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Der Münchner Frühling des Jahres 1854 war naß und kalt gewesen. Noch Mitte Mai hatte man heizen müssen. Nun war's Ende Juni und sehr heiß geworden. Die Etatsrätin sorgte sich um ihren Sohn. Vor wenigen Wochen aus Rom zurückgekehrt, hatte Jens mit angesammelter Spannkraft und Schaffensfreude seinem Bilde die letzte Vollendung gegeben. Dann aber hatte ihn ein Fieber gepackt. Pfeufer versuchte die Mutter zu beruhigen: Das Wechselfieber trete heuer so häufig auf, daß man wohl von einer kleinen Epidemie sprechen könne, verlaufe aber durchweg gutartig. Aller Voraussicht nach würden sie im August reisen können. Die neue Luftveränderung werde dann die letzte Genesung vollenden. – Er schien Recht zu behalten: Mitte Juli schon fing Jens an, seine akademischen Freunde und Bekannten aufzusuchen, um ihre Arbeiten zu besehen, ihnen von Rom zu erzählen und Abschied zu nehmen. Beim Cunctator traf er die Odinda, deren dunkle Schönheit Eindruck auf ihn machte, auch tue sie ihm leid, sagte er, weil jener sie augenscheinlich schlecht behandele und ihrer nicht wert sei. Eines Nachmittags schloß Jens mit der Mutter sich Wolfs zu einem Besuch der Gewerbeausstellung an, für die der König durch Voit und die Nürnberger Maschinenfabrik von Kramer und Klett ein Gebäude ganz aus Eisen und Glas hatte errichten lassen. Daß dieses merkwürdige Bauwerk, zu dem der Exkönig den Kopf schüttelte, und an dem Klenze nie ohne auszuspucken vorüberging, ausgerechnet in den Botanischen Garten hatte kommen müssen, veranlaßte den alten Hofrat Martins, sein Abschiedsgesuch einzureichen. Auch Johannes meinte, man hätte wohl einen andern Platz finden können. Im übrigen scheine ihm das Gebäude zweckmäßig, und wenn man sich etwa noch entschließe, große Wandflächen mit Drahtgeflecht zu überziehen und allerhand Rankengewächs anzupflanzen, so werde dieser Glaspalast, wenn auch nicht gerade palastmäßig, so doch mit der Zeit vielleicht ganz erfreulich wirken. Schlimmer fand er, daß die Ausstellung neben manchem Guten so fürchterlich viel Kram enthalte, oder ob man Dinge wie Schuhe, auf deren Sohlen in bunten Stiften bayerische Gebirgslandschaften dargestellt seien, anders bezeichnen könne. – Nein, da hätte man doch von den Engländern lernen sollen! Übrigens habe er dieser Tage in der Zeitung gelesen, daß der Herr Krupp in Essen seit der Londoner Ausstellung ganz bedeutende Geschäfte mache. Sogar die preußische Regierung, die vor fünf Jahren noch ein von ihm nach Berlin gesandtes Kanonenrohr kaum beachtet hätte, fange jetzt an, seinem Gußstahl ein Interesse zuzuwenden. Und wenn es sich bewahrheite, daß der Kruppsche Küraß kugelfest sei, möge damit wohl eine neue Epoche der Weltgeschichte beginnen. Inzwischen aber werde Preußen hoffentlich bald dem Beispiel Ägyptens folgen, das als erster von allen Staaten dem Hause Alfred Krupp in Essen Gußstahlkanonen in Auftrag gegeben habe.

Es war nicht diese Gewerbeausstellung, weswegen Wolfs ihre Sommerfrische und Pina ihre Abreise in die Heimat noch hinausgeschoben hatten: man wollte das Gesamtgastspiel der namhaftesten deutschen Bühnenkünstler, das Dingelstedt vor einigen Tagen mit der »Braut von Messina« eröffnet hatte, noch genießen: insgesamt zwölf Vorstellungen. Pina war hochbeglückt, davon würde sie ihr ganzes Leben zu zehren haben. Da, in so freudenreicher Zeit, traf ein unerwarteter Gast in München ein, der vielen die Freude verdarb.

