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V.
Das Leiden des Selbsthasses – Seine drei Wege – Die Heilung

1.

Nun aber stelle ich mich schützend vor den mißborensten und ärmsten Sprößling des Ghetto und richte an die nicht jüdische Welt einige Fragen:

Wißt Ihr, was es bedeutet: dem Boden fluchen, darauf man wachsen muß? Aus seiner Wurzel Gift trinken anstatt der Nahrung? Wißt Ihr, was es heißt: Schlechtgeborensein aus dem Ehebette der Berechnung und der oberflächlichen Selbstsucht? Schlechtgeborgensein, sei es verwahrlost oder sei es verzärtelt, sei es verweichlicht oder sei es verprügelt? Und nun ein Leben lang hassen, ganz sinnlos hassen, den Vater, die Mutter, die Lehrer, die Bildner, alle, die uns nach ihrem eigenen widrigen Bilde gezeugt und geprägt haben, ohne daß wir doch zur Welt kommen wollten, so zur Welt und in eine solche Welt?

Wir haben überall und in allen Völkern das selbe Schauspiel der »Verameisung« und »Verköterung«, der sinnlosen Vermehrung von Fabrikware der Natur, deren Mehrzahl schlechtgeboren oder schlechtgeborgen ist.

Aber wenn denn auch schließlich in allen Völkern die Mehrzahl aller Personalschicksale mißrät und wenn denn auch schließlich in allen Völkern das Vollkommene und Geglückte selten ist, ein Volk ist wie ein großer Strom, der auch alle dunklen Zuflüsse in sich aufnehmen kann, weil er zuletzt doch alles zurückverwandelt in die klare lautere Woge.

Auch der Elendeste atmet als ein Blatt des lebenden Waldes. Sein Volkstum trägt ihn. Eine gepriesene Geschichte nimmt ihn auf. Eine erlaubte Kultur verbraucht auch ihn als einen Klang im Chore der großen Gemeinschaft.

Der Jude steht draußen. Sein Volkstum war durch Jahrhunderte ein kleiner stiller See, der immer in Gefahr war, in Sumpf zu verschlicken. Keiner war bei ihm als seine Toten, und deren Sprache hatte er verlernt. Keine Erde trug ihn, keine Geschichte entsühnte ihn, keine Bildung war seine; sein Held war: der Dulder.

Wir sprechen alle gern das schöne Wort: »Wohl dem, der seiner Ahnen froh gedenkt.« Was nun aber soll ein Kind tun, das sich mit Scham abwenden muß von Ahnen, die ohne Verantwortung alle Energien des Geschlechtes ins Leere verspielend, ihn, den Enkel, als einen Zufall ins Leben warfen? Ein solches Kind, ringsum von Gemeinem und Unzulänglichem umschränkt, verbraucht seine armen Kräfte an das gehässige Zerren wider unlösbare Ketten.

Man lehrt uns immer »Gemeinschaft«. Man sollte Einsamkeit lehren. Denn Gemeinschaft sucht jeder ohnehin. Einsamkeit ist die Sache der Seltenen. Es ist wohl möglich, daß ein Mensch die Gemeinschaft, in der er geboren und erzogen wird und durchs ganze Leben verbleibt, aufs tiefste haßt, dennoch aber völlig unfähig bleibt, jemals sein Privatschicksal von dem Gemeinschaftsschicksal abzusondern.

