Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV.
Max Steiner

siehe Bildunterschrift

Max Steiner

(Nach einer Aufnahme aus dem Jahre 1906)

Am 22. Juni 1910, vormittags, fand man den Studenten der Chemie Max Steiner aus Prag in seiner Stube im Norden Berlins auf seinem Bette tot. Er war angetan mit einem neuen Anzuge, den er sich für die Doktorprüfung hatte anfertigen lassen. Seine Vorexamina hatte er hinter sich, wollte noch promovieren und hatte seine Dissertation über Chemie der Riechstoffe bereits eingereicht. Die Berliner Fakultät hatte sie angenommen und hatte den 23. Juni zum Termin für die mündliche Prüfung angesetzt.

Zu seinen Wirtsleuten hatte der Student geäußert, daß er seinem Lehrer, Professor Emil Fischer, dem berühmten Chemiker, die übliche »Examenvisite« abstatten wolle. Dann hatte er sich für die Visite angekleidet. Aber während des Ankleidens muß ihn plötzlich der Lebensüberdruß gepackt haben.

Er besaß Giftstoffe, mit denen er als Chemiker zu experimentieren gewohnt war. Ehe er das Gift nahm, hatte er einen kurzen Abschiedsbrief an seine Eltern geschrieben.

In dem Briefe bat er sie, zu verzeihen, daß er sein Leben freiwillig ablege. Einen eigentlichen Grund dafür könne er nicht angeben und habe auch keinen. Nie sei er so fröhlich gewesen wie jetzt in der Stunde seines Abscheidens. Er sei auch wegen seiner Prüfung ganz unbesorgt. Das hoffnungslose Leid alles Lebens laste auf ihm, nicht aber die Doktorprüfung. Sein Überdruß am Leben sei seine letzte Erkenntnis. Man möge ihm nun Ruhe gönnen.

Der Verstorbene, am 21. Mai 1884 geboren, war 26 Jahre alt geworden. Zwei merkwürdige Bücher von ihm waren im Verlage von Ernst Hofmann in Berlin erschienen. Sie hatten in Kreisen der Wissenschaft einige Bewegung ausgelöst.

Das erste Buch, 125 Seiten stark, war im Jahre 1905 herausgekommen und führte den Titel: »Die Rückständigkeit des modernen Freidenkertums. Eine kritische Untersuchung«. Das zweite, 244 Seiten starke Werk war im Jahre 1908 erschienen und trägt den Titel: »Die Lehre Darwins in ihren letzten Folgen«.

Es erregte Aufsehen, daß Houston Stuart Chamberlain, der damals meistgelesene Philosoph, an den ihm unbekannten Studenten den folgenden Brief richtete: »Daß selbst die bestgegründete Regel oder wie unser lieber alter Kant gesagt hätte – Maxime – nur durch die richtig angebrachte Ausnahme lebendigen Sinn erhält, merke ich heute, wo ich einem mir gänzlich unbekannten Autor schreibe, um ihm für Belehrung, Anregung, Genuß, ja Befreiung zu danken. Julius Wiesner, der Physiologe, machte mich auf Ihr Werk aufmerksam und trotzdem ich gerade mit Arbeit überhäuft bin, habe ich es gestern in einem Zuge Zeile für Zeile durchgelesen. Spät erst kam ich ins Bett, denn ich konnte mich von dieser unerwarteten unverhofften Freude nicht trennen. Ginge es nach meinem Wunsche, so sollte das Buch bald in 200 000 Exemplaren verbreitet sein« 12.

12) Der erwähnte Julius Wiesner ist der bekannte Botaniker, damals Rektor der Universität Wien. Er war Jude, aber hatte die Widmung von Chamberlains »Grundlagen« angenommen, ein krasses Beispiel mangelnder Selbstachtung.


Obwohl also die Begabung des jungen Mannes in wissenschaftlichen Kreisen bekannt geworden war, so wußten doch nur wenige um den Toten. Und ähnlich wie bei dem freien Tode Otto Weiningers, ergingen sich die Zeitungen in unbestimmten Vermutungen über die Gründe seines Abscheidens. Die einen redeten von einer Examenneurose. Angst vor der Doktorprüfung solle den Studenten plötzlich überwältigt haben. Andere wiesen darauf hin, daß er ein einsames Leben geführt habe, abseits und asketisch, und daß er in der letzten Zeit infolge einer Zungenverletzung immer grämlicher geworden war.

