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V.
Walter Calé

siehe Bildunterschrift

Walter Calé

Alle Schatten, die wir bisher riefen – mochten sie unter sich noch so verschieden sein – hatten Eines gemeinsam: Sie strebten aus der Enge in die Weite. Und löschten aus, als die Seele vom Denken oder vom Wollen verbraucht ward: erstarrt, erkaltet, leer und enttäuscht.

Aber Walter Calé, der am 6. Dezember 1881 als Sohn des 1893 verstorbenen Kaufmanns Martin Calé in Berlin geboren wurde und am 3. November 1904, also kaum 23 Jahre alt, in Berlin freiwillig aus dem Leben schied, hat auch nicht einen Zug gemeinsam mit dem tragischen Selbsthasserreigen gequälter Logiker und enttäuschter Moralisten.

Sein Leben war kein Verarmen, war überreiches Erfüllen. Nie strebte er ins Weite, sondern zog sich – ohne den Wunsch, von der Welt gekannt zu sein – tief in sich selber zurück. Ein schön vollendeter, gesegneter, souveräner Mensch. Aber scheu wie eine Mimose und für die Welt zu zart.

Es gibt kein rührenderes Frauentum als das der ganz jungen jüdischen Mädchen, aus deren allzu kurzer Holdheit zwischen dem vierzehnten und achtzehnten Jahre noch einmal hervorblickt der Traumreigen unserer Urmütter. Rahel und Lea, Judith und Deborah, Mirjam und Ruth.

»Schließe deine Augen, schöne Sarah«, sagt in Heines »Rabbi von Bacharach« der Liebende zur Geliebten, sobald ihnen Erniederndes begegnet. Denn die zarte Holdheit dieser Jugend wird befleckt schon durch ein Stäubchen Schmutz.

Schüchtern wie die ganz jungen Mädchen des Morgenlandes, aber dennoch fest und heil, ein Pfirsich mit einem Kern aus Eisen, ein Knabe wie Otto Braun, der Frühvollendete – das war Walter Calé 14.

14) Otto Braun war das einzige Kind des verdienten sozialistischen Politikers und Theoretikers Heinrich Braun und der bekannten sozialistischen Führerin Lily Braun, einer Tochter des preußischen Generals v. Kretschmar, durch ihre Großmutter Jenny v. Gutstedt mit dem Goethekreise verknüpft und napoleonischem Blute entstammt. Der junge Otto Braun, von Vaterseite jüdischer Abkunft, erschien mir wie ein Bote aus mehr als menschlicher Welt. Er erwuchs in dem später Maximilian Harden gehörenden Hause, und es dürfte der selbe Raum gewesen sein, in dem ich Harden zum letztenmal, den Knaben Otto Braun zum ersten Male gesehen habe. Seine hinterlassenen Papiere, von Julie Vogelstein herausgegeben, sind wohl das Erhabenste, was aus dem großen Kriege blieb. Dem Vaterlande wurde kein edleres Opfer gebracht. Wir möchten dem schönen Bilde die Grabschrift setzen, die Richard Wagner einem jung verstorbenen Freunde schrieb:

       »Reif sein zum Sterben, des Lebens langsam reifende Frucht,
       Frühreif sie erwerben in Schicksals jäh aufbäumender Wucht,
       War es dein Los? War es dein Wagen?
       Wir müssen dein Los wie dein Wagen beklagen.«

Und dennoch … Ich vermag nicht die Vorstellung zu bannen, daß dieses ganze grausige Opfer im Tiefsten nicht wirklich, daß diese rauhe Kriegertugend im Innersten nicht natürlich war. Dieser Vaterlands- und Heldentodsfuror war zwar keineswegs gleichartig jenen eklen Schaugerichten der »Zeitgemäßen«, welche heute noch munter leben (heute ebenso zeitgemäß »pazifistisch« wie damals zeitgemäß »patriotisch«). – Ich entsinne mich besonders der lyrischen Phrase: »Der Krieg muß durchgehalten werden als Krieg gegen Krieg.« – Ein »berühmter Romancier« schrieb an seinem Luxusschreibtisch das Folgende: »Möge doch dieser Krieg noch sieben Jahre dauern, wenn Deutschlands Heldengeist dadurch erhalten wird.« (Hinterher merzte er dergleichen Seelenekstase sorgfältig aus seinen »Gesammelten Werken«; die Seelenkonjunktur war inzwischen eine andere geworden) … Nein! Von dieser allgerühmten Welt der Erbärmlichkeit lebte Otto Braun weit entfernt. Er bezahlte ohne Feigheit sein Denken mit Leben und Blut. Und doch – welcher Unsinn! Eine Mutter, die ihr ganzes Leben lang in leidenschaftlichen Büchern für die »Erlösung der Bedrückten und Armen« geredet und gerasselt hat und der dann ein Genosse in Uniform die Grabrede spricht: »Sie war die Mutter eines Leutnants.«


