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siehe Bildunterschrift

Theodor Lessing

Vorhalle

»Der Seele, die nur sich gedichtet hat,
Das große Schöne in die Welt gehaucht,
Dem Geiste, der nur sich vernichtet hat,
Doch immer neu aus sich emporgetaucht,
Dem Volke, das sich selbst gerichtet hat
Und nun den fremden Richter nicht mehr braucht.«

I.
Jüdisches Schicksal im Osten – Die Geschichte als Sinngebung – Das Problem der Schuld

1.

An dem Tage, an welchem ich dies Buch vom Selbsthaß zu schreiben beginne, stöhnen die Juden im Osten unter der Last einer schweren Kunde. In Jerusalem, im Gebiete des Haram ist vor der jüdischen Klagemauer ein Religionskrieg ausgebrochen. Er entstand, wie alle Kriege der Geschichte: indem überreizte Menschen einander sinnlose Worte zuwarfen, so lange, bis aus den sinnlosen Worten sinnlose Taten hervorgingen. Aber in diesen Taten entband sich ein lange aufgespeicherter Haß. Er kann das Werk des jüdischen Volkes bedrohen.

»Das Werk des jüdischen Volkes«: – die Auferstehung unsrer Heimat, schien gesichert zu sein! Denn auch die nüchternen Praktiker, welche keineswegs von einem Auszug Israels nach Palästina träumen, sondern sich als deutsch, französisch, englisch, italienisch oder sonstwie empfinden, waren für den Gedanken des Zionismus so weit gewonnen worden, daß sie zur Lösung der unlöslichen Judenfrage eine Aktionsgemeinschaft, die sogenannte Jewish Agency, begründeten. Da aber ereignete sich, was sich leicht auch künftig wieder ereignen könnte: Die eben gebauten, mit leidvollen Mühen dem Malariaboden abgetrotzten Dörfer und Farmen, die Pflanzungen, in denen jeder Baum das Leben eines Chaluz verkörpert, die Äcker, mit Schweiß und Tränen gedüngt, gingen in Flammen auf.

Artuf brennt. Ataroth brennt. Moza brennt. Arabische Banden steckten die Jerusalemer Villenvorstadt Talpioth in Brand und verwüsteten das Haus des Dichters Agnon. Die berühmte Jeschiwa in Hebron, die Talmudschule aus dem litauischen Slobodka, wurde überfallen. Waffenlose junge Schüler, vom Sohn des Rabbi geführt, flüchteten in den Betraum, wo sie, einer wie der andere, während sie das Sterbegebet sprachen, erschlagen wurden. Und alles geschah unter den Augen der Mandatarmacht. –

Was erwartet die Welt, daß wir Juden tun?

Dreißig Jahre lang und länger, seit der Bilu-Bewegung von 1882, hat unser edler Kern an der Lösung dieser Völkerfrage gearbeitet. Müde der immer neuen Ausbrüche von Massenwahn, welchen kein Adel der Tat, der Zucht oder des Herzens je zu versöhnen vermöchte, müde eines ewigen »Entweder – Oder« (Entweder: du gibst dich selber auf – Oder: du trollst dich aus dem Lande), müde der jahrhundertelangen Maßregelung, Verschiebung, Reglementierung – aus Willkür oder aus Gnade –, müde all der Unsicherheit und Ungewißheit, hat das älteste unter den Erdenvölkern versucht, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Man sagte: »Ihr seid Schmarotzer auf fremdem Eigen«, da haben wir uns von der Wahlheimat losgerissen. Man sagte: »Ihr seid der Zwischenhändler unter den Völkern.« Da erzogen wir unsre Kinder zu Gärtnern und Bauern. Man sagte: »Ihr entartet und werdet zu feigen Weichlingen.« Da gingen wir in Schlachten und stellten die besten Soldaten. Man sagte: »Ihr seid überall nur geduldet.« Wir erwiderten: »Keine tiefere Sehnsucht kennen wir, als herauszukommen aus Duldung.«

Aber wenn wir uns so in unserem Eigen bewährten, dann wieder hieß es: »Habt ihr noch immer nicht gelernt, daß die zähe Selbsterhaltung des Sondervolkes ein Verrat ist am Reiche der allgemein menschlichen, der übervölkischen Werte?« Wir antworteten, indem wir nach hundert Toden und Wunden schweigend die jüdische Legion auflösten. Wir haben der Selbstwehr uns begeben und unser gutes Recht unter den Schutz des europäischen Gewissens gestellt. Was ist die Antwort?