Nur wenige Freunde kannten die Wahrheit. Einer dieser Freunde, Kurt Hiller, ordnete den Nachlaß. Es fanden sich in ihm Bruchstücke zu einem dritten Werk: »Die Welt der Aufklärung«. Hiller sammelte diese Notizen und gab sie 1912 heraus mit einer Einleitung und mit einem Bilde Steiners aus dem Jahre 1903.

Aus dem Bilde blickt uns ein Jüngling an in starrer Haltung. Er ist steif eingezwängt in einen schwarzen Gehrock mit Seidenaufschlägen, in einen hohen Stehkragen und ein gestärktes Vorhemd. Er hat ein sehr junges Gesicht in eben beginnender männlicher Reifung. Es ist ein blonder kühler Typ. Auffallend wellig und stark das hellblonde Haupthaar. Aquamarinhell leuchten die blauen Augen. Seine Stirn ist so breit wie hoch. Klein und schmal ist die strenge Nase. Und streng auch sind die auffallend schmalen geschlossenen Lippen, darüber der Anflug des eben sprossenden Bärtchens liegt. Breites Kinn, großes Ohr.

Der Ausdruck: lachend, lebendig, ironisch, frech und tiefschmerzlich. Obwohl jede Einzelform des Gesichtes den üblichen Vorstellungen von jüdischem Gepräge widerspricht, spürt doch der Physiognomiker: Dies kann nur ein jüdischer Intellektueller sein …

Über die Entwicklung des Frühvollendeten sind wir durch die drei Bücher unterrichtet, die den gleichen Faden zu Ende spinnen.

Die Stadt Prag, in welcher Max Steiner Piaristenschule und Grabengymnasium besuchte, ist die buntscheckigste Stadt Europas. Ihre uralte Judengemeinde ist die intellektuellste der Welt. Zwei Kulturen, sudetendeutsche und westslawische, schmolzen hier ineinander, und jedes Kind der gebildeten Schicht spricht ebensogut tschechisch wie deutsch. Die Stadt hat tausend Kirchen und Kapellen. Ihre tausend barocken Fassaden und düstere Wölbungen voller Weihrauch ragen über Grüften, darin die Geschichte dreier Völker schlummert.

Steiner erlebte die erste Blütezeit der tschechischen Dichtung: Otokar Bøezina und die gewaltigen Dichter des Proletariats Petr Bezruè und Jiøi Wolker. Die dunkle verfallene Süßigkeit des alten katholischen Prag wehte aus den weichen Strophen Rainer Maria Rilkes.

In einer Welt voll großer Spannungen erwuchs Max Steiner, unter den vielen Intellektuellen der intellektuellste. Er war eine ausgesprochen logisch-mathematische Begabung ohne rechte Beziehung zum Musischen. Er trug in sich wenig Musik, wenig Lyrik, wenig Dichtertum, nur starke Leidenschaft für die Erkenntnis und einen derben Verstand, dem das Denken selber zur Fraglichkeit wurde.

Mit zwanzig Jahren wurde er Student der Naturwissenschaft. Da er mittellos war, so wählte er die Chemie als Brotstudium. Sein Eifer aber galt der Philosophie und Mathematik.

Im Juli 1903 hatte er die Matura bestanden, im Oktober kam er nach Berlin, das er von da ab nicht wieder verließ. Er geriet in Berlin in einen Kreis junger Akademiker und Intellektueller, die nächtelang diskutierten über Tat, Religion, Wissenschaft, soziale Fragen. Es war ein Kreis pyrrhonistischer Logiker und ethischer Marxisten. Steiner war der skeptischste unter ihnen, aber auch zugleich der strengste an sittlichen Forderungen.

Auch im Erotischen war Max Steiner abweisend, entsagend und herb. Er war geneigt zu vergötternder Freundschaft. Aber man bemerkte an ihm nie, soweit man ihn kannte, einen Trieb zum Weibe. »Tragisch«, so schrieb er, »ist nicht Weib und Liebe. Tragisch ist nur die Erkenntnis.«

Ein herber Jüngling von äußerstem Sittlichkeitsbewußtsein, Geltungswillen und ethischem Ehrgeiz, kannte er nur ein Lebensideal gleich dem der griechischen Gymnasten: »Immer der Erste sein und Sieger werden im Wettlauf.«

Kurt Hiller, selbst ganz Kampf und Klugheit, berichtet: »Der Zug, der jedem, der mit Steiner in Verkehr trat, unausweichlich zuerst auffiel, war: grausame Kühle und Schärfe in der Konversation, ein unirdisches Freisein von Sentiment und der ruhelose Drang, sich Überlegenheitsgefühle zu verschaffen. Das machte die Debatten mit ihm zur Folter und zu Ekstase.« –