Er saß an reichbestellter Tafel, er wuchs im fröhlichen Haus unter einer frohen Schar von Geschwistern, besuchte das Friedrich-Gymnasium, von den Lehrern geliebt und von den Mitschülern vergöttert. Kam, 17 Jahre alt, auf die Universität und wählte, um einen bequemen Lebenshintergrund zu haben, das Studium der Jurisprudenz, das er ohne Mühe hastlos und rastlos bewältigte.

Man hat ihn nie arbeiten, nie sich mühen gesehen. Er lernte nicht anders als wie man atmet. Wichtig für sein Leben erschienen ihm einzig die Feste mit Freunden und Freundinnen, Spaziergänge und Gespräche, Stunden, in denen sich gute Jugend einander erschließt und der Gedanke von Herz zu Herzen rankt.

Er ging wenig in Kollegs und las nicht viele, aber auserlesene Bücher; diese aber immer neu. Sein Wissen um die Welt nahm er vorweg und konnte mit zwanzig Jahren sagen:

»Was sich in Zeiten je begeben,
Hab ich vor aller Zeit gewußt.
Es springt der Quell von allem Leben
Geheimnisvoll aus meiner Brust.
Und als ich in der Schrift gelesen,
Erlas ich nur, was ich schon bin.
In Finsternis sind alle Wesen,
Doch ich das Licht und ich der Sinn.«

Ein schöner gesunder Jüngling steht vor uns, rank und schlank. Dunkel, träumerisch, versonnen. Unter seiner hohen Stirne liegen weiche Ehrfurchtsaugen, immer nach innen gekehrt. Die Nase ist groß und kühn. Üppig und wellig das seidenweiche, tief schwarze Haar; doch zeigen das trotzige Kinn und die herb verkniffenen Lippen eine wilde Energie.

Was fehlte ihm eigentlich? Er hatte alles, was der Mensch wünschen kann. Er genoß schöne Gewänder und gepflegte Formen. Sammelte Bronzen und Bilder und schöne seltene Bücher. Er sprach geläufig mehrere moderne Sprachen. Er beherrschte Altgriechisch und Latein. Manches hat er vollendet: ein schönes Werk über Plotin. Novellen aus der Schule seines geliebten Gottfried Keller. Gedichte nahe dem Tone Stefan Georges. Versdramen, die an den jungen Hofmannsthal erinnern. Doch tönte aus diesem allem eine eigene Musik, und es gelang ihm, die Schlichtheit des Volksliedes mit der reifen Kunst hoher Meister zu vereinen. Alles schuf er zur eigenen Freude und ohne Ehrgeiz. Vor seinem Ende verbrannte er diese Papiere. Nur ein kleiner Zufallsrest ist geblieben, welchen sein Freund Arthur Brückmann und der Philosoph Fritz Mauthner gesammelt und im Herbst 1906 (im Verlage von S. Fischer, Berlin) in einem schmalen Bändchen herausgegeben haben, das den Titel trägt: »Walter Calé, Nachgelassene Schriften«.

Und dennoch versetzen wir dieses Bild in einen Reigen »jüdischer Selbsthasser«? –

Warum es geschieht, wird klar, wenn wir nicht sprechen von der schöneren Welt, die er mit sich nahm, sondern von der bitteren, vor der er ohne Bedauern stumm sich in den Tod gleiten ließ. Wir werden, um das zu begreifen, das schrille Wort nicht scheuen.

 

Das Zeitalter der zehntausend jüdischen Schriftgelehrten hat längst vergessen, was ein Dichter ist und wie Dichter unter Völkern in Erscheinung treten.