Am heutigen Tage, dem 6. September 1929, scheint die Antwort so zu lauten: »Lebt oder leistet, wie immer ihr könnt, man wird euch dulden, solange man euch nutzen kann.« »Geschäftsleute!« wird man die Juden nennen. Aber wenn kein Geschäft mehr mit den Juden zu machen ist, dann läßt man sie fallen. Die übermächtigungssüchtigste Erdausnützergewalt, die englisch-amerikanische, wird auch das Judentum opfern für das erstbeste Kolonial- und Expansionsunternehmen. Wehe aber den Wehrlosen: »Niflad kidra al kefla, weile kidra. Niflad kefla al kidra, weile kidra. Wenkach, unwenkach, weile kidra!« »Fällt der Topf auf den Stein, wehe dem Topf. Fällt der Stein auf den Topf, wehe dem Topf. Immer, immer, wehe dem Topf!«

Was (man antworte) soll der Jude tun? – Die Frage ist nicht zu beantworten. Und weil sie nicht zu beantworten ist, so entsteht eine Verlegenheit des Gewissens. Wie beschwichtigt der Mensch die Verlegenheiten seines Gewissens?

Nur in seltenen Fällen durch das Bekenntnis: »Ich bin schuldig.« In weitaus den meisten Fällen aber durch den Versuch, die Schuld an dem unleidlichen Zustand in den unfreiwilligen Veranlasser des Zustands hineinzuerklären. Dies ist das Gesetz der »Sinngebung von nachhinein«. Das Grundgesetz aller Geschichte! Th. Lessing, »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen«. 4. Aufl. S. 211-252.

2.

Die Ereignisse der menschlichen Geschichte, diese nie abreißende Kette von Machtwechselzufällen und Willkürakten, dieser Ozean von Blut, Galle und Schweiß wäre unerträglich, wenn der Mensch nicht einen Sinn in all diese blinden Geschehnisse hineinzulegen vermöchte. Es genügt ihm durchaus nicht, alles Geschehen ursächlich begründet zu finden, er will vielmehr das Geschehen sinnvoll begründet finden, und wenn er fragt: »Was ist schuld daran?«, so liegt schon in der Frage ein moralisches Urteil.

Selbst dann also, wenn die Völkerschicksale »zufällig« wären und wenn auch alles hätte anders kommen können, so würde doch der Mensch, nachdem es einmal so gekommen ist, von nachhinein das Geschehene immer sinnvoll und sittlich zu deuten unternehmen! Gesetz der logificatio post festum! [Hinterher-Klugheit] (»Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen«, § 50).

Dieses Sinnvoll-Machen auch alles sinnlosen und unsinnigen Leidens kann aber – (wie wir schon andeuteten) – auf zweierlei Wegen erfolgen. Entweder indem man dem »Andern« die Schuld zuschiebt oder indem man die Schuld in sich selber sucht.

Es ist nun eine der tiefsten und sichersten Erkenntnisse der Völkerpsychologie, daß das jüdische Volk unter allen Völkern das erste, ja vielleicht das einzige Volk war, welches die Schuld am Weltgeschehen einzig in sich selber gesucht hat.

Auf die Frage: »Warum liebt man uns nicht?« antwortete seit alters die jüdische Lehre: » Weil wir schuldig sind.« Es hat große jüdische Denker gegeben, die in dieser Formel: »Weil wir schuldig sind« und in dem Erlebnis der Kollektiv-Verschuldung und Kollektiv-Verantwortung des Volkes Israel den innersten Kern der jüdischen Lehre erblickten.

Wir dürfen an dieser Stelle auf die Bedeutung der religiösen Kollektivschuld (»Widduj«) nicht näher eingehen, aber es ist wichtig, daß der Leser spüre, wie in diesem Schuldbekenntnis, das die gewaltige jüdisch-christliche Moral hervortrieb, auch der Schlüssel zur Pathologik unserer Volksseele zu finden ist. 1

1) Die »Psychologie des Selbsthasses« hat anzuknüpfen an die Tatsache, daß »der Geist ein Leben ist, welches in das Leben einschneidet«; daß mithin hinter dem Logischen eine Selbstzerklüftung des Menschen stehe und hinter dem Ethischen »der Wille zum Gegen-Ich«.