Die große Mode des Kurfürstendammes um 1900 war noch nicht, wie zwanzig Jahre später nach dem verlorenen Weltkriege, das tröstliche »Irrationale«, der »Mythos«, das »Kosmische«, die »Astrologie«. Damals hieß die große Mode: Haeckels »Welträtsel«, Bölsche, »Das Liebesleben in der Natur« und Carneri, »Der moderne Mensch«. Oder (als eine Gegenmode von seiten der Noch-Aparteren) Hermann Cohens »Reine Logik«, Chamberlains »Grundlagen des XIX. Jahrhunderts« und Friedrich Albert Langes »Geschichte des Materialismus«. Zwischen diesen beiden Lagern: Hie Darwin – hie Kant schwankte auch der junge Student.

Er war ein wirklich armer Junge aus orthodoxem jüdischen Haus, der durch Gelegenheitsarbeit und Stundengeben sein Studium erwarb und in dem Hinterzimmer nahe dem Alexanderplatz oft von Kaffee und Schwarzbrot lebte. Weltunläufig, ein harter Geist, ein braver Provinzler, blickte er wehrlos in die urbane Welt der in allen Sätteln Gerechten und mit allen Wässern Gewaschenen.

Auf allen Gebieten des geistigen Lebens sah man damals überlegene und bedeutende Juden an der Spitze. An der Berliner Universität dämmert bereits der Geist von heute, der durch drei jüdische Namen zu bezeichnende: Einstein, Bergson, Husserl.

Einer aber lebte damals als das allformulierende Gehirn und allüberschauende Auge der Dreimillionenstadt. Das war der »ewige Berliner Privatdozent«, vom Kultusminister, Herrn von Goßler geflissentlich übergangen, von seinen Kollegen halb mit Bewunderung, halb mit Befremden betrachtet, von den Studenten nur wie ein geistiger Zauberkünstler besucht. Ecke Friedrich- und Leipziger Straße im mittelsten Punkte des Berliner Höllenstrudels stand sein Geburtshaus, darin dies Riesengehirn wuchs, das alles »übersehen«, dieser Zaubermund, der alles Gesehene formulieren konnte. Das war Georg Simmel, für alle geistigen Feinschmecker die wichtigste Sehenswürdigkeit des Berlin um 1900. Der gradlinige, grobdrähtige junge Prager haßte Georg Simmel von der ersten Stunde an, wo er ihn anstaunte und nicht verstand. Das also war der berühmte Filigranweber des Geistes. Der Doppelt- und Dreifach-Seher, der die Philosophie als ein akrobatisches Ballspiel zu betreiben schien, rote, grüne, blaue, violette Bälle, oder wie Rodelsport: Berg hinunter, Berg wieder hinauf. Das war der unbesiegliche Geist, der über das Problem »Westenknopf« philosophieren konnte, als philosophiere er über das Problem »Gott«. Simmel wurde ihm Symbol. Symbol für die leuchtende Phosphoreszenz des absterbenden Judentums, des alles auflösenden, weil elementlosen Geistes von 1900 13.

In meinem Buche »Philosophie als Tat« (Göttingen 1914) findet sich aus den Jahren 1912-13 eine Abhandlung » Georg Simmel. Betrachtungen und Exkurse« (Seite 303-342), welche eine Psychologie des jüdischen Geistes bietet, weit reicher und lebendiger, als ich sie heute zu geben vermöchte.


Fritz Mauthner zerfaserte meisterlich den Glauben an das Wort und an die Sprache.

Max Dessoir zerstörte die Wunder der Mystik und des Spiritismus.

Ernst Cassirer hauste in der Riesenleiche Transzendentalphilosophie.

In der Politik herrschte der klügste aller klugen Kletterer Maximilian Harden.

Der ehrfurchtslose Psychologismus und die wichtigtuende Psychoanalyse zersetzten, was von Klassik und Romantik noch lebendig blieb.

Wahrhaftig, Feuer genug, um eine Welt in Brand zu stecken! Und alles das abgebrannt zum täglichen Feuilletonspiel für die Mußestunden smarter Geschäftemacher und ihrer Damen.

Wohin er blickte, eine überlebendige, an Talent ihm weit überlegene, seinen schwerfälligen Ernst und seine plumpe Treuherzigkeit überfliegende allangleichende Geistigkeit. Er begann sie zu hassen. Diese glatten Unübertrefflichen. Diese Geister, die alles haben, was sie nicht sind. Die mit Blut schaffen, ohne daß ihr Blut zeugt. Diese fröhliche Frechheit (Chuzpe) ohne Einfalt. Diesen Berg von Können, Leisterei, Wisserei, Druckerschwärze und Arbeit. Er hatte, unfertig und unmusisch, diesem Getriebe nichts entgegenzusetzen als nur ein Herz, erfüllt vom hochgespannten Pathos sterbewilliger Sittlichkeit.