Hatte er sich anmelden wollen, als vorige Woche aus Mexiko die Trauerkunde von dem plötzlichen Tod der wunderschönen Gräfin Rossi eintraf? Der Gräfin Rossi – nein, der entzückenden Henriette Sontag, der blonden, ewig jungen Sängerin mit den sanften blauen Augen, der Henriette Sontag, deren Anmut und überirdisch süße Stimme schon vor einem Vierteljahrhundert Tausende und Abertausende in einen Freudenrausch versetzt, seit sie 1823 in Wien als Erste Webers Euryanthe gesungen hatte. Nun war sie für immer verstummt, die rheinische Nachtigall, die Holtei mit so amüsanter List für Berlin eingefangen. Fünftausendsechshundert Taler waren gewiß eine schöne Gage für das zweiundzwanzigjährige Theaterkind, das am 3. August 1825 die Isabella in Rossinis »Italienerin« sang, nachdem seine noch jugendlich schöne Mutter den von Holtei verfaßten Prolog gesprochen hatte, denn es war an Königs Geburtstag. Und dem die Berliner schmerzlich und zuerst sogar ein wenig ärgerlich nachtrauerten, als es allzu rasch dem Ruf der Großen Oper nach Paris folgte.

Gewiß, auch andere Sängerinnen hatte man mit Huldigungen überschüttet, die Schröder, die Schechner, die Catalani und dann später die Jenny Lind, aber zu Henriette Sontag hatte man doch ein ganz eigenes und unvergleichliches Verhältnis gehabt. Und wie war diese holde Unnahbare von den Männern umschwärmt worden, bis sie 1828 mit dem Grafen Rossi, dem Attaché bei der sardinischen Gesandtschaft zu Berlin, sich vermählte, und Friedrich Wilhelm III., sie hoffähig zu machen, ihrem hübschen Mädchennamen die stolze Bezeichnung »von Lauenstein« anhing. Leider mußte die Frau Gesandtin der Bühne entsagen, nur in Konzerten noch ließ sie, selten genug, sich hören.

Aber die Lebensführung der ansehnlich sich vermehrenden Gesandtenfamilie war kostspielig, in Berlin, in Frankfurt beim Bundestag und am meisten in Petersburg: nach zwanzig Jahren zeigte sich leider, daß das ererbte Vermögen des Grafen und das ersungene der Gräfin beträchtlich zusammengeschmolzen war, so daß die Kinder dereinst das Nachsehen haben würden ...

Da bot mitten in derlei Betrachtungen hinein der Theaterunternehmer Lennley von London der Gräfin sechsundfünfzigtausend Taler für die Saison, dazu freie Wohnung und freie Equipage. Der Graf hing den Gesandten an den Nagel, man reiste nach London, und 1849 betrat die Sechsundvierzigjährige, über deren Schönheit und Stimme die Zeit keine Macht hatte, wieder die Bühne. Die ganze Aristokratie erhob sich bei ihrem Erscheinen von den Sitzen, die Mutter zu ehren, die für ihre Kinder sang, und der alte Herzog Wellington war der Erste, der in der Pause ihr die Hand küßte. Rasch reihte allerorten Triumph sich an Triumph. In München ward die Unvergleichliche mit einem huldigenden Lied empfangen, das König Max gedichtet und Lachner vertont hatte. »Die Begeisterung, die sie überall entzündete, glich dem ›griechischen Feuer‹, das unlöschbar ist.«

Dann kam die Gastspielreise durch Amerika, die als Vollendung und Abschluß ihrer zweiten Bühnenlaufbahn gedacht war, und auf der nun der Tod in seiner gräßlichsten Gestalt die vielgeliebte schöne Sängerin ereilt hatte.

War es nicht, seitdem diese Trauerbotschaft den Münchnern ans Herz gegriffen, wie wenn etwas in der Luft liege, ein Verhängnis sich vorbereite?

Eines Mittags erzählte Johannes bei Tisch, sein altes Fabrikfaktotum, Erasmus Rattenhuber, habe ihm ganz erregt berichtet: die Dohlen von den Frauentürmen hatten die Stadt verlassen! Das bedeute Unheil! Und andern Tags verbreitete sich das Gerücht, im Lorenziarmenhaus am Anger sei Einer an Cholera gestorben. Bald wußte man, daß das kein bloßes Gerücht war. Da hatte der Polizeidirektor dann täglich an tausend Reisepässe zu behandeln, die keineswegs nur von den heim fliehenden Fremden begehrt wurden.

