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Zur Aesthetik des Romans.

Eine Anregung für Romanschriftsteller.

Keine einzige der bestehenden Dichtungsformen hat durch die Verflachung des Zeitgeistes so sehr gelitten, wie die des Romans. Macht sich die Kunstspielerei auch in der Lyrik und im Drama breit, nirgendwo tummelt sie sich mit größerem Behagen als im Roman. Denn nirgendwo findet sie so viel offenes Feld. In der Lyrik bilden Rhythmus und Reim, im Drama die Rücksichten auf die Darstellung und die bestehende Bühne eine Art von Damm, welcher selbst den mittelmäßigen Scribler zu einer gewissen Beschränkung zwingt, der Roman jedoch scheint keine Achtung vor Regeln, keine Spur von ästhetischem Gewissen zu verlangen. So mehrt sich denn das Heer von Machern von Tag zu Tag und arbeitet ohne künstlerisches Bewußtsein darauf los. Daß dieser Pöbel der Litteratur von der strengeren und gebildeten Kritik unbehelligt bleibt, ist begreiflich, aber auch bedauerlich, denn er schädigt die Achtung vor dem Kunststil und erzieht immer mehr seines Gleichen, verdirbt dadurch den Geschmack der Leser und damit die Urteilsfähigkeit, was wieder schädigend auf die Schriftsteller zurückwirkt.

Je größer die handwerksmäßige Thätigkeit auf einem Gebiete der Dichtung wird, desto mehr bilden sich »Handgriffe« aus. Das kann man heute, am Lustspiel und der Posse ebenso wie am Roman wahrnehmen. Die Schreiber haben über die natürlichen Bedingungen der Kunstform niemals nachgedacht, es ist ihnen nur um augenblickliche Wirkungen zu thun, um deren Willen sie auf dichterische Wahrheit, klaren Aufbau und vor allem auf eine leitende ästhetische Idee vollständig Verzicht leisten. Das Grobstoffliche, die bloßen Thatsachen erdrücken die vertiefte Charakterzeichnung; an Stelle des Wunderbaren im modernen Sinne, des Waltens der geheimsten Regungen der Menschenseele, tritt das Wunderliche, Verzerrte, Aufregende; an Stelle der sittlichen Weltordnung, welche der Dichter aufweisen soll, walten die platte Berechnung oder der tollgewordene Zufall.

Diese Verflachung des künstlerischen Bewußtseins hängt auf das Innigste mit jener des ethischen zusammen. Weil die meisten Romanschreiber unfertige und flache Naturen sind, so muß auch das Weltbild, welches sie uns bieten, unfertig und flach sein; weil sie das Leben nur der Außenseite nach kennen, sind sie nicht fähig, die inneren Kräfte, den geistigen Organismus des Menschen und der Gesellschaft zu erfassen; weil ihnen der Glaube an das Geistige mangelt, so rechnen sie nur mit den mechanischen Bedingungen des Lebens, mit krankhaften Vorgängen in der Seele oder brauen gar aus unklaren Erinnerungen an andere Romane saft- und kraftlose Gerichte zusammen.

Anregungen für werdende Romanschriftsteller zu geben, ist der Zweck der folgenden Betrachtung. Die verschiedenen Fragen, welche durch den Stoff angeregt werden, lassen sich am Besten beantworten, wenn man die Meinungen über Form und Wesen des Romans an der Hand der Geschichte betrachtet. Die Klarstellung dessen, was sein soll, wird dann von selbst Licht auf jene Fehler werfen, welche heute selbst von begabten Schriftstellern begangen werden.

Je mehr der Roman an Ausbreitung gewann, desto mehr wurde die Kritik, seit Baumgarten die beginnende ästhetische Wissenschaft, dazu gedrängt sich mit demselben zu beschäftigen. Die ältesten Poetiker neuerer Zeit waren ganz von Horaz abhängig und beschäftigten sich – an der Spitze das Werk Scaligers 1561 – nur mit dem Epos. Die erste Untersuchung über den Roman stammt von D. Huet, dessen Anschauungen sowohl in Frankreich wie bei uns lange nachgewirkt haben.

Sein Buch » De l'origine des Romans« (Paris 1670) ist hauptsächlich ein Sammelsurium geschichtlicher Notizen, welche den Mangel an Kritik des Ueberlieferten auf jeder Seite offenbaren; das Aesthetische tritt zurück. Schon bei ihm kommt die Ansicht zu Wort, daß zwischen Epos und Roman doch mehr Unterschiede bestehen als jene, die durch poetische und prosaische Form gegeben sind; die letztere sei nötig »damit sie übereinstimme mit dem Brauch des Jahrhunderts«. Aber auch sonst seien Verschiedenheiten vorhanden: im Epos überwiege das Wunderbare, ohne das Wahrscheinliche ganz zu verdrängen, im Roman das Wahrscheinliche, ohne das Wunderbare ganz entbehren zu können; das Epos sei auf einen engeren Kreis beschränkt, während der Roman »den Geist befähige, eine größere Zahl verschiedener Gedanken« zu verarbeiten; im Epos seien kriegerische Thaten die Hauptsache, die Liebe jedoch nebensächlich, vom Romane gelte das Umgekehrte. Unumgänglich nötig sei die Wahrscheinlichkeit der Vorgänge und Gestalten. Das » prodesse« des Horaz kommt auch bei Huet zu seinem Recht: Die Gattung sei sehr nützlich zur Beförderung der Moral junger Menschen – von hohem Stande.

Die Deutschen, welche sich nach 1670 hier anschließen, förderten die Sache nicht um Haaresbreite; der berühmteste, Dan. Georg Morhof, schritt sogar zurück. Im 14. Kap. d. 2. Teils seines »Unterrichts von der deutschen Sprache und Poesie« (S. 691) sagt er anknüpfend an das ritterliche Epos: »Es ist eine andér art Getichte, aber in ungebundener Rede, welche dennoch mit guten Fug Helden – Getichte genannt werden können. Denn sie sein von den andern nicht unterschieden, als nur bloß an dem metro.« Christian Rotth, welcher in der »Vollständigen Deutschen Poesie« (1638) fast ganz von Morhof abhängt, behandelte gerade den Roman ausführlicher; in Einzelheiten von Huet bestimmt, hat er dessen Hauptgedanken nicht begriffen und behauptet mit Morhof »die Romane sind nun in keinem Dinge von vorhergehenden Helden-Gedichten unterschieden, als alleine in dem Inhalt oder der Materie und denn in dem Stylo« (2. Tl. S. 348). Als Hauptzweck der Gattung erscheint ihm »die Erweckung der Liebe zur wahren Tugend« und die Belehrung: deshalb empfiehlt er besonders Happels geographische Romane, wie den »Insulanischen Mandorel«.