Es gibt zahllose Juden, die beständig wider »Kille und Mischpoche« hadern und dennoch nach dem schrecklichen Volkswort leben: »Bind mir die Händ' und bind mir die Füß', aber werf mich in die Familie.« Wie ist das zu erklären? –

Was denn würde den Entwurzelten auf der Gegenseite erwarten? Er hätte insgeheim das schmachvolle Bewußtsein zu ertragen: »Eigentlich gehöre ich nicht hierher. Sie sind hier zwar auch nicht besser als ich es bin, sie leisten auch nicht mehr als ich leiste. Aber eines haben sie, was mir offenbar mangelt: Sie lieben sich selber.«

Wie kommt es, daß alle Menschen sich selber lieben, und nur der Jude liebt sich selber so schlecht? Wäre er unter Leidensgenossen, so wäre er im Zusammenbruch unter seinesgleichen. Aber er ist im schwersten Schicksal allein. Dann aber kommt mit anwachsender Selbsterkenntnis früher oder später und meistens entsetzlich früh, die grausame Stunde, wo der frevelhafte Kampf der Pflanze wider ihren Boden umschlägt in eine bittere Selbstzerklüftung.

Kann denn ein Wunder geschehn? Sollen Rosen wachsen aus dem Sumpfe? Hat je Lorbeer geblüht in der Wüste?

Du bist verpfuscht. Für dieses Leben und so für immer. Und so bleibst du. Und so nach Sternengesetz sollst du dich erhalten. Warum denn soll ich mich erhalten, da ich mich nicht liebe?

Und wenn du schon die andern nicht ertragen kannst, wie dann erträgst du dich selber? Denn im Spiegelbild der Umgebung siehst du jede deiner Schwächen vertausendfacht. Zerschlage den Spiegel, du zerschlägst nicht das Bild. Die du verdammst, sind das Leben deiner Brust.

2.

Welche Auswege bleiben dem so Beladenen? Ich sehe ihrer drei.

Erstens: Es ist möglich, daß just der fehlhaft Geborene zum Weltrichter wird. Er wird Zuchtmeister, Eiferer, Sittenforderer, Bußprediger. Denn es gibt eine Kraft des Ethos, die nur steigen kann aus einem verdorbenen Blute. Dieser Moralismus martert die Nächsten (die zugleich die Fernsten sind) mit erhabenen Forderungen, die sie nicht erfüllen können. Ja, die in den meisten Fällen auch der Prophet selber nicht erfüllt. Er steigert sich am Geiste aus sich selbst hinaus. Er steigert sich auch über die ungeliebte Welt hinüber. Das geht, solange er im Geiste lebt. Aber wehe! wenn er von seinen Flügen zu Boden stürzt. Er ist kein Antäos, der, wenn er die Mutter berührt, immer doppelte Kraft zum Fluge davonträgt. Er ist nur ein bewegter Ball, vom Schicksal geschleudert. So oft er die Erde berührt, wird sein Schwung gelähmter, bis er zuletzt an der verhaßtesten Stelle liegenbleibt. Zweifler, Verzweifler, am Geiste verbraucht! Und dann entdeckt er, was er nicht sehen wollte: »Ich bin ein Gleichgewichtloser, der sich selber ausglich. Ein Priester, der aus seiner Not eine Tugend machte. Ein Verlogener, der seine Lücken mit Idealen stopfte. Ein Anbrüchiger, der seine Unlust an sich selber wider andere kehrte. Ein Schwindelnder, der im Äther lebt, weil er auf der Erde keine Stelle kennt, wo ihm nicht ekelt vor Mensch und Erde.« –

Dieser Weg also endet im Seelentod. – Nun der zweite:

Der zweite Weg – edler und größer als der Weg der Weltrichter und Propheten – kehrt alle Stachel ausschließlich gegen das eigene Herz. Du sprichst die andern frei. Du wirst dein eigener Richter und Henker. Du liebst das Fremde mehr als dich selber. Du schenkst gläubig ganz dich dahin. An den Freund, an die Geliebte … Wehe dir!

Du hast dein Herz zum Schemel gemacht, also wird es zertreten werden. Je mehr du gibst, um so sicherer wirst du verbraucht. Ohne Dank verbraucht, weil ohne Sehen.