Johannes bat den Obermedizinalrat Pfeufer um Verhaltungsmaßregeln, denn Erasmus Rattenhubers Rat, man müsse ein Kupferplättchen auf dem Nabel tragen und »vuil Kamüllentee« trinken, wollte ihm nicht ohne weiteres einleuchten. Mit Pina sprach er: ob sie nicht unverzüglich nach Hause reisen wolle. Aber sie versicherte, sich sehr wohl zu fühlen, keine Spur von Angst zu haben und, sofern sie dürfe, lieber bleiben zu wollen. Das Hoftheater führe sein Gesamtgastspiel ja auch zu Ende und im übrigen glaube sie, auf der langen Reise und in den anfangs wenigstens mit ängstlichen und also schon halbkranken Menschen überfüllten Eisenbahnwagen mindestens so gefährdet zu sein, wie wenn sie ruhig wie bisher weiterlebe. Auch sei es ja nicht ausgeschlossen, daß, wenn die Seuche wirklich überhand nehme, Pflegerinnen gesucht würden. In gleichem Sinne schrieb sie nach Hause und mit der Zustimmung der Eltern traf von der Großmutter ein Päckchen Hahnemannscher Pülverchen und Kügelchen ein und die Bitte, solches doch ja einzunehmen: abwechselnd den einen Tag ein Pülverchen und den andern Tag ein Kügelchen, was sie dann auch gewissenhaft tat, da es ja doch nichts schaden könne.

Die Etatsrätin hatte mit ihrem Sohn sofort abreisen wollen, aber Jens fühlte sich dazu nicht wohl genug, und dann wollte und wollte auch die Kiste für die »Heimkehr« gar nicht fertig werden, und der Schreinermeister gestand endlich, er müsse Tag und Nacht für das Sargmagazin im Fingergassl arbeiten.

Denn die Cholera hatte inzwischen mit furchtbarer Wut um sich gegriffen und den ganzen Tag durchfuhren die schwarzen Wagen die Stadt, über der die Luft gelb wie von Schwefel lag. Seltsamerweise waren es anfangs gerade die Straßen der Vornehmen und Reichen, in deren saubern Häusern die, allen ärztlichen Theorien zum Trotz, ihre Opfer sich suchte. Aber der sechsundreißigjährige Max Pettenkofer, der chemischer Assistent an der Königlichen Münze gewesen war, bis ihm voriges Jahr der neue Lehrstuhl für medizinische Chemie an der Universität überwiesen ward, der wandte seine Aufmerksamkeit den Dingen und Zuständen nicht in den Häusern, sondern unter den Häusern zu. Er begann zu untersuchen, welchen Einfluß der Erdboden, das Grundwasser, die Grundluft auf Entstehung und Verbreitung der Cholera haben könnten. Mühevolle und langwierige Untersuchungen, deren Wirkung dann auch der Bekämpfung der chronischen Münchner Lokalkrankheit: des Typhus, zugute kam und mit der Zeit zu einer völligen Entseuchung der Stadt führte.

Anfang August ward der Hof nach Nymphenburg verlegt. Das Gesamtgastspiel war zu Ende, aber das Hoftheater spielte auf königlichen Befehl weiter, und den Intendanten, der seine Familie in die Berge geschickt hatte, konnte man jeden Vormittag bei Carolina Tambosi unter den Arkaden seine Tasse Schokolade trinken sehen. Gerade wie wenn er nicht wisse oder es ihn nicht angehe, daß Gottes Zorn die Königliche Haupt- und Residenzstadt mit diesem großen Sterben heimgesucht, um ihrer zunehmenden Verketzerung und Verpreußung zu steuern. War's nicht unerhört, daß er in solcher Zeit das Preußenstück, die Minna von Barnhelm, und die Judenoper, den Propheten, auf den Spielplan zu setzen wagte? Wann endlich würden dem guten König Max die Augen über diese Nordlichter aufgehen?

Pina nahm in diesen Wochen der Etatsrätin manche häusliche Arbeit ab, damit diese sich um so mehr ihrem Sohn widmen könne, dem es gar nicht gut ging. Er lag zu Bett und hörte ohne sonderliche Teilnahme der Mutter zu, die ihm ausmalte, wie sie in Kopenhagen ihr Leben sich einrichten wollten. Die »Heimkehr« hatte er in sein Schlafzimmer bringen lassen, so daß er das Bild vom Bett aus sehen konnte.