Gerade darum aber, weil er selber ein unbegrenzter Intellekt war (also im Kerne ein Schicksalsloser), gerade darum verachtete er alle Künste und Spiele des Geistes. Und ohne zu spüren, daß er nur den Teufel austreiben wolle durch Beelzebub, der Teufel obersten, stemmte er ihrem Esprit sein Ethos entgegen und befehligte einer Gruppe Welterlöser, die sich »Aktivisten« nannte.

Man schwärmte für Revolution. Man redete vom »Ziel«. Man gebrauchte kein Wort so häufig wie das Wort Tat. Tat, und noch einmal Tat! Man hätte demnach erwarten dürfen, daß Max Steiner sich greifbare und praktische Zwecke setzte. Sozialpolitische; damit das Butterbrot der armen Kinder dicker werde, damit weniger arme Mütter an Tuberkulose stürben, damit weniger Männer von Schmutz, Krankheit und Armut überwältigt würden. Oder politische Ziele als Kommunist oder als Sozialdemokrat im treuen Dienste seiner großen Utopie. Aber Steiners geistige Unentwegtheit drängte nur in theoretische Krisen.

Er begann als ein sittlichkeitentflammter, die Menschheit erziehender Aktivist. Er gelangte nach ein paar Jahren zur nihilistischen Anarchie. Er endete als Konvertit der katholischen Kirche: Marx, Stirner, Loyola … das waren die drei Stationen seiner kurzen irdischen Pilgerfahrt. Ein typischer Werdegang. In vorbildlicher Verkürzung. Aber bevor wir die dreiaktige Tragödie erzählen, malen wir ihren Hintergrund.

Der Hintergrund ist das machtrauschtaumelige Berlin des Jahres 1900 und jene reich gewordene Gesellschaft des Schöneberg- und Grunewaldviertels, welche sich leicht mit ein paar Schlagworten skizzieren läßt. Aufklärung! Fortschritt! Freie Bahn dem Tüchtigen! Das waren Worte, die auf Steiners zuckendes Herz wirkten wie das rote Tuch auf den gereizten Stier.

Gleich seinem großen Lehrer (dem er sich doch nie zu nähern wagte), gleich Karl Kraus haßte auch Steiner als gefährlichsten Träger der verlogenen Macht- und Erfolgsideale: das verschlissene literarische Judentum. Sein Haß gegen jedes verantwortungslose Spiel wurde zum Haß gegen sein eigenes Blut.

Es war begreiflich, aber es war völlig ungerecht, daß Steiners Wut sich zunächst gegen Georg Simmel kehrte. Denn alles, was für Steiner blutiger Ernst war, das schien für den großen Begriffskünstler nur Gegenstand gepflegter Dialoge zu sein. Simmel war der Meister im Prägen zierlicher Tanagrafiguren. Steiner wollte Marmor mit seinem Blute tränken. Simmels bescheidener Ehrgeiz war es: jede Sache von jeder nur möglichen Seite aus völlig klar gesehen zu haben. Und wenn man glaubte, nun wäre das Problem erschöpft, flugs schlug er eine Volte und zeigte die Sache wieder unter einer neuen, noch viel feineren Optik: »Dieser Denker war nicht zu widerlegen, wenn es ihm beliebte, dann widerlegte er sich selbst und versöhnte sich nur, wenn es sonst zum Mittagessen zu spät geworden wäre.«

Hier schnitten einander zwei nie sich deckende Ebenen. Der Derbe und der Feine verstanden sich nicht.

Ich fürchte, man wird mich mißverstehen, wenn ich bekenne, daß ich Georg Simmel (ohne darum für den Nihilismus seiner Geistigkeit blind zu sein) dennoch für den lebenerfüllteren Denker halte. Er war in unvergleichlich stärkerem Maße Erde, als es Max Steiner war. Georg Simmel war eine große bescheidene Natur. In allem Geistigen gänzlich ungläubig und daher zu den verschiedensten Gesichtspunkten fähig, war er doch ganz sicher im Instinktiven, gläubig gegen alles Leben und vor jeder Offenbarung des Lebens fromm.

