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III.
Psychologie und Pathologie des Selbsthasses – Logik und Moral des Selbsthasses – Propheten und Psalmisten

1.

Über das Thema »Selbsthaß« wird in diesem Buche gesprochen werden. Das ist ganz und gar nicht ein nur jüdisches Thema. Es ist ein Phänomen des gesamten Menschengeschlechtes! Aber dieses allgemein menschliche Phänomen »Selbsthaß« kann an der Psychopathologie der jüdischen Volksgeschichte besonders glänzend beleuchtet werden.

Wer das Phänomen »Selbsthaß« ehrlich ergründen will, der muß tief in die Tiefe steigen. Bis zu jenem Punkte, wo aus einem vormenschlichen Elemente zum ersten Male der Menschheit geistiges Bewußtsein das fragende und klagende Auge aufschlägt.

Wir müssen hinabtauchen in einen Urgrund, wo aus der allverschlungenen All-Einheit, welche weder Ich kennt noch Du, zum ersten Male die große Ich-und - Du-Spaltung hervorblitzt. Hüben ein wissendes Subjekt; drüben die abstellbare Welt von »sachlichen Gegebenheiten«. Das ist keineswegs ein »abnormes« Phänomen (es sei denn, man betrachtete das ganze Dasein des Geistes als eine Krankheit). Es ist das Wunder des Geistes selbst, welches fügt, daß in der menschlichen Kreatur das Leben sich wider sich selber kehren, lebenspolar und schließlich lebensgehässig werden kann.

Die Blume, der Baum, der Quell, das flutende Wasser blühen fraglos-sicher im Banne des Rhythmus.

Unbekümmert und selig in sich selbst atmet in Ewigkeit alle Natur. Nur im Feurigbewegten, im schweifenden Tier (am deutlichsten im verhäuslichten Tier), finden wir schon einige Ansätze zum – Selbsthaß.

Eine ungeheure Macht »angegeistigter« Leidenschaft (die Machtgier, die Rachsucht, das Mitleid, die Reue) sind unterströmt von diesem heimlichen Selbstzerstörerdrange. Von einem geheimen »Erlöserschmerz«, einem wunderlichen Triebe alles begrenzten Lebens, seine Grenze zu vernichten. Schon im Tiere gibt es Zustände der »Selbstqual«, zum mindesten im eingeengten, vermenschlichten und erkrankten Tier. Und bei diesen primitiven Zuständen müssen wir ansetzen, um den Bruch zu verstehen: Die lebenzerklüftende Krankheit, der das älteste der Völker auch als erstes anheimzufallen droht.

Man hat das Rätsel: »Selbsthaß« sich zu leicht gemacht.

Mit billiger Seelenkunde verkünden die Lehrbücher der Psychologie: »Die Menschen zerfallen in Selbstfreudige (Philautoi) und Selbstanbohrende (Misautoi). Und alles menschliche Wirken ist das eine Mal der naive Ausdruck und die unmittelbare Ausdrucksspur unsres natürlichen Lebens. Das andere Mal aber stammen unsre Werke und Taten aus unsern Bedürfnissen nach Ausgleich, Ergänzen und Ausheilen. Sie offenbaren dann nicht, was wir sind, sondern was wir sein möchten. Höhenbilder, Sehnsuchtsbilder oder Ideale stehen vor uns, und wir werden nicht mehr froh, bis wir sie an uns verwirklicht haben.« – Es gab Zeitalter, die mit dergleichen billigen Gegenüberstellungen zu spielen liebten. Sie redeten von dem Gegensatz zwischen »naiv und sentimental«, »unmittelbar und mittelbar«.

Heinrich Heine spöttelte: »Meine deutschen Freunde behaupten, ich sei nicht wie sie ein naives Genie, sondern habe nur das bekannte jüdische Talent, immer nur so zu tun als ob. Da ich nun aber die feste Absicht hege, in jedem Augenblicke meines Lebens und bis zu seinem Ende fortzufahren, so zu tun als ob, so hoffe ich, daß im Ergebnis genau das gleiche dabei herauskommen wird, als wenn ich, wie meine Freunde, naiv gewesen wäre.«

Die Klage Goethes über das Zeitalter, darin »ein jeder jeden andern hasse und niemand sich oder dem andern etwas Gutes gönne«, weist hin auf das selbe Phänomen. Goethe bezeichnet es gern mit dem griechischen Worte: »Heautontimorumenie« (Neigung, sich selber zu quälen). Er sagt wiederholt, daß dies Leiden des modernen Menschen darauf beruhe, daß er im Kern »von sich selber schlecht denke«. Das sei aber eine Krankheit, die in Zukunft sich weiter ausbreiten werde.