Diese Gedanken sind durch die ungeheuer umwälzende Erscheinung Friedrich Nietzsches für die Psychologie grundlegend geworden.

Die ältere jüdische Literatur bietet indessen schon Ansätze zu einer kerntreffenden Theorie des Selbsthasses. Ich nenne als besonders wichtig die Darlegungen von Moritz Lazarus in seinem Werke »Die Ethik des Judentums«. Zumal §§ 40 und 41. Der schönrednerische Verfasser ist zwar ganz unbefähigt, rücksichtslos und scharf einen Gedanken bis zu Ende zu denken, aber er besitzt doch (zumal aus der Verbindung mit Hajim Steinthal) entscheidende völkerpsychologische und soziologische Gesichtspunkte. So ist es denn ein wirklich bedeutender Gedanke, daß Lazarus das Verschuldungsgefühl in den Mittelpunkt des Judentums rückt. Der Kern der jüdischen Ethik ist nach Lazarus nicht etwa die Nächstenliebe oder das Mitleid oder die Humanität. Kernfrage des jüdischen Menschen ist immer: Warum verfolgt man uns? Und die Antwort lautet immer: Weil wir gesündigt haben.

Indem der Jude ein leidvolles Schicksal sinnvoll zu begründen hatte, stieß er auf die Schwierigkeit, daß nach jüdischer Lehre alles in Gottes Willen liegt und aus Gottes Ratschluß kommt. Das Judentum kannte und kennt keinen »Teufel«, keine diabolische Außengewalt, keine »Kontraposition Gottes«. Sondern: Alles ist Gott. Alles liegt in Gott. Alles kommt aus Gott. Also: Auch das Böse und Schlechte muß in Gott begründet liegen. Die jüdische Gotteslehre verfährt also an diesem Punkte nicht anders als beispielsweise die Philosophie Jakob Böhmes oder Goethe in seinem »Faust«.

Wie kann da nun das Vorhandensein des Leidens und das ungerechte Völkerschicksal sinnvoll begründet werden?

Einzig doch wohl dadurch, daß es aus dem falschen Verhalten oder aus den Verkehrtheiten der Menschennatur selber begründet wird.

»Warum ficht dich so manches Übel an? Weil Gott dich vor dir selbst nicht schützen kann.«

Die Sinngebung des sinnlosen Zufalls und unbegreiflichen Schicksals vollzog sich also nicht in der Art, daß man der Außenwelt und dem Fremden schuld gab. Sondern der Jude war seit je bereit und gewöhnt, die Schuld bei sich selber zu suchen.

Noch heute liegt es zutiefst in der Natur des jüdischen Menschen, bei jedem ihn treffendem Schmerz zu fragen: Wofür leide ich das? Womit habe ich das verdient?

Eben dieser Hang, »die Schuld auf sich zu nehmen«, brachte den Juden im Wettlauf der Völker ins Hintertreffen. Es ist viel leichter, das jüdische Volk zu opfern als jedes andere Volk.

Andrerseits aber machte dieses Selbstrichtertum aus dem jüdischen Volke das eigentliche Volk der Ethik.

In pathologischer Entartung kann dies Selbstrichtertum an die äußerste Grenze des geistigen Hochmutes führen. Wir haben insbesondere in der Seelengeschichte Otto Weiningers ein typisches Vorkommnis dieser »Erkrankung an Ethik«.