In einer ganz kurzen Bemerkung spricht sich die Ahnung der Objektivität des Dichters aus. Rotth sagt (S. 350) in Bezug auf die Reden der Personen: »Wenn sie aber in Sonderheit betrachtet werden, so ferne sie dieser oder jener Person wohl anstehen, so haben sie abermals alles mit den Helden-Gedichten gemein, daß nemlich der Poete wenig redt, das meiste aber die auffgeführten Personen, jede nach ihrem Stande«.

Bis Ende des 17. Jahrhunderts hat die kindliche Kritik, sich an Aeußerliches klammernd, nicht den geringsten Versuch gemacht, das Wesen der Phantasie zu ergründen und aus diesem und den Darstellungsmitteln Gesetze für die Kunstgattungen zu ermitteln. In Bezug auf den Roman stand nichts fest, als daß er eine »Liebesgeschichte« sei, unterhalten und zugleich belehren und bessern müsse. Die Einschränkung des Stoffes auf die Liebe zeigt das mächtige Vorurteil, welches durch den »Amadis« hervorgerufen und durch die französischen Romane genährt worden war; die Werke von Grimmelshausen (Simplicissimus u. s. w.), wie jene von Christ. Weise vermochten es nicht zu brechen.

In das zweite Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts fällt das erste Werk, welches den Versuch machte, eine Art von Kunstlehre aufzubauen, des Jean Baptiste Dubos » Réflexions critiques sur la Poésie et sur la peinture« (Paris 1719). Obwohl dasselbe keine einheitliche Grundlage besitzt, war es doch bedeutend dadurch, daß es die Verwandtschaft der Künste und ihr gemeinsames Verhältniß zur Phantasie in den Vordergrund der Besprechung stellte. Bodmer und Breitinger, ja sogar Lessing haben hier Anregungen empfangen. So sehr es nahe lag in Anknüpfung an Dubos die Beziehungen zwischen der schaffenden Kraft und dem Rohstoff, wie das Leben ihn bietet, klarer darzulegen, ist es dennoch nicht geschehen und der Abbé Langlet du Fresnoy (Schriftstellername Gordon de Percel) fiel wieder in das alte » delectare et prodesse« zurück. Sein Buch » De l'usage de Romans« (Amsterdam 1734 2 Bde.) haftet durchaus auf der Oberfläche und kommt nicht über den Standpunkt Huets hinaus. Daß er als Royalist und Abbé es als ästhetischen Fehler anführt, die katholische Religion und deren Priester anzugreifen, den König oder die Prinzen zu tadeln, ist begreiflich, aber auch bezeichnend. Der Natur des damaligen französischen Moderomans gegenüber waren seine Forderungen, die Sittlichkeit zu achten, sehr natürlich. Auch ihm ist der Roman nichts als ein prosaisches Epos, auch er legt das Hauptgewicht auf die Liebe, ja so sehr thut er es, daß er als Schluß eine oder mehrere Ehen fordert und geradezu verbietet, daß der Held am Anfang oder in der Mitte des Romans sich vermähle. Ebenso findet er es unstatthaft, den Helden von der Geburt bis zum Tode zu begleiten; verführt durch die verballhornten Ansichten des Aristoteles, wie man sie im Drama anwendete, fordert er für den Roman » une seule et unique action«, deren Gründe und Folgen durch eingeflochtene Episoden darzustellen seien. Ebenso beschränkt ist die Regel, daß nur vornehme Helden auftreten dürfen – ein Beweis, daß der Hofmann die Werke des Lesage überhaupt nicht gelten ließ, welcher im Anschluß an den picaresken Roman der Spanier seine Gestalten aus dem Volke heraus gegriffen hatte.

Die Entwicklung der Anschauungen der Kritiker trennt sich immer mehr von den Thatsachen der Litteratur. Trotzdem der englische Familienroman immer mehr an Verbreitung gewann, schleppt sich die Ansicht, Roman sei ein Epos in Prosa, immer weiter fort. Batteux und die Deutschen, welche an ihn knüpfen, Ramler, Sulzer u. s. w. vermischen die Gattungen und beschäftigen sich nur mit den abstraktesten Gesetzen, als deren Quelle ihnen Homer, Virgil und selbst die Italiener galten. Andererseits aber machten sich in Nachfolge Gottscheds Anschauungen geltend, welche die nüchterne Nachahmung der Wirklichkeit auch für den Roman forderten. Diese Ansicht beherrscht auch Blankenburgs » Versuch über den Roman« (Leipzig und Liegnitz 1774).