Wie sehr diese Krankheit im jüdischen Volke verbreitet ist, bezeugen zahlreiche Volksworte und Redensarten, wie denn wohl kein anderes Volk eine solche Fülle selbstkritischer, ja selbstironischer Weisheit aufzuweisen hat. Man hört auch heute noch Sätze wie diese: »Der Jude kann nicht Jontef feiern« (d. h. er muß sich immer das Leben schwer machen). Oder: »Wo der Goj lacht, da weint der Jüd.« Sehr viele tiefe Einblicke in den Zusammenhang des Leidens mit dem Geiste, des Wissens mit der Not gehören zum ältesten Erbgut des leidendsten und daher gewitztesten unter den Völkern. »Gott wird nur in den Schwachen mächtig.« »Wissen ist Leiden.« »Der Buckel macht witzig.« »Not lehrt beten.« Solchen Erkenntnissen gemeinsam ist die Herleitung des Reiches menschheitlicher Werte aus einem Negativum des Lebens. Und von dieser Einsicht in das Negative ist der Selbsthaß nur der unvermeidliche Schatten.

Kennzeichnend ist eine ebenso alte wie oft erwähnte Anekdote. Ein Ostjude in jüdischer Kleidung macht es sich in einem Eisenbahnabteil bequem, indem er die Füße auf die Polster des gegenüberliegenden Sitzes legt, als ein modisch gekleideter Fremder einsteigt, worauf der Jude seine schmutzigen Schuhe zurückzieht und den Herrn um Entschuldigung bittet. Dieser beginnt ein Gespräch mit der Frage: »Fahren Sie über Pessach auch nach Hause?«, worauf der andere, im Fremden den Stammesgenossen erkennend, die Beine auf die Polster zurücklegt mit dem beruhigten Ausruf: »E soi.«

Diese geheime oder offene Selbstmißachtung verkennt das Große und Schöne gerade darum, weil es aus jüdischem Boden steigt. Als stünde immer noch in Blüte der alte Zweifel: »Was kann Großes kommen aus Nazareth? Wie können Propheten wachsen in Galiläa?«

Der Begriff »jüdischer Antisemitismus« scheint ein Widerspruch in sich selber zu sein. Aber er ist es so wenig, daß, wenn irgendwo von einem Juden gesagt wird, er sei ein Rosche (Judenhasser), die andern alsbald rufen: »Das ist echt jüdisch.«

Es bedürfte einer langen Untersuchung, um vollständig festzustellen, aus welchen Quellen (fruchtbaren wie vergifteten) diese Neigung zur Selbstverkennung steigt. Hier sei nur darauf verwiesen, daß das erniedrigte Selbstgefühl lange Versklavter im Befehliger oder im Verächter den geborenen Herrn sieht, während der aus dem eigenen Leidenskreise Entborene auf das unausgesprochene Vorurteil stößt: »Dieser kann nichts Rechtes sein, denn sonst würde er nicht mit uns an einem Tische sitzen.« Oder: »Was kann dieser Mann schon gelten; er ist ja nicht anders wie wir.«

2.

Um aber in den Kern und in die Tiefe der Erscheinung »Jüdischer Selbsthaß« zu blicken, dürfen wir eine gründliche Untersuchung nicht scheuen. Wir müssen uns der folgenden Frage zuwenden: Bei welchen Vorgängen oder in welchen Zuständen pflegt der Mensch die ausgewogene Einheit des Lebens zu spalten? Bei welchen Vorgängen oder in welchen Zuständen ist der Mensch »bruchlos«?

Da dürfte es denn zunächst keine unwichtige Entdeckung sein, daß ein Zwiespalt immer nur im Wachzustande gegeben sein kann. Also nur dort, wo das vorbewußte und unbewußte Leben beobachtet und widergespiegelt wird. Jedes Gegenständlichwerden von Erlebnissen setzt schon voraus diesen Akt des »Selbstentfremdens«. Ohne eine Spaltung erstens in »Erleben« und zweitens in »Reflexion auf Erleben« würden nicht vorhanden sein Erscheinungen, wie z. B. die folgenden: Urteilskraft, Aufmerken, Witz, Verstand, kritisches Ordnen, Auswerten, Vermögen der Wahl, Wollen, Sichentscheiden. Alles »Meinen« setzt die Zwei und Zweiheit voraus.