Aus der großen unter dem Schicksal stummen Menge der Einfältigen erhebt sich hie und da ein Sprachmund, ein Liedermund, Erinnerungen bewahrend, Schwerfaßliches, Niegesagtes dennoch erfaßbar machend. Vielleicht ein wohlgeratener Jüngling im Feuer des Aufschwungs, den die Natur und ihre Genien behüteten. Ein Frauenherz, von Schwert oder Pfeil durchbohrt. Ein weiser Alter, wie bei den finnischen Barden, deren keiner vor dem siebzigsten Lebensjahr zu singen begann. Diese »Gotterwählten« reißen ihre Brust auf und machen ihre Herzen zu Harfen für die Klagen und Hochziele ihrer Volkheit. Ihr Irdisches wird vergessen. Selten überdauert einer seine Stunde. Er glüht, spricht sein Wort und versinkt. Aber Beglückte erkennen, trinken das Blut und erheben den Verschwundenen zu ihren Göttern … Demgegenüber betrachten wir jetzt den Eingang eines »modernen jüdischen Dichters« in die Konversationslexika der Kultur.

Papa hat an der Börse ein Vermögen gemacht oder in der Konfektion gut verdient, so kann denn Bubi (Bubi, welcher ausnehmend begabt ist, – denn alle Kreuzungsprodukte von Heiratsgesuchen in der »Frankfurter Zeitung« mit Heiratsangeboten im »Berliner Tageblatt« sind »furchtbar begabt« –) sich ein Landhaus mieten und Dichter werden. Er könnte auch Rechtsanwalt werden beim Landgericht III oder »sich der akademischen Laufbahn widmen«, aber – Dichter … das ist ja doch noch auserlesener, und (wenn man nur leidlich Geld verdient) auch »angesehen« 15.

15) In alten Papieren finde ich Aufzeichnungen aus dem Jahre 1902, in welcher Zeit ich Lehrer an einem deutschen Landerziehungsheim war, unter dessen Schülern sehr viele jüdische Knaben waren, meist sehr begabt und meist sich mit der Absicht tragend, »Dichter« zu werden. – Da heißt es:

      »Und immer wieder neue Herrn und Dämchen,
      Ein jedes tüchtig, jedes talentiert,
      Ein amüsant Romänchen oder Drämchen
      Zu jeder Weihnachtsmesse prompt gebiert. –
      Wie rang mein Geist in Nächten streng und einsam
      An meines Lebens einzigem Gedicht,
      Ach, meine Schüler dichten schon gemeinsam,
      Und reif wie sie werd' ich mein Lebtag nicht,
      Der Dichter Speier und der Dichter Cohn
      Die Dichter Meier, Frank und Mendelssohn.«

Ein paar Jahre später hatten denn in der Tat alle diese Begabten, wie man das ja wohl nennt, »sich der Literatur gewidmet«.

Die Unnatur dieser derazinierten Schicht offenbarte sich, als jene deutschen Landerziehungsheime plötzlich Schulordnungen herausgaben, welche den folgenden Paragraphen enthielten: »Minderwertige Kinder oder Kinder von jüdischer Abkunft werden im allgemeinen in die deutschen Landerziehungsheime nicht aufgenommen.« – Es verstand sich für mich von selbst, auf diese schamlose Tat mit Verzicht auf meinen Lehrerposten zu antworten, und ich glaubte, sämtliche jüdische Eltern und Zöglinge auf meiner Seite zu haben. Aber ich machte damals eine erstaunliche Erfahrung. Ich blieb der einzige, der aus dem Amte schied. Sämtliche Juden blieben und beruhigten sich damit, daß ja nicht beschlossen worden sei, sie herauszuweisen, sondern lediglich im allgemeinen keine neuen Schüler ihrer Art aufzunehmen. Unvergessen blieb mir die Antwort einer jüdischen Mutter auf meine Frage, ob ihr denn nicht das Ehrgefühl geböte, ihr Kind aus einer im Prinzip judengegnerischen Schule zu nehmen: »Ich verstehe überhaupt nicht, was Sie wollen, Herr Doktor, wenn die Landerziehungsheime künftig keine Juden mehr weiter aufnehmen, man aber unsere Kinder hier läßt, dann wissen wir ja doch, daß unsere Kinder in wirklich guter Gesellschaft sind.«


Und Bübchen lernt was längst erlernbar geworden ist: Theaterstücke verfassen, Romane bosteln, Essays stilisieren. Denn die Bildung konsumiert in Masse geistige Waren. Und der Westen und die Villenkolonie nennt das Zehntausend Belieferer mit »Feinsinn« und mit »Geistesreichtum«: Repräsentanten der Kultur.