Man könnte wohl geneigt sein, in dieser schroffen Berufung auf das eigene Gewissen ein protestantisches Phänomen zu sehen. Indessen beachte man wohl, daß das jüdische Selbstrichtertum auf die Kollektivverantwortung gegründet ist, nach Art aller orientalischen Völker. Das protestantische Schuldbekenntnis (mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa) bezieht sich durchaus auf das ganz persönliche Gewissen. Das jüdische Schuldgefühl und Schuldbekenntnis dagegen antwortet auf die Frage: »Wer trägt die Schuld?« mit der Antwort: »Wir alle tragen die Schuld.« Anders gesagt: »Jeder ist schuldig an jedem und ich bin der Schuldigste unter allen.« Das kollektive Schuldbekenntnis erklärt nicht nur, daß jeder Jude haftbar sei für das Unrecht von seiten jedes andern Juden – (ein Wissen um diese Kollektivhaftbarkeit aller Juden der Erde ist auch heute noch stark lebendig) –, sondern es wird schlechtweg erklärt: »Israel ist schuld an allen Sünden der Welt.« –

Im fünfbändigen Jüdischen Lexikon (Jüdischer Verlag Berlin) findet der Leser weitere Belege für die Kollektivschuld der jüdischen Gesamtheitseele unter den Stichworten »Arewut« (Solidarhaftung); Kìlal Jisroel (Allheit des Volkes) und Widduj (Schuldbekenntnis). Einige wichtige Stellen seien hier angeführt:

»Das Bekenntnis zu allen erdenklichen moralischen Verfehlungen, die in Wirklichkeit sich kaum bei einem einzigen Menschen vereinigt finden dürften, entsprang dem Kollektivcharakter des jüdischen Gottesdienstes und Gebets; hier betet weniger der einzelne Jude als vielmehr die jüdische Gesamtseele. Zugleich wurde es als wohltuend empfunden, daß, indem alle sich zu allen Sünden bekannten, dem Einzelnen die Beschämung erspart blieb, seine tatsächliche besondere Sünde zu nennen.«

»Das jüdische Recht kennt eine gegenseitige religionsgesetzliche Verantwortlichkeit, die in religiös-ethischen Vorstellungen verankert ist und die einer moralischen gesetzlichen Bürgschaft aller jüdischen Volksgenossen gleichkommt …, so daß jeder Einzelne als Schuldner gegenüber Gott und zugleich als Bürge für einen Volksgenossen in diese Schuldverpflichtung eintritt. In diesem Sinn bedeutet somit der Satz ›Alle Israeliten bürgen für einander‹ eine juristische Solidarhaftung, übertragen auf das religiös-nationale Gebiet.«

»Bedeutende halachische Autoritäten haben den Bürgschaftsgedanken sogar noch auf die zu andern Religionsgemeinschaften übergetretenen Juden erstrecken wollen. Er ist der Quellpunkt der Achdut-Bewegung, die jedem Juden die Verpflichtung auferlegt, gemeinsam mit allen, auch denen, die vom jüdischen Gesetze bereits abgewichen sind, in einheitlicher Gemeinschaft zu verharren.«

»Ist der Kìlal-Jisroel-Gedanke in der Tiefe des religiösen Bewußtseins verankert, so mußte er sich durch das Geschick des so viele hundert Jahre zu einer Pariastellung verdammten jüdischen Volkes noch verstärken. Er hat tatsächlich in den Gliedern der über die ganze Erde zerstreuten Gemeinschaft bis zur Emanzipation mit einzigartiger Kraft im Sinne echter und konkreter Einigung gewirkt.«


Vgl. hierzu meine Darlegungen in der zweiten Auflage von »Europa und Asien« (1922), zumal Seite 320-323.

In jedem jüdischen Menschen steckt sehr tief die Neigung: ein Unglück, das ihn trifft, als Sühne für eine Versündigung aufzufassen. Würde der Leser fragen, warum das so sei, so könnte ich an dieser Stelle nur hinweisen auf die schreckliche Tatsache, daß die jüdische Geschichte durch fast dreitausend Jahre nur eine Leidensgeschichte gewesen ist. Und zwar eine Geschichte hoffnungsloser, unablösbarer Leiden.

Ein solcher Leidenszustand aber verstattet, um sinnvoll und erträglich zu werden, nur einen einzigen Notausgang: der Mensch muß glauben, daß das Schicksal mit ihm eine besondere Absicht habe. »Wen Gott liebt, den züchtigt er.« Mit dieser Auffassung seiner Leiden als einer Strafe ist dann freilich schon der Ansatz zu dem Phänomen »Selbsthaß« gegeben. –

Anders aber liegt es bei den glücklichen und siegreichen Völkern. Sie hatten keinen Anlaß, selbstanbohrend und selbstquälerisch das gesunde Lebensgefühl und die natürliche Selbstschätzung zu gefährden. Auf die Frage: »Warum trifft uns Unglück?« antworten sie mit kräftiger Anklage derer, die ihrer Meinung nach »Unglück bringen«.