Dagegen hat »die Zwei und Zweiheit« auch nicht die mindeste Bedeutung im ganzen Umkreis jener Erlebnisse, die man als religiös (im eigentlichen Sinn) bezeichnet, und ebenso nicht für jene rein rezeptiven Vorgänge, die man mit einem hoffentlich bald aus der Sprache verschwindenden, irreführenden Verlehrtenwort »ästhetische« Erlebnisse zu nennen pflegt.

Wir haben sonach zwei Erlebnisgruppen zu unterscheiden. Solche, welche jenseits der »Selbstentfremdung« (d. h. der Subjekt-Objekt-Relation) liegen. Und solche, welche auf dem Fundamente der Selbstverdoppelung (der Subjekt-Objekt-Relation) sich erheben. Die erste Gruppe bezeichnen wir als die religiös-ästhetischen Erlebnisse. Die zweite als die logisch-ethischen. Nur die letzteren sind im engeren Sinn die » menschlichen« Erlebnisse.

Wenden wir uns zunächst der ersten Gruppe zu. Warum denn bilden das Religiöse und das Ästhetische gemeinsam den Gegensatz zum Logischen und Ethischen, also zum eigentlich » menschlichen« Leben?

Es gibt in beiden Arten Erlebnis kein Hüben und kein Drüben. Kein Ich und kein Du. Kein Subjekt und kein Objekt!

»Religiöse – Erfahrung – haben« – heißt: » Eingebundensein ins Absolute.« Es heißt: nicht mehr einem Kosmos gegenüberstehen. Es heißt: über das Nur-Menschliche und das Nur-Bewußte, über das »Geistige« und »Sittliche« hinausgelangt sein und Anteil gewinnen an der unermeßlichen Fülle göttlichen Seins 3.

3) Es wird Widerspruch erregen, es wird besonders innerhalb des Judentums Widerspruch erregen, ja vielleicht ganz unverständlich sein, daß ich grundsätzlich das religiöse Leben und Erleben von allem Logischen und allem Ethischen und mithin vom Geistigen abtrenne.

Man muß in der Tat sehr weit in die Geschichte des Judentums zurückgehen, muß die vielgeschmähten und geflissentlich ausgerotteten heidnischen Elemente des alttestamentalischen Mythos aufsuchen und wieder zu Ehren bringen und das Volk des Buches als das Volk der Scholle empfinden, um ein meiner Auffassung entsprechendes religiöses Judentum zu finden.

Ich habe in »Europa und Asien (Untergang der Erde am Geist)«, zumal in der 2. und 3. Auflage, auf die heidnischen Bestandteile im Alten Testament hingewiesen.

Aus dem deutschen Schrifttum der Gegenwart möchte ich einen Denker namhaft machen, der wie kein zweiter die Bibel als Naturmythos gesehen und hinter allem Rabbinismus und Talmudistik, hinter Logik und Ethik den echten Naturkern des Judentums erkannt hat. Heinrich Berl hat, besonders in seinem kleinen, aber bedeutenden Werk über das »Judentum in der Musik«, sich als den liebevollsten Kenner des Judentums unter allen nichtjüdischen Forschern der Gegenwart bewiesen.

Daß man Religion nicht als »die Seligkeit ewigen Lebens«, sondern als den Kult des ewigen Todes auffassen könne, daß man »Gott« begeistert erläutern könne als » das große Nichts« und den »Weg zu Gott« beschreiben könne als »die fortschreitende Dekadenz und Lebensvernichtung« …, ich hätte es nicht für möglich gehalten. Aber ich will einen modernen christlichen Theologen zitieren.