Da sitzen sie also im Ledersessel der Redaktionen, im Plüsch der Theater. Gleiten im Flugschiff, Mammutdampfer, Luxusauto über Erde und Meer. Und alles – Krieg oder Volksuntergang, das Ballfest im Kristallpalast oder die hungernden Kinder der Höhlenmenschheit, Urwald oder Okeanos – alles ist für sie » Stoff« … »Tout est matière pour nous«, urteilt Flaubert, der Genius des Sitzfleisches.

Und so häufen sie, das Element mit dem Spiegel tauschend: Papier, Papier, Papier.

Eine Million Bäume muß täglich fallen, um genug Papier zu schaffen für die Welt, welche »Niveau hält« und »öffentlich meint«.

Wohin sie auch kommen, über die ganze Erde, drücken sie Hände von ihresgleichen. Sie sagen den Nationen, was sie zu denken haben. Sie kennen die Werte an der Geisterbörse. Und neben ihnen – o schreckliche Karikatur der herben Mutterschaft der Erde – thronen die Göttinnen, ihre Stilfrauen. Verteilen den Lorbeer und lächeln dem Portemonnaie.

Das ist denn die Geschichte der Ausmünzung des Lebens zum Zwecke von »Kultur«.

Und bei diesem Vermarkten (nicht mehr Ausdruck und Leib, sondern Können und Tat) hat die beste Substanz des jüdischen Volkes sich vertan. Vertan seit jenen Tagen Moses Mendelssohns, wo aus jedem gepreßten Juden ein Pressejude ward.

Wollen Sie die besten Regisseure? Oder die wirksamsten Sterne des Films? Hautspezialisten? Humoristen? Akrobaten? Psychologen? Wollen Sie Industrie? Kommunismus? Lyrik? Sagen Sie uns bitte: Was wollen Sie? Wir führen alles. Wir können alles. Wollen Sie Talent? Hier haben Sie Talent. Wollen Sie Genie? Wir können sogar Genie.

Es würde nicht das mindeste ändern, würde nur lächerlich machen oder als Irrsinn gelten, würde ein Lebendiger in das Bacchanal der Arbeit und Leistung hineinrufen: » Tote seid Ihr!«

Wie denn? Diese so Vielbewegten, Öffentlichen, Wachgespannten, Weltbewegenden … Männer und Frauen: lechzende Tote? …

Schlimmer! Mörder ihres Volks. Mörder der Götter. Mörder des Sanges. Mörder der Seele.

Ja! Es ist so! Die Elite der Geschichtemachenden, von Geschichte Registrierten sind: Entfallene, sind Abfall!

Ausgestoßen vom deutschen Volk, ausgestoßen vom jüdischen Volk.

Denn die deutsche Volkheit empfindet diese Talentdrohnen als Nutznießer ihrer Seele. Die jüdische Volkheit aber muß alle ihre Talente abstoßen, sei es in die »allgemeine Zivilisation«, sei es in das »Adreßbuch der Millionäre«, wo sie eine Zeitlang Sternchen tragen und dann vergessen werden zugunsten Neuer.

Wo soll das hin?

Es ist das Bild eines schwirrenden, sich übersteigernden Hochflugs verflogener Vögel über dem Friedhof des Volks.

Es ist eine hoffnungslose, aber mit dem Geäder des Diskonts gut durchblutete Welt, in welcher immer seltener die Tragödie des jüdischen Selbsthasses spielt. Denn hier zuckt man nur noch die Achseln und sagt: »Nebbich!« oder »Na, wenn schon!«

Was wollte unser kleiner Dichter in dieser Welt?

Er hatte das frühe Wissen um sein Kainsmal.

Was konnte aus ihm werden? Ein gesuchter Rechtsanwalt, ein berühmter Professor, ein geschätzter Schriftsteller. Nur das eine nicht, was er war: Dichter.