Die Lage des jüdischen Menschen war somit doppelt gefährdet. Einmal, weil er selber auf die Frage: »Warum liebt man uns nicht?« antwortet: »Weil wir schuldig sind.« Sodann aber, weil die anderen Völker auf die Frage: »Warum ist der Jude unbeliebt?« nun gleichfalls antworten konnten: »Er sagt es selber. – Er ist schuldig.«

Hinter der als Antisemitismus bezeichneten soziologischen Erscheinung (wodurch eine ganze Volksart als »odium generis humani« gekennzeichnet wurde) steht also durchaus nicht allein der böse Wille, der nationale Egotismus, oder der Neid und Haß des völkischen Wettbewerbs. Es steht ein Gesetz dahinter. Ein Gesetz der »Sinngebung des Sinnlosen«. Und dieses Geschichtsgesetz steigt aus einer letzten Tiefe.

Es ist das selbe Gesetz, welches auch viele Einzelschicksale verzwistet und zu mancherlei Feindschaft führt. Denn wie oft doch pflegen Geschwister, Liebende und Freunde sich auf immer zu entfremden, einfach darum, weil keiner je in sich selber hinabsteigen und sein Verschulden bekennen will, sondern jeder den nächstliegenden und natürlicheren Weg geht: »Dort, wo ich leidbringend in ein fremdes Leben einschneiden muß, da begründe ich meine Tat aus dem Wesen der andern.« – Wenige Beispiele werden genügen, um die große Bedeutung dieses einfachen Tatbestandes zu belichten.

3.

Wir Menschen müssen alle, um überhaupt leben zu können, manche »Schuld« auf uns nehmen. Wir müssen zum Beispiel eine wundervolle, in sich vollendete, ursprünglich uns überlegene Tierwelt ausrotten. Wenn wir die großen Raubtiere, Löwen und Leoparden, vernichten, so gehen wir dabei sehr böse vor; wir sagen daher: das Raubtier sei böse. Wenn wir die großen Schlangen ausrotten, so verwenden wir dazu viel Hinterlist; wir sagen daher: die Schlangen seien hinterlistig.

Habe ich jemals gegen einen andern schlechte Gedanken gehegt, dann muß ich diese schlechten Gedanken eben aus der Schlechtigkeit des andern vor mir selber begründen.

Wer einmal gesprochen hat: »Gott strafe England« oder: »Deutschland muß gedemütigt werden«, der hegt von nun an unbewußt eine Parteinahme daran, alles aufzusammeln und hoch zu bewerten, was nur irgend zweckdienlich ist, sein ungünstiges Vorurteil zu rechtfertigen. Schließlich könnte es sogar sein, daß wir ein Böses gar nicht darum hassen, weil es böse ist, sondern: das, was wir hassen und hassen müssen, nennen wir: das Böse.

Dieser Vorgang der »Verhäßlichung des Verhaßten« wird noch gesteigert, wenn ein geheimes Gefühl der Sympathie übertäubt und tot gemacht werden muß. Man sieht das in solchen Fällen, wo eine Liebe oder Freundschaft in Haß und Verfolgung übergeht.

Habe ich einen Menschen sehr hoch geschätzt oder sehr geliebt und fühle mich enttäuscht und ernüchtert, so empfinde ich das Verschwinden meiner alten Gefühle in der Regel keineswegs als meine Schuld oder als meinen Irrtum, sondern ich motiviere die Wandlung meines Gefühlslebens, indem ich sage: der andere habe sich verändert. Das ist in der Regel ein Selbstbetrug. Nicht der andere hat sich verändert, sondern meine »innere Einstellung« ist anders geworden. Aber überall, wo der Mensch Gewissenslasten tragen und seine Taten verantworten muß, da sind auch schöne Worte und große Ideale zur Hand, in deren Namen wir auch unser Unrecht in unser gutes Recht umdeuten können 2.