Konrad Fiedler (»Der Anbruch des Nihilismus«, S. 214) erläutert das Verhältnis des Alten Testaments zum Neuen Testament folgendermaßen:

»Gott und Teufel sind Eins. Hat man schon bemerkt, daß der Gott des Alten Testaments der Teufel des Neuen, der Teufel des Alten der Gott des Neuen Testaments ist? Jahwe ist der Schöpfer dieser Welt (der Demiurg der Gnostiker); er ist es, der die Parole ausgegeben hat: »Seid fruchtbar und mehret euch« (I. Mose 1, 28). Und von ihm stammen alle Güter des Lebens: Essen, Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut, fromm Gemahl, fromme Kinder, fromme und treue Oberherrn, gut Regiment, gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und dergleichen. Der Satan dagegen ist der Zerstörer, der alles von Gott Gegebene wieder zunichte macht. Wir erkennen es deutlich etwa in der Geschichte Hiobs.« – [Notabene: Dieses ist Unsinn: das Alte Testament kennt überhaupt kein außer Gott befindliches Böse. Vgl. oben S. 228.] – »Aber halten wir nun einmal den Bericht von Jesu Versuchung daneben. Welch ein Unterschied! Hier ist zweifellos der Satan der »Fürst dieser Welt«; er hat über die Güter des Lebens zu verfügen, während der Gott in Jesu es ist, der sie negiert und abweist. Klarer noch wird dieses ihr gewandeltes Verhältnis dann bei Paulus in den Briefen an die Römer sowie an die Korinther (vgl. etwa Kor. 4, 4) und am klarsten vielleicht bei Johannes, der geradezu dahin gelangt, festzustellen: »Alles was von Gott geboren ist, überwindet die Welt und unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat« (I. Joh. 5, 4). Wie erklären wir diesen Umschwung? Sehr einfach. Das Neue Testament gibt Religion und das Alte – mit Ausschluß nur etwa der Propheten – gibt das Gegenteil von Religion, gibt Bürgerlichkeit. Leuchtet das ein?«

Ja wahrhaftig! Es leuchtet ein! Es leuchtet ein, daß Ihr »die Welt« und den naiven Realismus Eures ebenso plumpen wie selbstgerechten Geistes mit dem Elemente des Lebens und mit dem Lebendigen verwechselt, daß Ihr weder Wahrheit von Bewußtseinswirklichkeit noch Wirklichkeit von Lebensschwungkraft zu unterscheiden vermögt, kurz daß der christliche Theologe ebensowenig wie der jüdische noch weiß, was Religion ist. Ehrfurcht vor der Pflanze, Anbetung des Tieres, Dienst der Sonne, Dienst der Gestirne, Dienst des Geschlechts, Dionysien, Eleusinische Mysterien, Rausch der Laubhütten – das ist auch einmal Religion gewesen. Ahnt Ihr im Hochmut Eures lebenzerfressenden Geistes gar nichts mehr davon? Ihr verwechselt Europa-Amerika und seinen Kult »Gottes« (das will sagen: des generellen und souveränen Ich), Ihr verwechselt das Christentum, seine »Weltgeschichte«, seinen »Entwicklungsprozeß«, Ihr verwechselt Ethos und Logos mit Religion. Ähnlich frech wie einst Schopenhauer das Nirvana der Veden und der Upanischads grob verwechselt hat mit dem völlig andersartigen Nirvana des Buddha, wie er aufs widerwärtigste Brahmaismus untermengte mit Buddhismus und Christentum, das Judentum überhaupt nicht kennend noch ahnend.


Von ähnlicher Natur aber sind jene Erlebnisse, welche vor allem Wissen um Ding, Ich, Dasein und Existenz uns das »Leben der Dinge« als unser eigenes Leben vermitteln. Vermöge einer Fähigkeit des Ahmens und Einfühlens, welche noch jenseits der Subjekt-Objekt-Beziehung des Bewußtseins verharrt. Anders gesagt: Ästhetisches und religiöses Erleben (mögen sie in ihren Inhalten noch so verschieden sein) sind beide unmittelbares Leben. Dieser Unmittelbarkeit ganz entgegen ist das Wissen um Lebendiges, welches geist-schöpferisch, aber leben-zerstörerisch dem Lebenselemente gegenübertritt. Erst dort, wo dieses Ablösen des Geistes von den Seelen beginnt, da ersteht auch die Möglichkeit des lebenspolaren Hasses.

Wir haben indessen schon bemerkt, daß diese mittelbare und reflektive Einstellung des Lebens zum Leben zwei scharf unterscheidbare Seiten aufweist. Unser »Ich« kann das Lebenselement auf zweierlei Weise übermächtigen. Wissend und wollend.