Als der junge Michelangelo sich rühmte, er könne Gestalten kneten gleich Phidias, da verwies ihn der Kardinal lachend auf den Schnee, der im Vatikanischen Garten lag und sagte: »Knete!« Und er hat aus Schnee geknetet, aber mit Zornestränen in den Augen gerufen: »Gebt mir Marmor.«

Es ist bitter, als Musiker in einem Lande geboren zu werden, das keine Instrumente hat, darauf man spielen kann. Das einzige Instrument aber, auf dem ein Dichter spielen kann, ist das Herz seines Volks.

Sie werden bis zum katastrophalen Ende immer wieder geboren werden: seltene Blumen, seltene Tiere, seltene Herzen. Und sollte man sie auch nur noch daran erkennen, daß jedermann sie abrupft, begehrt und jagt. Zur Erfüllung aber kommt keiner mehr; mancher freilich findet sich ab mit seiner ehrenreichen Vernutzung. –

Calé konnte es nicht! Der war »eine schöne Seele«. Kinder und Blumen aber haben keine wehrhafte Aktivität. Finden sie keine Pflege, dann werden sie krank und sterben.

Er war ein Baum, der in der Wüste eine Frucht gezeugt hat, aber kein Wanderer kam, der sie gebrauchen konnte.

Er war eine Blume, die im Abgrund zur Schönheit erblühte, aber kein Auge war da, um sich ihrer zu freun. – Alles Schöne aber will ein Auge. –

Er war die Prinzessin, die im Walde aufwächst, wohin sich nie der Würdige verirrt, der ihrer froh werden darf.

Solch ein Leben ist das des Einsiedlers, der vor dem Sterben sein Testament in den Sand schreibt und doch weiß, daß in der nächsten Stunde der Samum es verweht.

Für Walter Calé wurde somit zum Troste der Gedanke, daß er nur so lange bleiben wolle, als es ihm gefiele.

»Es rinnen rote Quellen
Um mein gesegnet Haus,
Es tränkt ein schwarzer Reiter
Sein schwarzes Roß daraus,

Er lehnt schon hundert Jahre
Vor meinem runden Tor;
Die Zeit wird ihm nicht lange,
Ich komme nie hervor.

Es braucht nur dreien Schritte,
So kann ich bei ihm stehn,
So kann ich mit ihm reiten,
Wie meine Wünsche gehn.

Das ist so schön zu wissen!
Ich sag es tausendmal:
›Es wartet einer draußen‹,
Und bleibe doch im Saal.

Der Reiter schläft im Schatten,
Sein Panzerhemd blinkt gut,
Dem Rappen ist sehr schläfrig,
Mir ist sehr froh zu Mut.«

Der Dichter, so glaubte die Vorwelt, steigt aus Volk, Blut, Landschaft, um der vom Göttlichen angeglühten Menge Sprache zu leihen. Aber es kam eine Zeit, wo der Dichter nichts nötiger hatte als Schutz vor der Öffentlichkeit. Der Begriff des Veröffentlichers, des Publizisten wurde zum Gegenbegriff des vor dem Selbstverlust bangenden Verdichters. Was bedeutet das?

Die Völker sind keine geschlossenen Gemeinschaften mehr. An die Stelle der Volksgemeinschaft trat die internationale Gesellschaft. An die Stelle des Volksstaates der Klassenstaat: dieser ungeheure Unterbau proletarisierten Ameisengewimmels, auf dessen Rücken sich die Pyramide einander tragender Klassen erhebt. Eine dieser Klassen (ihrer eigenen Meinung nach die oberste, in Wahrheit aber nichts als nur die schmückende Fassade am Staatsbau) ist heute die Klasse der »Kultur produzierenden Berufe«.

Es ist jedenfalls nicht zu bezweifeln, daß der Dichter heute nicht wächst wie die Wiesenblume und sein Lied nicht singt wie im Busche der Vogel.

Aber in dieser Lage gibt es eine Rettung.

Seit mehreren hundert Jahren entwickelt sich ein erstaunliches soziologisches Wunder: Der Kreis.

Die Bäume gedeihen nicht mehr unter freiem Himmel. Sie bedürfen der Pflanzschulen und Treibhäuser. Die verfeinerten zarteren Jünglinge und Mädchen sehnen sich nicht nach Öffentlichkeit und Weite. Sie bedürfen des »Kreises«, der sie, so lange als irgend möglich, vor dem öffentlichen Leben bewahrt.