In der Tat, es gab auf kulturellen Gebieten nichts, wofür er je hätte den Kopf auf den Block legen können, aber es gab nichts Natürliches, was er nicht fühlte, und nie kam es vor, daß er an Echtem und Elementarem vorüberging. Er war im Geiste weit nihilistischer, aber im Blute weit gläubiger als Steiner. Er lebte groß und starb groß. Denn er war ganz lebendig. Nichts stand ihm ferner als der Hochmut des Geistes. Max Steiner aber war ein Hochmütiger. Er benötigte den Geist. Er schrie nach dem Gefängnis einer Absolutheit, weil sein Herz leer lief. Er mußte einem Geistgötzen dienen, weil er niemanden liebte. Nicht einmal sich selber …

Wir betrachten nun die drei Bücher, die drei Akte des vorzeitig abbrechenden Trauerspiels.

Das erste Buch des Neunzehnjährigen »Die Rückständigkeit des modernen Freidenkertums« fand schon die Grundmelodie, die in den folgenden Büchern nur reicher instrumentiert ward: die Kritik des Zeitgeistes als eines Aberglaubens an die Wissenschaft. Zwei Naturforscher galten ihm als die Oberbonzen dieses Zeitaberglaubens: Ernst Haeckel und Wilhelm Ostwald. Daneben aber an tausend Seitenaltären sah er zahllose kleinere Bonzen amtieren. Bölsche, Büchner, Woltmann, Strauß, Bebel, Krapotkin und wen nicht alles. Was aber hatte der Knabe gegen die Wissenschaftspriester jener Tage? Mit kalter Schärfe legte er dar, daß all ihre wissenschaftliche Lehre eine Religion sei. Weit abergläubischer und unglaubwürdiger als das mittelalterliche Christentum. Er zeigte die Windigkeit der Begriffsgötzen: Energie, Substanz, Materie. Die Ungeprüftheit der üblichen Fragestellungen, wie der Frage nach dem Verhältnis von Seele und Leib. Den naiven Realismus der Voraussetzungen, wie der Annahme eines »Ding an sich« als Kosmos oder als Geist.

Kurz: Er mobilisierte das Zeughaus der Kantischen Kritiken gegen die dreisten Dilettanten, welche sich rühmten, Freidenker und Monisten zu sein, ohne auch nur wissenschaftlich fragen gelernt zu haben.

Drei Jahre später tat er einen Schritt weiter. Jetzt hatte er bereits durchschaut, daß der Wissenschaftsdünkel der Menschheit nur an einer einzigen Stelle wirklich verwundbar ist. An der Stelle, welche heißt: »Sinngebung des Sinnlosen.« Denn im Grunde ist die ganze Menschheit fundiert in einem einzigen Wahn: in dem Wahn Geschichte. Und die drei großen Schamanen dieses neuzeitlichen Entwicklungswahnes hießen Hegel, Marx und Darwin.

Max Steiner war Naturwissenschaftler, und so sammelte er sich zum Panthersprung gegen den Einen: Darwin.

Es wurde ihm leicht, nachzuweisen, daß die Lehren der Biologie (vitalistische wie mechanistische) über alle Hürden der Erkenntniskritik hinwegsetzten. Aber es muß gesagt sein: Max Steiner war kein stärkerer Kopf als es Darwin war. Wer von Entwicklung und von Geschichte redet, der müßte uns doch zunächst sagen, was Zeit, lineare Folge oder Progreß eigentlich bedeutet. Steiner braucht Begriffe wie Entwicklung, Stufen der Entwicklung, Kulturprozeß. Er redet vom Aufwärts und Abwärts der Kultur. Er spricht von Stark und Schwach und von Rangordnung des Lebens. Vom Austilgen der Minderlinge und Aufstieg der Besseren. Was aber sind denn solche Phrasen je anderes gewesen als Sinngebungen des Sinnlosen? Schwärmt unser Ameisenhaufe vom »Fortschritt«, von »Kultur«, so heißt das nichts anderes als: Wir haben Erfolg gehabt, und was den Erfolg hat, das ist das Richtige. Steiner suchte nach Norm und Axiom. Aber er blieb befangen in einer Naturgeschichte der Werte. Er sah mit Recht, daß Wahrheit nur absolute Wahrheit sein kann. Aber er kam aus der »Relativität« nie heraus. Er war einer gräßlichen Klugdummheit verfallen. Der hoffnungslosen Verdummung des Menschen an Logik und Ethik.

Aber wenn auch Steiners philosophische Gedanken um nichts überzeugender waren als die Darwins, so war er doch an einem Punkte dem Zeitalter überlegen. Er war der Zuendedenker falscher Theorien. Er scheute sich nicht vor letzten Konsequenzen. Und es gibt keine bessere Art, ein System auf immer zu widerlegen, als indem man es zu Ende baut, und dadurch zeigt, daß die Säulen nicht tragfähig sind.