Das Wissen vom Leben ist zwar selber kein Leben, wohl aber bedarf es eines geduldig treuen Nachgehens auf den »Spuren des Lebens«. Wie ein saugender Parasit passiv aufnehmend, haftet das »logische Ich« auf der Seele und schlürft alle Säfte des Unbewußten auf, um sie zu verwandeln in Gedanke und Form, in die »gewußte Welt wachen Geistes«.

Nicht so das wollende Ich! Wie das werthaltende Urteil »Das soll sein« verschieden ist von dem feststellenden Urteil »Das ist so«, so unterscheidet sich das Wollen von dem Wissen. Es richtet und maßregelt! Es nötigt und drängt das Lebendige, sich nach unserm Wunsch und Anbild zu modeln. Wissen verödet das Lebenselementare. Wollen aber verengt das Element und macht es menschlich.

Beide also, die Logik wie die Ethik, bezeugen eine Fähigkeit des Lebens, sich (im Menschen) gegen das Leben zu kehren. Kehrt sich unser logisches Ich wider die tragende Seele, so ist das Ergebnis: die »Erkenntnis unser selbst«. Vielleicht eine schmerzliche, vielleicht eine entsagungsvolle Erkenntnis. Sicher aber noch nicht ein feindlicher Eingriff in das uns angeborene Sein.

Wehe aber, wenn sich das sittliche Wollen gegen unser angeborenes Wesen wendet. Dann beginnt das Leiden am Ich, die Selbstmäkelei, die erbarmungslose Kasteiung. Dann siegt der Stolz des Geistes über die Unterwelten der Seele.

Begegnen wir also irgendwo dem Phänomen Selbsthaß, dann wird zunächst zu vermuten stehen, daß ein wachend aufmerkender Geist sich zum Tyrannen über das ihn tragende vorbewußte Leben aufwarf. Zu zweit aber: daß im engeren Sinne der wollende und wollend wertende Mensch über den logischen und logisch Urteilenden den Sieg davontrug.

Unsre Psychologie der jüdischen Seele wird beide Vorgänge bestätigen.

Die Entwicklung des jüdischen Menschen zeigt erstens eine (verhängnisvolle) Überhöhung des geistig-bewußten Lebens über das ästhetisch-religiöse. Und zweitens innerhalb des geistig-bewußten Lebens ein bedeutsames Vorwiegen des ethisch-wollenden Menschen über den logisch-erkennenden. – Warum aber ist dem so?

Es handelt sich um einen Sonderfall des allgemeinen Schicksals aller bedrängten, notleidenden, vom Lebenselemente abgeschnittenen Kreatur. Die Psychologie des Juden ist nur ein besonders einleuchtendes Beispiel für die Psychologie der leidenden Minderheit.

Überall muß die Minderheit darauf bedacht sein, sich keine Blöße zu geben. Sie lebt beargwöhnt, wachsam und unter Nachprüfung von seiten ihres kritischen Bewußtseins. Jede bedrohte Gruppe muß auf Selbstbewahrung achten. Daher besteht für sie die Gefahr, daß sie ihre Unmittelbarkeit verliert und in vigilierende Überwachheit hineingerät. Damit aber ist verbunden eine Neigung zu Ironie. Etwas Lauerndes. Ein Danebenstehn. Ein leises Sichselbermißtraun. Indes nicht diese notentborene Wachsamkeit ist die eigentliche Gefahr des jüdischen Wesens. Viel wichtiger ist das Vorwiegen jener gespannten Willensenergie, welche schon Goethe am Juden mit folgenden Bemerkungen gekennzeichnet hat: »Jüdisches Wesen: Energie der Grund von allem! Unmittelbare Zwecke! Keiner, auch nur der kleinste, geringste Jude, der nicht entschiedenes Bestreben verriete, und zwar ein irdisches, zeitliches, augenblickliches. Judensprache hat etwas Pathetisches …«

3.

Das jüdische Volk durfte nicht vor Bäumen und Wolken betend verweilen. Es durfte sich niemals geruhsam hingeben an das Einmalige, Besondere. Immer war es zu kühner Verallgemeinerung verpflichtet. Und immer blasser wurde diese Verallgemeinerung. Der Jude mußte mäkeln und handeln. »Werten« aber heißt: das unmittelbar gegebene Leben vernichten zugunsten und an Hand der aufgegebenen höheren Welt. Jeder »Bau am Ideal« mordet Leben. Denn messen wir das Erlebte auch nur am mindesten Hochbild, was kann bestehn? was kann bleiben?