Dieser Vorgang entspricht dem Entstehen der Orden innerhalb der Kirche und hat Verwandtschaft mit den Gesetzen, nach denen die führenden Kasten und Stände entstehen.

Das Wichtige dabei ist dieses: Eine Gruppe von Menschen unterstellt sich eigenen Formen und strengen Pflichten und erklärt sich selbst auf Grund dieses strengeren und schwer zugänglichen Lebens für das »auserwählte Volk«, das »bessere Deutschland«, das »heimliche Frankreich«, das »eigentliche England«, das »kommende Amerika«.

Es ist eine wunderliche Verirrung, daß die bürgerliche Welt den sich abgrenzenden Kreis, darum weil er aus gewohnten Formen heraussprang, für formlos und ausschweifend hält und den Zigeunern, den Bohémiens zurechnet. Es ist grade umgekehrt. Der dichterische Kreis mit seinen ehernen Bindungen ist just das Gegenteil aller solcher Gruppen, die besondere Rechte in Anspruch nehmen, ohne mit besonderen Pflichten zu zahlen. Je »exklusiver«, »distinguierter«, »aparter« der Kreis ist, um so mehr wächst die Möglichkeit, daß die Außenstehenden (geplagt von dem ehrgeizigen Wurm des Nichtmitdazugehörens und von dem neidischen Skorpion, ein Nichtzugelassener, ein Uneingeweihter zu sein) ihren Intellekt auf die Ergründung der Werke des »Kreises« sammeln und ihren Willen auf die Eroberung seiner Formen und Werte. Bis dann schließlich der massenfeindliche Kreis von einem ganzen Volke wenn auch nicht getragen, so doch erkannt, wenn auch nicht geliebt, so doch geschätzt wird.

Dies scheint mir der einzig noch mögliche Weg zu sein, auf dem das Dichterische auch heute noch zu Macht kommen kann. Mißlich und peinlich ist die Beschäftigung mit dem außergewöhnlichen Einzelnen. Die Beschäftigung mit dem sonderartigen Kreise ist Lieblingsarbeit aller akademischen Köpfe.

Nun aber läßt sich zeigen (wir könnten es am Kreise der »Parnassiens« oder der »Symbolisten«, besonders aber am »Kreise um Stefan George«), daß dieser soziologische Vorgang insgeheim grade den Kult, ja die Apotheose des Nurpersönlichen verbirgt. Denn es handelt sich nicht um das Element der Volkheit, welches die Dichter hervortreibt wie Quellen oder wie Vulkane, sondern: Sehr zerbrechliche, besonders schutzbedürftige, zum öffentlichen Kampf nicht befähigte oder nicht geneigte Gestalten gesellen sich, um eine Kunst oder geistige Übung zu betreiben, nach Art einer Gilde oder einer Zunft; nach Art eines edlen Zönakel, Symposion oder Thiasos. Das Gedicht, Buch, Drama, Bild, die Statue, die Bauart, ja sogar (wenn auch aus tiefem Grunde weit seltener) die Musik wird kultiviert, stilisiert und kapitelweise, strophenweise, zeilenweise erbildet, wie das erlesene Kunsthandwerk.

Dies ist eine ganz neue und zweifellos in der Zukunft allein siegreiche Art der Kunstübung. Das Ende der naiven Volkskunst: Denn Lieder und Mären der Völker waren ursprünglich nicht aus den höheren Ständen in die tiefere Volksschicht abgesunken. Sondern alle Kunsterzeugnisse der Volkheit: die Waffen, Hausgeräte, Kleider, Werkzeuge kamen traumbildnerisch und wie im Schlafe gewirkt aus dem Schoße des Elementaren. Schließlich aber hat die wache Werkkultur, die helle Sachlichkeit alle dumpf wachsenden Gebilde abgelöst.

Während ursprünglich die einzelne Persönlichkeit kaum genannt ward – die herrlichsten Kunstwerke der Vorwelt sind nicht an Namen geknüpft – wurde schließlich die »Persönlichkeit« und ihr Könnertum schul- und sektenbildend. Ja, der die Dichtung kultivierende Kreis gelangt vielleicht bis zu der gefährlichen Grenze, wo das Erlebnis eines hervorragenden Einzelnen religiöse und symbolische Weihe fordert, vergleichbar dem Cäsar, welcher Antinous, den verstorbenen Liebling, zum Gott und sein Lieblingsroß zum Konsul ernennt. –

Walter Calé fehlte das Eine, was retten konnte: Der Kreis.