Du kehrst deine Waffen gegen dich selbst. Du zeigst dem Freunde, wie du verwundbar bist. Unseliger! Er wird dich eines Tages morden mit den Waffen, die du selber ihm gabst. Rede von dir schlecht, es kommt sicher ein Tag, wo auch die Geliebte das gebrauchen kann. Gegen dich gebrauchen. Sei Menschenschinder, und die Menschen werden dich verehren. Sei Wüterich, und sie werden dich ehrlich lieben. Aber mache dich zum Lamm, und die Wölfe werden dich fressen.

Biete dich zum Opfer dar – gut und wohl! sie werden dir die Hände küssen und sodann das Schlachtfest feiern. Die du am tiefsten liebtest, werden dich schlachten. Und sie werden ihre Tat nie erkennen. Also nie bereuen. Und wär's eine Schurkentat, die verächtlich machen sollte für Zeit und Ewigkeit. Sie werden immer Gründe haben, sich zu segnen. Sie opfern dich in guten Treuen. Denn wer sich nicht selber genug liebt, den liebt niemand. Und niemand erbarmt sich.

So endet dieser zweite Weg. In Schlimmeres als Seelentod. Es bleibt der dritte:

Die große Wandlung gelingt, jede »Mimikry« gelingt. Du wirst »einer von den andern« und wirkst fabelhaft echt. Vielleicht ein wenig zu deutsch, um völlig deutsch zu sein. Vielleicht ein wenig zu russisch, um völlig Russe zu sein. Und gerade weil dir das Christliche noch so neu ist, stellst du es etwas zu geflissentlich heraus. Aber immerhin: Nun bist du geborgen. Wirklich?

Dein Leichnam ist geborgen. Du bist tot. Mit deinem Zwiespalt bist du gestorben. Du gingst den Weg des Selbstmordes zu Glück und Ruhm. Aber zutiefst in deiner Seele weinen Millionen Tote, und die Toten sind mächtiger als all dein Glück und Ruhm.

So wären denn alle Wege vergeblich. Was soll geschehn?

3.

Laßt uns vor allem die Wahrheit suchen, die grausame Wahrheit! Unsre Wunde kann entweder überhaupt nicht genesen, oder sie heilt im Licht. Bist du schlechtgeboren oder schlechtgeborgen, lastet auf dir die Schuld der Väter oder die Schuld der Fremden oder eigene Schuld, versuche nichts abzuhandeln, nichts zu beschönigen, nichts zu vergolden.

Sei was immer du bist und vollende in dir das jeweils Bestmögliche. Aber vergiß nicht, daß schon morgen du und diese ganze Menschenwelt verwest und wieder anders ist.

Kämpfe, ja kämpfe unaufhörlich. Aber vergiß nicht, daß jedes Leben, auch das schadhafte, auch das verbrecherische, Liebe benötigt.

Kein Wesen kann mehr, als sich erfüllen, so gut und solange Boden, Witterung und Klima das zulassen.

Wir nehmen alle unser Dasein viel zu wichtig.

Wer du bist? Sohn etwa des fahrigen Handelsjuden Nathan und der trägen Sarah, die er zufällig besamte, weil sie ihm genug Geld in die Ehe brachte? Nein! Juda Makkabi war dein Vater, Königin Esther deine Mutter. Von dir, von dir allein aus geht die Kette, wenn auch über noch so schadhafte Glieder, auf Saul und David und Moses. – Sie sind in allen und immer gegenwärtig. Und waren seit je und können morgen wieder sein.

Trägst du ein belastetes Erbe, gut! Entlaste dein Erbe. Deine Kinder werden dir verzeihn, daß du deiner Eltern Kind warst. Betrüge nicht dein Schicksal. Liebe dein Schicksal. Folge dem Schicksal. Und folge auch in den Tod. Getrost! Durch alle Höllen unsres menschlichen Ich gelangst du immer wieder in den Himmel deines Selbst. Zu deinem ewigen Volke.

siehe Bildunterschrift

Karl Kraus


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