So blieb im Allgemeinen die Theorie zurück, während die Praxis immer mehr sich der Wirklichkeit näherte; der größte Teil der vielgelesenen Romane stand auf dem Grundsatz fest, das Ziel sei eine nüchterne Kopie des Lebens, zum Zweck moralischer Belehrung – nur Goethe's »Werther« erhob sich über diese undichterische Anschauung. Im Verlaufe der Sturm- und Drang-Epoche stieg die Rohheit in der Behandlung der Form immer höher und verschlang zuletzt in den Ritter- und Räubergeschichten jede Spur von Vernunft. Gegen diese so oft als »geschichtlich« bezeichneten Machwerke sprach sich Herder in seiner Ankündigung der »Aurora« (20. Mai 1799) entschieden aus; »keine Art gefällige Einkleidung wird ihrem Geschäfte fremd sein; einzig nur die politische Orakel- und Zaubertracht wird davon ausgeschlossen sein«. Näher ging er auf den Roman in dem 3. Stück der »Adrastea« ein (1801, S. 132 u. ff.). Auch hier entfaltet der große Mann seinen prophetischen Tiefblick, wie den Mangel an strenger Gliederung des Stoffes. Gegen den geschichtlichen Roman führt Herder die triftigsten Gründe an; vor allem weist er auf die unkünstlerische Verquickung von Wahrheit und Dichtung, auf die Anekdotenbettelei hin, wodurch es unmöglich werde, »ein reines Gewächs der Einbildungskraft« zu schaffen. Herder leugnet nicht ganz die moralischen Wirkungen, aber er will, daß der Roman wie jedes Werk der Kunst emporsteige, dem Traume gleich, aus der »Vieles zu Einem erschaffenden Kraft«, d. h. aus der Phantasie. Deshalb müsse er uns ganz umfassen, dürfe nicht zwischen »halbem Wachen und halbem Träumen« umherschwanken und uns aus der Stimmung reißen, müsse uns über die gemeine Welt emporheben, ohne deshalb die Wahrheit zu verlieren. Wie das Märchen Gründe für die Erscheinungen der Natur ersinne, so der Roman für menschliche Schicksale. Das Werden des Charakters, seine Bildung oder Mißbildung darzustellen, die »unsichtbare Hand« zu zeigen, welche die Fäden leitet und verschlingt, das sei der Hauptstoff des Romans.

Hier finden sich bereits Ansichten, welche die ästhetische Wissenschaft in ihrer Weiterentwicklung übernommen hat.

Die Romantiker stellten sich dem Roman mit sehr einseitigen Anschauungen entgegen. Friedr. Schlegel behandelte den Stoff in den Wiener Vorlesungen (1812) und zwar in der 12. und 14. (Gesammtausgabe von 1822, Bd. II, S. 108 u. ff.). Ein Satz lautet: »Immer strebe die Darstellung ‹ sich aus der Wirklichkeit herauszuarbeiten›«. Die Dichter fühlen sich durch dieselbe beengt und suchen das »Romantische« in der poetischen Form, wie im Künstlerleben in Italien, in amerikanischen Wäldern, andrerseits in Allem, was den gegebenen Verhältnissen widerspricht, im »Polizeiwidrigen«. Das Beste sei, den Stoff in die Vergangenheit und Sage einer Nation zu verlegen. Daraus folgt natürlich, daß Schlegel jede Darstellung der »direkten Gegenwart« verwirft: »In dem Versuch, die Poesie so unmittelbar an die Wirklichkeit anzuknüpfen und in Person darstellen zu wollen, liegt etwas nicht vollkommen Auflösbares und etwas geradehin Verfehltes«. – Wir werden ähnlichen Einwürfen noch später begegnen.

Vollkommen bedeutungslos ist, was Fr. Bouterwek in seiner »Aesthetik« (2. Tl., S. 249 u. ff.) über den Roman sagt. Hier findet sich die unklare Einteilung in Ritter-, Schäfer- und Familienromane, in lustige, sentimentale und humoristische – ohne daß ein Beweis von der Notwendigkeit einer solchen Trennung nur versucht wäre.

In umfassender Weise behandelte den Stoff Karl Nicolai in seinem » Versuch einer Theorie des Romans« (Leipzig 1819), von welchem Werke jedoch nur der erste Band erschienen ist. Das Verhältniß von Phantasie und Leben kommt auch hier nicht recht zur Sprache; Einflüsse der »moralisirenden« Aesthetik und romantische Anschauungen wirren durcheinander. Der Roman soll »mitten in unserem eigenen Leben ein anderes liebliches, fabelhaftes Leben auferbauen, welches uns der Idee zuführt, ohne unsere Wirklichkeit zu vernichten.« An scharf gezeichnete und streng gehaltene Charaktere sei der Romandichter nicht(!) gebunden, weil dadurch die weiten Grenzen dieser freien Dichtungsart eingeschränkt werden. Zu flache Klarheit störe »den Zweck des Romans, das Romantische«.

Neben diesen Anschauungen, welche an jene von Schlegel anklingen, stehen andere, deren Tendenz ganz in der Vergangenheit liegt. »Das Ideal der Tugend sei der Grundstein, worauf ein guter Roman gebaut ist und moralisch gute Tendenz die Auflösung« (S. 15). »Unterhaltung und bei der Unterhaltung auch Belehrung und Sehnsucht nach Belehrung sind der Zweck.« »Tendenz nennen wir im Roman die Entwicklung eines Lehrsatzes der Moral durch praktisches Beispiel« (S. 60).

Aus dem letzten Grundsatze entwickelt Nicolai auch die Vorschriften für den Plan und findet denselben in »Verbindung der Gestalten zu einem moralischen Zweck«.

Enthalten auch die speziellen Vorschriften manches Gute – besonders der Teil, welcher die »Episode« behandelt, ist trotz einzelner Wiederholungen nicht ohne Wert – so mangelt doch dem Ganzen die ästhetische Einsicht in das Wesen der schaffenden Kraft; nur an wenigen Stellen treten rein künstlerische Gesichtspunkte hervor. Bemerkenswert ist der feine, leider nicht tiefer begründete Satz, der Dichter müsse die Kunst und Darstellung von der Natur und dem eigenen Affekt zu scheiden wissen. – Wie wenig hoch jedoch der Verfasser den Roman stellte, beweist die Ansicht, er stehe unter sämmtlichen Kunstgattungen am niedrigsten.

Fast in allen bis jetzt erwähnten Werken sind die tiefsten Fragen einfach umgangen und nur Herder allein, der tiefsinnige Pfadfinder auf so vielen Gebieten, hat die Schicksalsauffassung berührt und das Werden des Charakters als Hauptstoff bezeichnet.