Max Steiner zeigte das an zwei Hauptsäulen. An der Lehre vom »Kampf ums Dasein«. Und an der Lehre vom »Aufstieg der Begabten«.

Darwin und seine Nachfolger hatten gelehrt, daß die Schwachen und Kranken von den Starken und Gesunden verdrängt werden. Die große Meisterin die Not (so lehrte Darwin) verbürgt eine Auslese der Arten und eine höhersteigende Ertüchtigung.

Schön und gut! Wie kommt dann aber der Mensch dazu, diese Ertüchtigung zu unterbrechen? Wie kann er sich in den Kerker der Moral einsperren? Müßten wir nicht auf Grund unsrer Erkenntnis der Naturauslese die christliche Ethik, Sozialismus und Altruismus zum Teufel schicken? Wenn die Natur den Aufstieg von der Monere bis zum Menschen zuwege brachte mit den Mitteln des Krieges wider den Schwächling, wie kommt dann der Mensch dazu, den Schwächling heilig zu sprechen und durch eine gefühlvolle Mitleidsethik das Entwicklungsgesetz der Natur zu durchkreuzen? Steckt in der Natur wirklich eine Geschichte und ein Aufstieg, dann kommt alles darauf an, diesen Aufstieg nicht zu stören. Die Moral der christlichen Jahrtausende also verfährt gegenlebig. Sie will Gegebenes erhalten, aber nicht höher steigern. Sie macht aus der schönen Raubtiererde ein Siechenhaus für geistige Wesen. Die Vergesellung der zahllosen Schwachen gegen die wenigen hochgewachsenen Starken nennt man Fortschritt. Und grade dieser menschliche Fortschritt unterdrückt den Fortschritt der Natur.

In eisenklirrenden Sätzen von grausamer Kälte wird dargelegt, daß nur ein Einziger, Friedrich Nietzsche, ein wirklich konsequenter Darwinist gewesen sei. Er allein hat aus der Biologie die richtigen Folgerungen gezogen: Kampf gegen Judentum und Christentum. Ersatz der Nächstenliebe durch Fernstenliebe. Umwertung aller Werte. Befreiung der vom Geiste aus geknebelten, zum Wachstum einer neuen Überart nötigen Affekte, Gewalttriebe und Blutinstinkte. Kurz: Befreiung des Stärkeren.

Die ehernen Sätze schreiten, als wenn sie nicht von Max Steiner, sondern von Max Stirner geschrieben wären. Denn hinter dem alten Haß wider das Freidenkertum und die Sentimentalität des christlichen Liebesgesäusels taucht mit rotflammendem Antlitz hervor: ein zweiter, stärkerer Haß. Der Haß gegen die Liberalen und die Demokraten. Gegen die Sozialisten und Kommunisten. Gegen die Diktatur der Mehrheit.

Steiner bekennt sich als Individualist, Anarchist, Nihilist. Und er zeigt sein Recht dazu, indem er auch die zweite Säule der Entwicklungslehre mit Simsonkraft zerbricht: die Lehre von der Umwandlung der Arten zu neuen Arten vermöge der Varietät.

Er zerbricht sie, indem er zu Ende denkt.

Wie denn? Die Biologie verkündet durch den Mund fast aller Naturforscher, daß der Unterschied des niedrigsten Menschen zum höchsten Menschen, etwa eines Buschkaffern gegen einen Goethe, weit größer sei, als zum Beispiel der Unterschied zwischen dem Buschkaffern und einem wohlerzogenen Menschenaffen. Warum dehnt man also die Gültigkeit des Sittengesetzes nicht auch auf den Menschenaffen aus? Wie kommt man überhaupt dazu, von besonderen Menschenrechten zu reden? Von einer einheitlichen Erdenmenschheit mit einem Gewissen, einer Logik, einem Sittengesetz? Folgerichtig müßte die Entwicklungslehre in den Glauben des Heidentums münden: »Tiere und Pflanzen sind unsre Brüder. Das Gebot der Liebe gilt für alles Leben.«

Aber statt dessen verkündigt man Menschenliebe! Schämt man sich nicht dieser Humanität? Dieses Glaubens an das »Gleiche Recht für alle«? Wo man doch im selben Atem lehrt, daß die differentielle Vielfältigkeit der Naturgestalten der Hebel alles Fortschritts gewesen sei und daß nur der Unterschied der Arten zu immer höheren Typen geführt habe?