2) Der Gedanke, daß der Völkerhaß nicht aus geschichtlichen Tatsachen und Ereignissen erklärt werden kann, sondern eine Urtatsache der Psychologie sei, ist in einem ausgezeichneten Werke des holländischen Zionisten Fritz Bernstein, »Der Antisemitismus als Gruppenerscheinung. Versuch einer Soziologie des Judenhasses« (Jüdischer Verlag, Berlin 1926) aufs klarste dargelegt worden. Bernstein zeigt sich wunderbar unbeeinflußt von den Vorurteilen der heutigen Wissenschaft, insbesondere von den Allerweltsphrasen der Psychoanalytiker und Individualpsychologen. Er zeigt mit unbeirrbar gesundem Menschenverstände, daß ganz und gar nicht das Gehaßte früher da sei als der Haß, sondern daß ein Bedürfnis des Hassens die verhaßten Tatbestände erst erfinde und erschaffe.

Diese soziologische Lehre könnte wohl verglichen werden mit einer bekannten Erklärung der Affekte durch James und Lange, wonach die scheinbar so wohlbegründeten seelischen Leidenschaften erst von seiten körperlicher Bedürfnisse geschaffen werden sollen. Nach dieser Theorie weinen wir nicht etwa, weil wir traurig sind, sondern werden traurig, weil wir weinen müssen. Wir erleiden nicht innere Sekretionen, weil wir zornig, verliebt, begeistert usw. sind, sondern umgekehrt die Notwendigkeit der inneren Sekretion pflegt Zorn, Verliebtheit, Begeisterung mit sich zu bringen.

In ähnlicher Weise hält Bernstein die Vorgänge des Selbstverklärens und Selbsterhöhens von seiten einer Menschengruppe und die Vorgänge des Ausschließens und Abweisens anderer Gruppen für unvermeidliche Vorgänge der kollektiven Lebendigkeit.

»Selbst der weiseste Denker könnte doch nicht völlig des Fließens der Galle entbehren. Um aber Galle fließen zu machen, muß Unwille und Ärger vorhanden sein. Es wird also auch dem Weisen nicht an Begründungen fehlen, dank deren er seinen Gallenhaushalt in Ordnung hält. In Wahrheit untersteht er den Gesetzen der Physiologie.« –

Diese Theorie dürfte falsch sein, weil sie auf einer verkehrten Zweiteilung in körperliche und seelische Vorgänge beruht und die falsche Frage stellt nach dem Primat der einen oder der anderen. Aber es ist von hohem Verdienst, einen solchen Gedanken folgerichtig durchzuführen. Er zeigt die plumpe Naivität aller üblichen Begründungen für Völker- und Rassenhaß. (Nach Ratzel, Anthropogeographie II, 563 soll jedes Volk sich selber einen herrlichen Namen und seinen Nachbarn verächtliche Namen erfinden.)


Man wende nun dieses allgemeine Gesetz auf die Judenfrage an:

Dem jüdischen Volk ist zweifellos Unrecht zugefügt worden. Sein unwürdiges Dasein würde jedem der gesunden Völker, unter denen das kranke Volk fortvegetiert, zum Vorwurf geworden sein, wenn man nicht geschichtliche Formeln gehabt hätte, dank deren das am jüdischen Volke verübte Unrecht zum berechtigten Unrecht, also zum Rechte zurechtgerückt wurde. Solche sinngebende Formeln hatten die Juden wie die Nichtjuden nötig. – Wird man uns künftig vernutzen, dann wird man es begründen mit der Einsicht, daß wir die Vernutzer der anderen seien. Will man uns abdrängen und unser Lebensgefühl vermindern, dann wird man alles anführen, was Ausnahmebestimmungen und Sondergesetze berechtigt macht. Es gibt in der Geschichte kein Unrecht, das nicht nachträglich als berechtigt oder doch als notwendig erwiesen werden könnte. Wo immer eine Menschengruppe verflucht wird, ihr Kreuz zu tragen, da wird es stets heißen: »Sie hat den Heiland ans Kreuz geschlagen.«

Welcher Seelenforscher aber weiß, ob jahrhundertelanges Herabmindern von Seelen nicht auch wirklich das Wesen der Geminderten verwandelt, so daß am Ende aller Enden alles Unrecht der Geschichte wirklich zum begründbaren Unrecht, also zum Rechte wird? – Denn um Menschen in Hunde zu wandeln, braucht man nur lange genug ihnen zuzurufen: »Du Hund!«


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