Dieses tiefere Eindringen zeigt auch die von Moritz Pinder bearbeitete Ausgabe von Eschenburgs »Entwurf einer Theorie und Litteratur der schönen Redekünste« (Berlin 1836, § 107-117) Hier ist die Erkenntniß ausgesprochen, daß sich das Individuum an den äußeren Begebenheiten und durch Berührung mit schon charakteristisch bestimmten Menschen »aus seiner vorerst unbestimmten Anlage zur Klarheit und Gewißheit seiner selbst« entwickle. Die Schicksale des Helden ergeben sich aus der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung seines Strebens mit den Ereignissen und stehen (hier ist ein Irrtum) wie im Drama im notwendigen Zusammenhang mit der Persönlichkeit des Helden. Im Roman handle es sich um die Bildung des Charakters, im Drama gehen Thaten aus dem schon fertigen hervor. Fein begründet ist die Wichtigkeit der Liebe, daß, »bei der Einseitigkeit eines jeden der beiden Geschlechter, eines in seiner Beziehung zum andern seine Vervollständigung suche, daß die Liebe die innersten Tiefen des Menschen erschließe und zur Erscheinung bringe«.

G. M. Dursch (Aesthetik auf dem christlichen Standpunkte«, Stuttg. u. Tübing. 1839) behandelt »das Epische im christlichen Sinne« (S. 236 u. ff.), ohne Rücksicht auf die einzelnen Gattungen der erzählenden Poesie zu nehmen und kommt erst später (S. 272 u. ff.) auf den Roman selbst zu sprechen. Bedingte auch der Standpunkt des Verfassers gewisse einseitige Anschauungen, so stimmt Dursch dennoch in mehreren Grundsätzen mit den schon vor ihm gewonnenen Ergebnissen überein. Auch ihm ist der Roman die »Bildungsgeschichte eines Individuums von dem Augenblicke an, wo der Charakter sich zu gestalten begann, bis zu seiner Vollendung;« auch ihm gilt die Liebe als mächtigster Hebel menschlicher Schicksale, weshalb sie nicht aus dem Roman entfernt werden dürfe. Die Charakterentwicklung (Dursch hat einseitig nur jene zum Ideal des christlichen Humanismus im Auge) müsse sich stets unter höheren Einflüssen »in steter Beziehung zum ewigen Sein« vollziehen, der Dichter müsse das Leben, wie es in Charakteren sich darstellt, als von einem höheren Prinzip bedingtes ansehen, nur dadurch erhalte der Roman den ihm eigentümlichen romantischen Geist wieder. Aus diesem höheren Standpunkt des Dichters folge auch, daß der echte Roman immer einen leisen Zug von Ironie oder Humor erhalte.

Was das junge Deutschland über den Roman gesagt hat, besonders Mundt (»Kritische Wälder« und »Gesch. der Litterat. der Gegenwart«), leidet an jenen Unklarheiten und Willkürlichkeiten, welche fast alle ästhetischen Arbeiten des Kreises kennzeichnen. Erwähnung verdient die mehrfach wiederkehrende Ansicht, der Schluß des Romans sei stets ein willkürlicher. Mundt beging den Irrtum, den Roman allein aus dem Charakter des Helden herzuleiten und übersah dabei ganz die Einwirkung der vom Willen unabhängigen Verhältnisse. – Der Einfluß der Philosophie Hegels machte sich im 4. und 5. Jahrzehnt immer stärker bemerkbar und fand endlich auf ästhetischem Gebiete durch das Riesenwerk von Th. Vischer seine Vollendung.

Vieles, was der Verfasser (Bd. IV. 1303-1317) über den Roman sagt, ist schon im Entwicklungsgange der Anschauungen ganz oder im Keime enthalten. Da alles Mythische der modernen Zeit widerspreche und zur Maschinerie hinabsinke, sei an Stelle des Epos der Roman getreten, dessen Grundlage die wunderlose Welt bilde, der aber dennoch der Poesie auf dem Boden der Prosa ihr verlorenes Recht erringe (nach Hegel). Die Wege, um poetische Stimmungen zu erreichen, sind verschieden; entweder wird die Handlung in Zeiten gelegt, wo die Prosa noch nicht alles beherrscht, oder man sucht grüne Oasen in der Prosa des Lebens (Adel, Künstler, Räuber); oder man verwebt in die Schilderung des Gewöhnlichen gewisse Stellen, wo, sei es aus den Tiefen der Seele oder als überraschende Begebenheit, »ein Ungewöhnliches durchbricht«. Der Zufall herrscht im Roman »als das maskirte Wunder des romantischen Epos«. Die Bezeichnung ist nicht glücklich gewählt. Wenn Vischer, wie es unmittelbar darauf geschieht, fordert, daß sich die Fabel »unter die allgemeinen Gesetze des Weltlaufs fügen« muß, so liegt darin auch die Anerkennung des sogenannten Zufalls als eines Gesetzes des Weltlaufs; derselbe hat mit dem Wunder nichts zu thun. »Zufall«, also das Unberechnete, ist Zufall nur gegenüber den Willensstrebungen des Individuums; er ist von der Wirklichkeit, in welche der Charakter hineingestellt ist, bedingt – ja die Gesammtheit dieser »Zufälle« bildet einen Teil des Schicksals im Leben, wie in dessen Spiegelbilds, im Roman.

Der Held sei nicht handelnd, deshalb verdiene er auch die Bezeichnung nicht; in ihm laufen nur die »Bedingungen des Weltlebens« zusammen; er entwickelt sich in der Schule der Erfahrung, unter dem Einfluß der Liebe, welche die tiefsten Metamorphosen der Persönlichkeit mit sich bringt, zu reifer Humanität. Das Ideale des Epos hat sich im modernen Roman in die Seele geflüchtet, deren Regungen und Kämpfe das Poetische bilden.

Wenn man jedoch, fährt Vischer fort, den Roman vom Standpunkt der reinen Kunst betrachtet, ist er stets »zwitterhaft«, kein Epos mehr, und noch kein Drama; er schwankt zwischen rein sinnlicher Wirkung durch den Stoff und tendenziöser Lehrhaftigkeit und » der Schluß ist unvermeidlich hinkend«. Was soll der Held am Ende werden? Die Prosa läßt sich nicht brechen; ob nun Ehe oder das Erringen einer bürgerlichen Stellung das Ende bildet, ist gleich, es fehlt der Schluß durch die That.