Er war einer von denen, die »den Anschluß versäumten«. Er hatte weder Herrschergewalt noch Dienst. Zum trotzigen Eigenbrötler und Einzelgänger aber war dieser zarte Epigone viel zu schwach. Er war eine Schattenstaude, die keine Sonne hatte, in deren Schatten sie wachsen konnte.

Viel zu echt und zu vornehm, um gleich zehntausend Literaten eine Dichtindustrie aufzutun und seine Barren groschenweise in gängige Valuta zu vermünzen, konnte er nur wie der bleiche Prinz, in der Fülle hungernd, mit schlanken Fingern müde mit dem Kleinod spielen. Konnte Menschen beglücken, konnte Menschen unglücklich machen und am Abend seufzen: »Wozu das alles?« Denn wenn er wirklich mit äußerster Arbeit an einer Seite Prosa acht Tage lang gefeilt hatte, dann schämte er zuletzt sich dieser Künstlichkeit, zerriß sie und seufzte: Wozu muß das sein?

 

Hat man schon den tiefen Zusammenhang des Sichwichtignehmens und Sichwichtigmachens mit der menschlichen Brüchigkeit durchdacht? Es ist nie ein weiseres Wort gesprochen worden als das Wort des Buddha:

»Unheilbar in der eignen Haut
Wirds allgemeine Wohl gewählt.«

Jeder aus dieser armen Menge der Leidenden, die »den Anschluß versäumt haben« (Anschluß an eine Kirche, Partei, Weltanschauungsgemeinde, Schule, Ring und Kreis) geht eines Tages den grauenhaften, oft an Wahn oder Frevel grenzenden Notausgang: Er bläht das Ich auf! Er befindet sich selber wichtig. Er findet sein Leiden anders und wichtiger als aller Leiden. Er tut sich als Arzt auf, und kann sich doch selber nicht heilen. Er wird ein »Menschheitbeglücker«, ein »individualistischer Aristokrat«, ein »Maulheld«.

Das war nicht der Weg Walter Calés. Wer ihn in seinen wenigen Jahren sah, der fand einen korrekten, immer höflichen, immer Form und Haltung bewahrenden, nie sich selber ins Licht drängenden, bescheidenen feinen jungen Herrn, der immer seltener und nur in festlicher Stunde dem Freunde oder der Freundin sein Inneres erschloß. Sein Werk behütete er als sein Geheimnis. Er war für die Welt ein wohlerzogener junger Referendar aus guter Familie. Er wollte nichts anderes sein.

Aber er war aus einem Blute gestiegen, das nur selten fromme Klausner und glückselige Brüder des stillen Lebens, dagegen zahllose Tat- und Geisteswillige durchströmt hat. Aus dem Blute, das von sich sagt: »Unser Gott ist ein fressendes Feuer. Ich bin gekommen einen großen Brand zu zünden und wollte, es brennete schon.« Er sah um sich das westliche Berlin, den Markt jüdischer Eitelkeit. Die Männer mit Positionen, Ämtern, Titeln behangen. Die Frauen, behangen mit Ringen, Geschmeide und Edelstein. Und alle entfremdet dem Traum, der Nacht, der Mutter Seele.

»Und so wirst du auch einmal werden?«

In einer von tausend vergrübelten Nächten überwand ihn der Ekel und er ging davon. Schweigend und rücksichtsvoll wie er gelebt hat. Unter den wenigen Papieren, die er nicht mehr verbrennen konnte, fand sich ein Zettel als letzter vor dem Tode beschrieben:

»Meine Finger krümme ich zum Spiele,
Aber deine Saiten sind ein Mißton,
Aber dein Gehäuse ist zerborsten,
Arme Laute.

Brennend ein Zündholz führ ich nah zum Dochte,
Doch das Öl verzehrten andre Nächte
Und der Docht ist nur wie Ruß und Kohle,
Arme Lampe.

Vor dem Fenster hocken plumpe Fratzen,
Glotzen mit der Stirne durch die Scheiben,
Kratzen mit den Nägeln an dem Glase,
Arme Seele.«


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