An diesen zwei wunden Punkten (erstens: notwendiger Kampf um die Futterplätze; zweitens: notwendige Vielfältigkeit der Werte) bohrt Steiner der Naturwissenschaft das Messer der Logik ins Herz. Er zeigt, daß »natürliche Auslese« sich nie vereinen läßt mit christlicher Nächstenliebe, und daß die notwendige »Ungleichheit der Arten« nicht zusammen bestehen kann mit sozialer Demokratie.

Wie aber kommt es, daß die Naturforscher das nicht längst gesehen haben? Sie wollen es nicht sehen! Aus Trägheit, Feigheit, Knechtschaffenheit. Aus Angst vor den Vorurteilen der Masse. Diesen Zustand der Lüge verklärt man heute als »voraussetzungslose Wissenschaft«.

Zum Schluß des Buches kündigt sich leise die Peripetie an und der dritte Akt. Steiner wendet sich an die katholische Kirche. Er gibt ihr den Rat, ihre Taktik zu ändern. Sie solle nicht länger gegen Modernismus, Fortschritt und Entwicklung kämpfen. Sie solle sie einfach beim Wort nehmen. Die Kirche müsse den Modernismus zwingen, bis zum Letzten folgerichtig zu sein. Dann zerplatzt der Bovist. Es zeigt sich, daß aus dem Windei nichts zu erbrüten ist.

Wir kommen damit zum letzten Akt.

Wir wissen nicht, wie sich die letzte Wende vollzog. Wir hören, daß Max Steiner eines Tages sich zurückzog von seinen »Aktivisten« und für alle seine früheren Pläne von Tat und Ziel nur noch Spott zeigte. Daß er monatelang unsichtbar in seinem Hofzimmer las und schrieb und schließlich, schlicht und als ob daran nichts Besonderes sei, den Gefährten mitteilte, daß er übergetreten sei zur katholischen Kirche. Wie in seiner Heimatstadt Prag einst der schöne Judenknabe Pius Morteira aus dem Ghetto verschwand und dann eines späteren Tages ebenso rätselhaft wieder auftauchte als ein Zögling der Jesuiten und Eiferer des allein seligmachenden Glaubens, so hatte auch Max Steiner plötzlich sein Damaskus erlebt.

Er sagte entschuldigend: »Zum katholischen Klerus fanden nur die ganz Groben oder die ganz Feinen den Weg.«

Steiner wollte mit seiner Taufe nichts erreichen. Er suchte keine Hilfe und keinen Vorteil. Er lebte nach seinem Übertritt noch karger und noch elender als zuvor.

Die katholische Kirche hat Hunderttausende Juden verzaubert. Jesuiten, Benediktiner, Franziskaner geben in stillen Klöstern auch klugen Juden Zuflucht. Und immer waren Juden zugelassen selbst zum Stuhle der Bischöfe und Prälaten.

Welches Gefühl aber wäre so beruhigend wie die Gewißheit, mit zwei Dritteilen aller Menschen in Gemeinschaft leben zu dürfen? Wir begreifen solche Bekehrungen und kennen ihrer viele. Die Konversion der überklugen Laura Marholm, des übergewaltigen Theodor Haecker. Wir lernen solchen Weg verstehn aus dem Büchlein Theodor de Bussières über die Bekehrung des Straßburger Juden Alphons Maria Ratisbonne und aus den monumentalen Apostatenbriefen von Robert Kosmas Lewin. So war er denn also im Hafen. Wie aber singt doch der Dichter:

»Coelum, non animum mutaris,
per mare currens.«

»Du änderst den Himmelsstrich, aber nicht dein Herz,
Und flöhest du über Meere.«

Wir haben an Max Schelers sturmbewegtem Leben (diesem Leben des wahren jüdischen Kain) gesehen, daß dem Geiste des Ruhelosen die stillen Häfen furchtbarer werden können als Sturm und Meer.

Max Steiner war kaum im Hafen, da trieb es ihn zur dritten Weltumsegelung. Über sein drittes unvollendetes Werk schrieb er den folgenden Satz des Epiktet: »Was geht es mich denn an, ob die Welt aus Atomen besteht oder aus welchen Stoffen? Mir kommt es darauf an, daß sich das Gute vollende.«

Was wollte Max Steiner? Eine Menschheitsethik, eine Glückseligkeitslehre als Gipfel der Wissenschaft. Ist das der Weg eines religiösen Menschen? Fromm sein heißt still sein und im Schönen ruhen. Wer aber in Not schmachtet, krank, müde, hungrig, in die Defensive geboren, wer aus Jahrtausenden des Leidens im alten Blute trägt: den Durst nach Gerechtigkeit, wie könnte der naturunmittelbar und lebensnahe ohne Gegrübel sich ans Lebendige verschenken?