Gegen diese Ansicht, welche streng genommen den Roman aus der Reihe der Kunstwerke ausstreicht, lassen sich mancherlei Einwendungen erheben. Erstlich scheint es mir unrichtig den Roman zwischen das Epos und das Drama einzuschieben. Alle ästhetischen Gesetze müssen aus dem geschichtlichen Werdegang abgeleitet werden; und es muß auch der Thatsache, daß der Roman nach Epos und Drama auftritt, ein Gesetz zu Grunde liegen, es muß der Roman etwas Neues sein, in welchem sich die Elemente des Lyrischen, Epischen und Dramatischen vereinigen.

Die Betrachtung der Geschichte des Romans zeigt, daß er nach einander alle Elemente in sich aufgenommen und sich der Entwicklung des modernen Lebens gemäß immer mehr verinnerlicht habe. Diese Verinnerlichung des modernen Geistes hat die äußeren Thaten zu inneren gewandelt, sie hat das Schlachtfeld der mächtigsten Gedanken in die Seelen gelegt und ein Heldentum des Geistes, des Charakters geschaffen, wie es sich in den ruhigen Verhältnissen der Vergangenheit niemals hätte entfalten können. Dieser reiche Inhalt von Regungen, welche sich in Haupt und Herz abspielen, kann sich nicht in der Lyrik allein entfalten, weil der Gedanke eine zu große Stellung einnimmt; nicht im Epos, weil dasselbe, wenn auch im Lichte der höchsten Ideen, die Thaten der Kraft feiert und durch die poetische Form der Prosa des äußeren Lebens widerstrebt; nicht im Drama, denn die natürlichen Bedingungen desselben verbieten die Ausführung jener inneren Kämpfe, welche den Inhalt der modernen Zeit bilden; sie fordern immer die äußere That, während das Werden des Charakters, die entscheidenden Wendungen sich oft nur innerlich und so langsam und vielverschlungen vollziehen, daß sie der Darstellung auf der Bühne unfähig sind. Weil aber in der Menschheit, auf welcher Stufe sie sich befinden möge, immer die Phantasie arbeitet und ein Streben erzeugt, welches man als »Drang nach Selbstdarstellung« bezeichnen darf, so ist es natürlich, daß der reiche Gehalt des modernen Geisteslebens eine freiere Kunstform sich erschuf – und diese ist eben jene des Romans. Derselbe ist keine ästhetische Uebergangsform, sondern eine neue werdende Form, welche ihre Vollendung noch nicht erreicht hat und sie erst erreichen kann, wenn die unser Dasein beherrschenden Gegensätze zum Austrag gebracht sind. Der auf ästhetischen Gesetzen beruhende, unter dem Lichtstrahl einer harmonischen und gereiften Weltanschauung vollendete Roman ist das Kunstwerk der Zukunft.

Aus Vischers Anschauung müßte die Ansicht hervorgehen, daß der Schluß »unvermeidlich hinkend« sei. Ist das jedoch der Fall?

Er selbst hat im Anschluß an Hegel zugegeben, das Poetische habe sich in die Seele geflüchtet. Das Leben der Seele ist Bewegung, zuerst halb unbewußte, dann von der Intelligenz geleitete. Nur das sich Entwickelnde ist poetisch, was fest steht, hat den Reiz des Werdenden verloren. Es gilt somit die Idee – das ist im Roman das Werden oder Vergehen des Charakters innerhalb der Weltordnung – bis zum vollen Abschluß zu bringen, wo eine feststehende Weltanschauung von dem Individuum erreicht ist, oder dasselbe sich vom Sittlichen abwendend ethisch zerbröckelt. Ist dieser leitende Gedanke objektiv zum Austrag gebracht, dann ist es vollkommen gleich, ob der Träger der Handlung heiratet eine Stellung erreicht oder nicht; dann ist es gleich, ob der Schluß heiter oder tragisch ist, ob er durch eine That oder ein Leiden herbeigeführt wird. Dann aber fällt die von Vischer (§ 881) gegebene Einteilung nach Stoffgebieten zusammen. Da der bleibende Stoff die Menschenseele ist, so hat es auf die Kunstform gar keinen Einfluß, ob ich nun Künstler, Räuber, Aristokraten, Bürger oder Bauern auftreten lasse; ob die Entwicklung in der Gegenwart oder Vergangenheit spielt, ob soziale oder politische Tendenzen hineingewebt sind. Dieselben müssen, das ist die einzige Forderung, sich in und aus dem Charakter entwickeln, sie müssen einen Teil seines Schicksals bilden, also dichterisch objektivirt sein. Weil das Individuelle Hauptsache ist, so bestimmt es auch die Verwendung des geschichtlichen Rohstoffs. Die großen Gestalten der Vergangenheit, die großen Schicksale der Völker kann der Roman nicht in den Mittelpunkt stellen. Die Gründe sind sehr einfach. Die letzteren sind nicht individuell und deshalb kein Gegenstand der Kunst; die ersteren hängen mit allem, was ihre geschichtliche Bedeutung ausmacht, mit den Massen zusammen und sind deshalb als historische Menschen nicht zu verwenden. Zeichnet man sie aber nur als private Menschen, so wird jene durchaus unkünstlerische Verquickung von Wahrheit und Dichtung entstehen, gegen welche schon Herder mit Recht geeifert hat.

Die Geschichte kann nur als ein Teil des Schicksals der halb oder ganz frei erfundenen Gestalten benützt werden; von dem Hintergrunde der großen, völkerbewegenden Ereignisse lösen sich Menschen ab und werden in ihrem inneren Werdegang von denselben gefördert oder gehemmt, geleitet oder verleitet. Das Menschliche ist der Kern des Inhalts, Sitten und Lebensformen, Empfindungen der Vergangenheit bilden nur den Einschlag des Gewebes; wo sie zur Hauptsache werden, dort ist der Kunstwert vernichtet. In den Vordergrund treten sollen nur solche Ereignisse und Erscheinungen, welche in Stimmungen der Phantasie begründet, durch die nachschaffende Phantasie neu belebt werden können, indem der Dichter sie in einem Individuum verkörpert, und so im Spiegel des Einzelschicksals ein Völkerschicksal symbolisch wiedergiebt.