Noch war kein Nachlassen der Seuche zu bemerken, aber die anfängliche Kopflosigkeit war einer organisierten Bekämpfung und Hilfe gewichen. In erster Linie war es der Obermedizinalrat Pfeufer, der die Behörden vortrefflich beriet, und man erzählte sich, daß er unter anderm empfohlen habe, in dieser Zeit ausnahmsweise auch die kleinen Diebe laufen zu lassen, damit nicht etwa das Untersuchungsgefängnis ein Herd der Krankheit werde. – Auch entwöhnten sich viele, jedes vom Durchschnittlichen abweichende Befinden für beginnende Cholera zu halten. Ja, im Hofbräuhaus, auf den Kellern und in den Weinstuben herrschte eine vermehrte Ausgelassenheit, und auch sonst genossen nicht wenige das Leben in volleren Zügen, seine ganze Süße gegen die Bitterkeit des Todes aufbietend. – Von den Ärzten empfahl einer ein Universalmittel einfachster Art, das fast nie versage: Er ließ den Kranken tüchtig schwitzen, wenn auch nicht so gewalttätig dabei verfahren zu werden brauchte, wie es die Cenzi von ihrer Herrschaft erzählt hatte. Als aber auf sein Betreiben eine Kommission von Ärzten seine Patienten besuchte, um sich von der Vortrefflichkeit seiner Behandlung zu überzeugen, da ergab sich erfreulicherweise, daß von den brav Schwitzenden keiner die Cholera hatte. Doch auch, wo es sich unzweifelhaft um Cholera handelte, genas bei früh genug einsetzender ärztlicher Behandlung etwa die Hälfte. – Da eines Mittags erschien der Obermedizinalrat Pfeufer bei Johannes Wolf, er müsse ihm sagen, daß der junge Maler droben die Cholera habe. Das Vorläuferstadium habe etwas langer gedauert, jetzt jedoch seien alle Symptome vorhanden: Durst, Kälte, Schweiß, Erbrechen, bläuliche Haut, Krämpfe. Aber man dürfe noch hoffen. – Nun richtete Pina sich ein, ganz bei der Etatsrätin zu bleiben, deren Fassung sie bewunderte, denn der Kranke schrie zuweilen vor Schmerz so laut, daß Wolfs ihn hörten, und schlimmer noch als die Schmerzen quälte ihn die Angst, nicht vor dem Sterben, aber vor den Krämpfen. Dazwischen verlangte er so oft und so anhaltend nach der schönen Odinda, daß die Etatsrätin sich endlich schweren Herzens aufmachte, den Cunctator zu bitten, ob er nicht mit jener ihren Sohn besuchen möchte. Sie kam aber unverrichteter Dinge zurück: die beiden seien vor ein Paar Tagen abgereist. Daß diese Reise zum Friedhof geführt hatte, verschwieg sie. – Dann schien eine Besserung einzutreten, aber Pfeufer sagte, er traue dem Frieden nicht und sprach von Harnstoffvergiftung ... »da feuern wir Ärzte nur noch mit Platzpatronen gegen einen übermächtigen Feind«. Und wieder behielt er Recht: der junge Maler starb, den Namen der toten Malaiin auf den Lippen. Die Etatsrätin erkrankte nicht. Sie brach auch nicht zusammen. Und Pina half ihr stark sein.

In diesem Haus ward niemand mehr von der Cholera befallen, die viele andere um alle Bewohner brachte. So sollte die allerdings nur kurze Perusastraße bis auf einen alten Herrn gänzlich entvölkert sein. Nachdem die Seuche dann noch als eines der letzten von über zweitausend das gute Herz der Exkönigin Therese stillstehn geheißen, das mit dem leichtentzündbaren ihres Ludwigs so viele, durch holperige Verse anerkannte Nachsicht gehabt hatte, ward, als die Blätter von den Bäumen fielen, die Cholera amtlich für erloschen erklärt. Ein paar Tage vorher aber hatte Erasmus Rattenhuber seinem Herrn gemeldet, daß die Dohlen zu den Frauentürmen heimgekehrt seien.

Da rüstete auch Pina sich zur Heimreise. Als sie sich von Pfeufer verabschiedete, der an ihrer tapferen Sachlichkeit seine Freude gehabe hatte, erzählte er ihr, daß von den zweihundert Ärzten nur einer, von den vielen Geistlichen und barmherzigen Schwestern und den Hunderten, die mit den Leichen zu tun gehabt hatten, niemand an der Cholera gestorben sei.


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