Er muß ordnen, wählen, hadern, richten, tätig sein. Das aber heißt die Natur, auch die eigene Natur unter die Gewalt des Geistes beugen. Besessen vom Geiste der Utopie, auch dort wo er Realist zu sein wähnt, ist der sittliche Mensch geboren zum Widersacher des Traums. Er muß zerlegen, auch wenn er aus Trümmern herrlichste Synthesen baut. Er muß verneinen, auch wenn jede seiner Überwindungen Positivität atmet. Er muß Pessimist sein, auch wenn er Freude für alle sucht. Denn jede Ethik (sie sei wie immer sie sei) muß eo ipso das Gegebene umstürzen. Jedes Ziel ist verneinend. Jede Form Mord.

Schön ist lebende Natur. Sittlich nie. Nur der Frohe und Fromme, Liebende, Glückliche hält ihren Kern. Nie der Abgedrängte, nie der Arbeitende. Der muß auswerten!

Gewiß, Moralwille, Moralforderung, Moralpredigt, Morallüge, die gibt es und muß es geben, so sicher wie Haß und Wut und Neid und Not und Kampf und Krieg. Daraus wachsen Staat und Ethik. Kultur ist Haß. Werte sind Haß. Werk ist Haß.

Der Jude im ewigen Galuth fühlt tiefer als jeder andere die sittliche Raserei. Er ist der Prophet. Also: der nichtreligiöse Mensch. Denn Prophetie – aktiv oder passiv, mit Gott im Ringen oder von Gott begeistet – ist Enthusiasmus und Befreiung zum Geist. Religion aber ist Erlösung vom Geiste. Die erfährt der vom Leben Geliebte. Und nur wer liebt, wird wieder geliebt. Der ist nicht Harfe und nicht Harfner.

Dieser war ein Chemiker, Zerleger und Wisser von Natur und Leben, also der ihnen Fernste.

Noch einmal trete sein edler Schatten in das kahle Hofzimmer im Norden Berlins. Es ist der Morgen vor seiner Prüfung. Er hat den neuen Anzug angezogen und die neue Krawatte gebunden und prüft den neuen Hut. Dann tritt er ironisch vor den schäbigen Wandspiegel. Er sieht sein Bild und lächelt bitter.

»Glückauf, Herr Doktor! … Und dann? … »Geheimrat Fischer vermittelt vorteilhaftes Engagement in Seifenindustrie …« Und dann? »Heirat! Kinder! Pflichten wie alle! …« Die Eltern werden sagen: »Endlich vernünftig geworden!« – Es lebe alles, was ich gehaßt habe … Ist es noch der Mühe wert? Lohnt die Plackerei und Zappelei? … »Täglich zehn Parasangen weiter durch die Wüste!« – sagte das nicht immer der alte Èermak im Piaristengymnasium zu Prag? Èermak, genannt Rosche. »Xenophon, Kapitul acht …« Geschichte eines Abstiegs. Und unterwegs stirbt mein Volk. Und das neue Volk ekelt mich. Was bleibt noch? »Das Opfer des Intellekts.« Aber »den Geist aufgeben«, das fällt mir eben ein wenig schwerer als anderen Leuten. Mit deren Opfer ist es nicht so weit her … Wo also ist die Pforte ins Leben? Nein! – Morgen heiße ich nicht: »Herr Doktor«. Sondern: Herr Staub, Herr Wind, Herr Baum, Herr Stein. Und das ist Ewigkeit. Seligkeit. Vollendung. – Jedenfalls das Ende dieser Not.«

Auf den bitteren Schläfer im schmalen Bett schlich vom Hofe her das schöne Licht des schönen Junimorgens und beleuchtete die kindlich schmächtige Gestalt im schwarzen Festkleid. Und von der Wand blickten drei Menschengesichter. Seine drei großen Lehrmeister. Die Bilder von Kant, Schopenhauer und Nietzsche.

Keine Blume tröstete den kahlen Raum. Hätte er doch ein paar Hyazinthen gepflegt. Oder hätte während seines Ankleidens ein fröhlicher kleiner Vogel an seinem blonden Wuschelhaupte gepickt.

Vielleicht wäre er doch herausgekommen aus der Sackgasse seiner Logik und seiner Ethik.

Auf einen der zehntausend bescheidenen Wege des bescheidenen lieben Lebens.


 << zurück weiter >>