In § 882 versucht Vischer die Gattungen des Romans nach »Stimmungsunterschieden der Phantasie« zu bestimmen (komischer, sentimentaler, humoristischer Roman). Daß diese, begründet auf die individuelle Weltanschauung des Dichters, von ungleich tieferer Berechtigung ist, als jene nach dem Stoff, bedarf keiner Erwähnung. Aber auch hier kann kein Unterschied der Kunstform abgeleitet werden, so sehr auch gewisse Erscheinungen (Sterne, Hippel, Jean Paul) es nötig zu machen scheinen. Der frühere sentimentale Roman war nur eine Uebergangsstufe aus der Nüchternheit zu einer poetischeren Stimmung; was ihn als literarisches Erzeugniß kennzeichnete, war keine aus dem Wesen der Kunstform hergeleitete Eigenschaft, sondern ein unkünstlerisches Ueberfließen der Subjektivität. Ganz dasselbe gilt von dem humoristischen Roman, denn Hippels und Richters Eigenart liegt nicht nur im Durchbrechen der Kunstform: sie waren nicht im Stande, ihre Weltanschauung vollkommen zu objektiviren, d. h. künstlerisch in lebensfähige Gestalten zu verwandeln; Jean Paul »humorisirt« oft nur um die Gestalten herum, statt in sie hinein und aus ihnen heraus.

Es giebt nur eine Kunstform des Romans, diese aber kann im Inhalt so vielgestaltig sein als das Leben selbst. Wie im Leben Humor, Satire, Tragik, kurz jede nur denkbare Stimmung sich in Gestalten und in deren Beziehungen zum Weltlauf verkörpert, so auch im Roman. Je mehr ein Dichter es versteht diese oft verborgenen Klänge hervorzulocken, die oft unendlich feinen Seelenstimmungen zu verdichten und das Ganze vom Standpunkt seiner Weltanschauung sittlich wie ästhetisch zu ordnen, desto umfassender wird auch sein Weltbild sein. Auf der höchsten Stufe der Vollendung verschwindet auch im Roman scheinbar der Dichter ganz; scheinbar, denn sein Ich verrät sich eben durch die Auffassung vom Schicksal, wie durch dasjenige, was er zuletzt zu Recht bestehen läßt. Der Dichter mag machen, was er will, er entfaltet nicht den Reichtum der Welt, sondern jenen des eingeborenen eigenen Geistes, welcher das Sein erst in sich verarbeiten muß, ehe er es aus sich individuell gestalten kann.

Moritz Carriere hat dem Roman in seiner »Aesthetik« eine kürzere Betrachtung gewidmet, welche jedoch in manchen Punkten über Vischer hinausgeht. Vor Allem hat er ausgesprochen, daß der Schluß des Romans in der »Erlösung der Gemüter und Lösung der Konflikte« gegeben sei. Die zerstückelte Wirklichkeit erscheine in der Dichtung als Ganzes, wenn der Dichter den Stoff vom Standpunkt seiner Weltanschauung durchdringe. Tendenzen, wenn in Charaktere gewandelt, seien zulässig, nur müsse sich der Dichter hüten, Probleme aufzustellen, welche er selbst zu lösen nicht im Stande sei. In den übrigen Punkten stimmt Carriere mit den Ergebnissen der Vorgänger überein.

Die wenigen bemerkenswerten Werke über Aesthetik aus jüngerer Zeit haben den Roman sehr flüchtig erwähnt und keinen einzigen neuen Gedanken ausgesprochen; es ist überflüssig, derselben hier zu gedenken. Erwähnt sei nur ihrer Sonderbarkeit wegen eine kleine Arbeit von Detlev v. Biedermann: »Der Roman als Kunstwerk« (Dresden 1870). Der Verfasser verwirft Tendenzen ganz und gar und versucht es, nach dem »goldenen Schnitt« – jedenfalls von Zeising angeregt – zu bestimmen, wie viel Bruchteile auf das Geschichtliche (Erzählte), auf Schilderungen, Charakterzeichnung, Gespräch und Betrachtung kommen.

Von den Dichtern unserer Zeit selbst hat nur Fr. Spielhagen (»Vermischte Schriften« 1864. I.) in einem größeren Aufsatz sich mit dem Stoffe beschäftigt, »Ueber Objektivität im Roman« lautet der Titel der Abhandlung. Neues brachte der Autor nicht, aber er führt überzeugend den Grundsatz aus, daß ohne Objektivität ein künstlerischer Roman nicht möglich sei. Bemerkenswert ist der Teil, welcher sich gegen die Reflexion wendet; wo sie nötig sei, dort möge der Dichter einen Charakter erfinden, welcher also als »idealisirter Zuschauer« gelten kann. – Auch bei Spielhagen kehrt der Irrtum wieder, der Roman habe keinen Abschluß, »er endet nicht, er hört auf«. Seltsam genug behauptet der Verfasser, die Novelle habe eher eine Kunstform – wenn er aber, einen alten Irrtum erneuernd, behauptet, die Novelle verhalte sich zum Roman »wie der Teil zum Ganzen«, so kommt er mit sich selbst in Widerspruch und mit der Aesthetik zugleich. Dann ist der Roman nichts als die Gesammtheit mehrerer Novellen, wenn aber jeder Teil Kunstform hat, wie läßt sich dann sagen, daß deren Vereinigung sie gar nicht haben könne?

Wenn wir nun zusammenfassen, was die Wissenschaft an richtigen Ergebnissen gefunden hat und dasselbe mit den Ergebnissen unserer Einwände vereinen, so ergeben sich für den Roman folgende Gesetze:

1. Der Roman ist in seiner ästhetischen Entwicklung noch nicht völlig abgeschlossen, weil das moderne Dasein es noch nicht ist. Als sich entwickelnde Kunstform hat er sich entwickelnde Gesetze. Es ist ein Lebensbild, welches zugleich Zeitbild sein kann.

2. Die Grundlage desselben bildet eine ethische Idee-, sobald diese in den Gestalten, unter welchen eine den Mittelpunkt bildet, zum vollen Austrag gebracht ist, ist das Kunstwerk abgeschlossen.

