seine hochfliegenden Pläne die eintönige Ruhe, die er seit Monaten genossen hatte, verscherzt zu haben. Er erinnerte sich, eines Tages bei Beginn eines Vortrages, zu dem er sich nicht recht vorbereitet hatte, ganz ähnliche Gedanken gehabt zu haben. So wie heute, sagte er sich damals, während er sich vor dem grünbespannten Tische und der Lampe niederließ:

»Was ist dir nur eingefallen, dich auf ein solches Abenteuer einzulassen! Wie überflüssig war es, sich diesem Herzklopfen, dieser Angst auszusetzen. Jetzt könntest du so gemächlich auf dem Divan in deinem Zimmer lesen, statt hier das Publikum und die Kritik herauszufordern …«

Doch bald verwarf er diese sentimentalen Einfälle.

Er ließ den Vorhang sinken, kehrte dem Fenster den Rücken und betrachtete die Flammen des Kamins und das Zucken von Licht und Schatten, das sie auf die Wände warfen. Die wohltuende Wärme des Feuers versetzte ihn in behagliche Stimmung. Losgelöst von allen seinen Verbindungen, unbekannt, wie ein Fremder, fand er sich hier in diesem Pariser Viertel – ein solches Gefühl der Freiheit, der Ungebundenheit, hatte er schon lange nicht genossen. Er streifte seine Träume von sich und ruhig, methodisch begann er seine Lage zu überdenken.

Die ganzen Erlebnisse der letzten vierundzwanzig Stunden rief er sich mit allen Einzelheiten in sein Gedächtnis zurück, er las die Notizen durch, die er im Verlaufe dieser Zeit hastig aufgezeichnet hatte, zerriß die Papiere, die er in seinen Taschen trug und warf sie ins Feuer. Dann begann er sich zu entkleiden und als er im warmen Bett lag und die Nebel des Schlafes schon über seine Augen zu sinken begannen, war sein letzter Gedanke:

»Wer wird wohl heute Nacht besser schlafen: Die Täter, die von der Polizei noch nichts zu fürchten haben oder ich, der Unschuldige, der das Schlimmste erhofft …


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