Im alten Israel war die Waage zwischen Freude am Gegebenen und Bau am Kommenden im Gleichmaß. Das Volk zeugte Psalmisten und Propheten. Im neuen Israel aber sind der Psalmensänger des Lebens immer weniger geworden; der Propheten immer mehr. Schließlich hörte man nur noch sehr selten ein Minnelied an die Gegenwart, aber viele Gesänge der Hoffnung oder des Zorns. Ja, man könnte glauben, daß unser Volk sich so lange umgewandelt habe in das Volk des geistig-sittlichen Wollens, bis der Jude nicht mehr fühlte, was Religion, was Dichtung ist: Geborgenheit und Seligkeit, Ewigkeit und Ruhe! An Stelle der schönen Lieblinge des Lebens traten feurige Eiferer und wütige Gerechtigkeitsmenschen 4.

4) Meine starke Betonung, daß der Prophetismus eine geistig-ethische, nicht eine religiöse Erscheinung sei, erfolgte nicht ohne Gedanken an die schönen Schriften Martin Bubers. Denn die Bubersche Theologie ist durchaus propheteisch.

In dem »Geleitwort« zu den »Chassidischen Büchern« stellt Buber den Glauben des Baalschem gegen den Glauben Spinozas, indem er Israel die Sendung zuschreibt, »Gott anredbar zu machen«, »Gott anzureden«, »die Welt als Wort und das Leben jedes Geschöpfes als Zwiegespräch kundzugeben«, indessen Spinoza sich unterwand, »Gott seine Anredbarkeit zu nehmen«.

Noch entschiedener und endgültig bezeichnet Martin Buber in der Schrift »Ich und Du« (1923) das religiöse Erlebnis als ein »Begegnungsereignis«, als einen Dialog, ein Anreden und Erwidern, als ein Drama mit der Spannung und Beziehung zwischen der zeitlichen Seele und ihrem Lebensurgrunde.

Es läßt sich leicht zeigen, daß diese Theologie – (»Religion« bedarf durchaus keiner Theologie und am allerwenigsten eines »Dasein Gottes«) – insgeheim ein einziger Idiomorphismus ist. Es dreht sich immer und ewig um das Ich. Und auch das Du ist das Ich noch einmal. Bubers »Gott« ist ein geistiges Wesen und wird (wie jeder Dialog und wie jedes Drama) unterströmt und getragen vom menschlichen Wollen. Der große religiöse Genius unsrer Tage, Jiddu Krishnamurti, der fern von allen Kirchen und Religionen in dem Zentrum lebt, wo alle Dinge gleich gewichtlos werden, hat auf jede Frage zur Antwort nur den Erweis, wie falsch die Fragestellung ist. Musik ist keine Dialektik, Lyrik kein Dialog.

Das oberste Gebot, sich kein Bildnis oder Gleichnis zu machen, schließt auch in sich das Verbot des Wortes, des immer frevelhaften, und erscheint mir als der heiligste Ausdruck einer Seele, die bemüht ist, dessen, was sie hat und ist, nicht verlustig zu gehen, dadurch, daß sie es von sich abstellt.

Aber es ist nicht Sache des Philosophen, sich in Theologie zu begeben, ist ihm doch, wenn irgendwem, schon der Gebrauch ihrer Begriffe streng untersagt.


Denn der in Kampf und Leid gestellte Mensch wird die Tat und den Täter, das Handeln und den Händler immer für höher erachten, denn alle Seher und Träumer. Und der Jude war immer in den Kampf gestellt. Er kann nicht wie Blume und Kind Dankbarkeit fordern schon dafür, daß er da ist und schön ist. Er muß » Werte« schaffen, um vor sich und andern gerechtfertigt dazustehn. Und so über sich hinausgetrieben und aus sich herausgefallen, wurde er sich selber wertlos, bis ein grauenhaftes Zerrbild erstand, jenem Händler gleich, der, verdorbene Ware verkaufend, seiner Kundschaft zuruft: »Glauben Sie mir, meine Ware ist gut; ich stinke.«


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