3. Die Charaktere stellen dar lebensfähige Typen und verkörpern deren mannigfaltigste Strebungen als Ergebnisse des inneren Entwicklungsgangs. Ihr Schicksal ergiebt sich als Ergebniß der Anlagen und des Weltlaufs.

4. Das dichterische Subjekt geht als solches unter, entfaltet aber seinen Inhalt in den Gestalten des Romans und beherrscht die Fülle der Erscheinungen durch seine Weltanschauung.

5. Weil der Roman ein Bild des Lebens ist, das Leben aber sich selbst im scheinbaren Stillstand fortentwickelt, so müssen alle Teile des Kunstwerks von dem Grundsatz des Werdens beherrscht sein und zur Förderung beitragen. Dieses Gesetz bestimmt sämmtliche Mittel der Darstellung: Charakteristik, Gespräch, Beschreibung. Jede außerhalb der Gestalten gestellte Reflexion ist kunstwidrig, weil sie sich nur an das abstrakte Denken wendet; die Kunst muß aber überall von Phantasie auf Phantasie zu wirken suchen. Die eingestreuten Betrachtungen sind kunstwidrig, weil sie den Gestalten des Romans jene des Dichters beigesellen, welcher in dieser Form kein Recht einzutreten besitzt.

Eine besondere Untersuchung machen jene Mittel der Darstellung nötig, welche unter 5 genannt sind.

Die Kennzeichnung der Gestalten wird naturgemäß eine äußere und innere sein müssen. Zu der zweiten rechne ich Alles, was in irgend einer Art aus der Seele hervorgeht, Gedanken, Gefühle, Handlungen. Die Hauptgestalten, besonders der Held, sind als sich entwickelnd in die Entwicklung hineingedacht. Die Umstände locken das Innere hervor, dasselbe aber wehrt sich irgendwie gegen den Einfluß der Verhältnisse, besiegt sie oder unterliegt ihnen. So stellt sich das Werden des Charakters aus den Anlagen als eine Art von Prozeß dar, in welchem das Ich mit der Welt steht und aus welchem Gedanken, Gefühle und Handlungen hervorgehen. Will der Dichter dieselben begreiflich machen, so muß er ihrem Werdegange nachgehen und dadurch die Phantasie des Lesers zwingen, sich an der inneren Entwicklung zu beteiligen; er muß diesen Werdegang nach der Logik der Psyche darstellen, so daß die Charaktereinheit auch bei tiefen Wandlungen gewahrt bleibt. Daraus ergiebt sich die naturgemäße Verschiedenheit der Gestalten – wer nicht fähig ist, diese zu erreichen, hat auf den Namen eines Dichters keinen Anspruch.

Anders ist die äußere Charakteristik – hier gilt es, mit den kleinsten Zügen die denkbarst körperliche Anschaulichkeit zu erreichen, deshalb können sich Anfänger oder Macher so selten in der Ausführlichkeit genug thun. Noch immer gelten hier zum Teil jene Gesetze, welche sich uns im griechischen Epos so vollendet klar darstellen: man schildere die äußere Erscheinung durch die Wirkungen derselben. Bekanntlich hat Lessing im »Laokoon« nachgewiesen, wie die Häufung von äußeren Zügen das Bild verwirre, weil die Phantasie nicht im Stande sei, das Einzelne zu einer Anschauung zu vereinen. Aber etwas hat der Begründer unserer deutschen Aesthetik übersehen. Es ist nicht allgemein giltig, daß Niemand fähig sei, sich diese eine Anschauung aus einzelnen Zügen zu bilden; es giebt Viele, welche es können. Für alle solche ist eine derartige Schilderung geradezu eine Kette für die Phantasie. Wir sind gewohnt, uns Gestalten innerlich zu verkörpern; je lebhafter die bildende Kraft in uns wirkt, desto mehr werden wir uns die einzelnen Figuren im Laufe der Lektüre vergegenwärtigen, und zwar nach dem Bilde des inneren Menschen, den uns der Dichter vorführt. Ohne daß wir es wissen oder wollen, werden wir nach Maßgabe unserer thatsächlichen Menschenkenntnis; und aus dem Gemüte heraus zu der Psyche, wie sie der Dichter bietet, einen Körper aus den Erinnerungsbildern jener Menschen wählen, mit denen uns das Leben in Berührung gebracht hat, oder aus uns selbst heraus Gestalten bilden. Je mehr nun der geschilderte Charakter dem uns bekannten entspricht, desto störender wird es für unsere Phantasie sein, wenn das Aeußere desselben im Roman unserer Vorstellung widerspricht. Läßt sich das umgehen?

Gewiß, und noch dazu in einer Art, welche viel mehr künstlerische Wirkung ausübt, als eine noch so genaue Schilderung: der Dichter gebe nur die Umrisse des Aeußeren und überlasse die Ausführung dem Leser. Je weniger er denselben äußerlich zwingt, desto mehr zwingt er ihn innerlich, sich den Körper nach der Psyche zu bilden. Eine Ausnahme kann nur eintreten, wenn man durch Gegensätze wirken will.

Im innigen Zusammenhang damit steht eine Eigenheit des Stils: die Anwendung des Beiworts. Dasselbe ist zur Erzielung eines plastischen Eindrucks von größter Wichtigkeit. Aber auch hier wird das Uebermaß die Klarheit entschieden schädigen und die Verwendung von zu bestimmten Eigenschaftsworten unangenehm empfunden werden. Diejenigen, welche die Wirkung andeuten, sind besser, als solche, welche nur die körperliche Eigenschaft bezeichnen; sie geben der Anschauung, weil sie mit einem Element der Bewegung verbunden sind, eine viel größere Lebendigkeit und lassen der Phantasie frei, sich das Uebrige nach individuellem Bedürfniß auszuführen; sie verwirklichen ihrem Inhalt nach das Prinzip des Werdens und entsprechen deshalb am meisten der Poesie. »Ein bezauberndes Antlitz« entspricht dem Zwecke mehr, als ein nur »schönes«.

Wenn die bloße Beschreibung von äußeren Zeichen innerer Vorgänge angewendet wird, muß sie auch von dem »Prinzip der Bewegung« bestimmt und mit irgend welchen Handlungen im Zusammenhange stehen – in jedem äußeren Zeichen muß sich ein Inneres aussprechen.

Von besonderer Wichtigkeit ist dieser Grundsatz für die Schilderung der Orte und Gegenstände. Wenn sie der Dichter noch so genau zeichnet, kann er volle Körperlichkeit doch nicht erreichen. Hier ist nur der eine Weg, das Unbeseelte in die Bewegung einzuführen: es nämlich mit dem Beseelten, also den Menschen in Beziehung zu setzen. Auch hier ist eine äußere und innere Verbindung herzustellen. Die Gegenstände werden geschildert, indem man sie in die Handlungen mit hinein verwebt; die Natur wird beschrieben, indem der Dichter sie mit den Empfindungen der Gestalten durchgeistigt. Dadurch wird sie mit der seelischen Bewegung verknüpft und erhält jene leise Bewegung, welche mit der bloßen Aufzählung der einzelnen Merkmale niemals zu erreichen ist.

Dasselbe Merkmal muß das Gespräch an sich tragen. Die Bedeutung desselben mußte sich um so mehr steigern, je verinnerlichter unser ganzes Leben geworden ist. Nicht wie einst stoßen materielle Kräfte feindlich zusammen, der größte Teil der Kämpfe vollzieht sich auf geistigem Gebiete. Was im ältesten Roman das Schwert war, ist jetzt das Wort; je umfassender und dem Zeitgeist näher der Plan des Dichters ist, je mehr seine Hauptgestalten mit den Strebungen der Gegenwart verknüpft sind, je tiefer er das Seelenleben erfaßt, desto größeres Gewicht wird er auf das Gespräch legen müssen. Zwei allgemeine Regeln ergeben sich aus dem Ganzen: es muß kennzeichnend für die Redenden, muß es für den Augenblick sein.

Schon in diesen Beziehungen hat sich eine platte landläufige Technik gebildet, welche mit der Kunst gar nichts zu thun hat. Weil es den Schriftstellern vom Tage für den Tag zu schwierig oder versagt ist, sich in die Seelen hineinzufühlen, wählen sie ganz äußere Kennzeichen, um die Gestalten kenntlich zu machen und unterscheiden sie nicht durch das, was sie dieselben sprechen lassen, sondern nur durch das Wie des Gesprächtons. Daß der Realismus solche Nachahmungen der Wirklichkeit fordert, darüber kann kein Streit entstehen, aber hier giebt es eine Grenze, welche das echte Talent nicht überschreitet. Einige feine Züge werden diesem genügen, weil es die Menschen durch den Inhalt der Worte zu zeichnen versteht, während der Alltagsschreiber immer die gleichen Merkmale bringt und sich damit begnügt. Ebenso unkünstlerisch ist es, flache Gespräche über viele Seiten auszudehnen – eine Plattheit im richtigen Augenblick wirkt bezeichnend genug und es ist überflüssig, Menschen viel sagen zu lassen, die nichts zu sagen haben.

Das Gespräch muß in jenen Momenten eintreten, wo die Spannung zum Worte drängt; es muß, selbst wenn fein ausgeführt, in sich die innere Vorwärtsbewegung verkörpern und den Zweck des Ganzen verfolgen; es muß in irgend einer Weise dazu dienen, Gedanken oder Gefühle klar zu machen oder zu erzeugen, welche für den Stoffkreis des Ganzen von Wichtigkeit sind, bestehende Gegensätze zum Bewußtsein des Lesers zu bringen. Da der epische Dichter nicht so der That zudrängt, als der dramatische, so hat er nicht nötig, sich zu beeilen, er darf die feinen Uebergänge mehr ausführen, er darf das Gespräch sogar benützen, um die geschichtliche Stimmung zum Ausdruck zu bringen oder allgemeinere Fragen zu behandeln, aber die erstere muß sich auf die Hauptgestalten beziehen, die zweiten müssen dem Charakter der Sprecher entsprechen und den Zweck des Ganzen fördern.

Die Ausführlichkeit des Dialogs hängt mit der Wichtigkeit des Augenblicks und der Personen zusammen; in den episodischen Teilen ist er auf das Notwendigste einzuschränken.

Von Bedeutung ist das Selbstgespräch. Da die Entwicklung des inneren Menschen den Hauptstoff des Romans bildet, so sind Augenblicke der Selbstbetrachtung kaum zu umgehen. Die Wahl des Augenblicks für solche kennzeichnet den Dichter. Er wird stets eingedenk bleiben, daß auch im Leben solche Momente etwas Vergangenes abschließen oder etwas Werdendes vorbereiten. Die Persönlichkeit hält auf dem Wege inne, um sich in das eigene Ich zu versenken. Hier können die geheimsten Triebfedern der Handlungen, hier die geistigen Anschauungen des Individuums, so weit sie in den Rahmen des Kunstwerkes passen, enthüllt werden. Aber auch diese individualisirte Betrachtung muß jenes Merkmal leiser Bewegung an sich tragen, welche den Zweck des Ganzen fördert, zur Willensthätigkeit führt oder doch das Wesen der Gestalten erklärt. – Wertvoll ist die Selbstbetrachtung als technischer Hilfsgriff in solchen Augenblicken, wo ein Vergangenes in die Entwicklung des Stoffes eingreift. Aber auch hier wird oft gesündigt, denn die bloße Erzählung der Vergangenheit ist noch nicht kunstgemäß. In jeder Stimmung sieht der Mensch das Erlebte anders an und deshalb muß in der Darstellung desselben auch jener Seelenzustand bemerkbar sein, in welchem sich die Gestalt im Augenblicke der Rückschau befindet.

Die Betrachtung berücksichtigt nicht alle Fehler, welche heute gemacht werden, aber giebt doch Hinweise auf das Wichtigste. Auch die Romanschreiber müßten allmälig zur Einsicht gelangen, daß ihre Beschäftigung, falls sie Erschaffung von Kunstwerken bezweckt, das ästhetische Urteilen zur notwendigen Voraussetzung habe.

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