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Das Reis'chen in die Berge mitzumachen konnte Frau Maria Magdalena, ihrer Verjüngung ungeachtet, sich nicht entschließen. Sie vermöge alle diese Schönheit Himmels und der Erden vielleicht noch schöner sich auszumalen und dann stehe sie ja auch an der Schwelle eines Landes, von dessen Herrlichkeit jene nur ein schwacher Abglanz sei. Und sie finde die Luft in München selber kräftig genug und besonders abends, wenn der Wind die Stadt mit dem Odem der Berge und Wälder tränke, von so köstlicher Würze, daß sie nichts Besseres wünsche. Sie wolle also nur mit ihren Gedanken die andern in jenes gewiß doch recht unwirtliche Gebirge begleiten, aber gerne für diese Tage aus dem Gasthof in Johannes Wohnung übersiedeln und dort, von Mirls braver Pepi betreut, der kleineren Kinder großmütterlich sich erfreuen.

Aus dem Gebirge blies ein harscher Wind den Reisenden entgegen, die, früh um sechs Uhr am Stachusgarten vor dem Karlstor in den Stellwagen verpackt, Starnberg zufuhren. Bald durchschnitten sie dunkle Ausläufer unermeßlicher Wälder, bald die besonnten grünen Wellen freundlicher Täler und Mulden, in denen hie und da ein Dörfchen träumte oder eine kleine weiße Kapelle beschaulich einsamte. Von einem fernragenden Zwiebelturm erzählte Johannes, daß er zur katholischen Schloßkirche eines jüdischen Bankiers gehöre, der einen alten Herrensitz an sich gebracht habe, um desto leichter der innig ersehnten Nobilitierung teilhaftig werden zu können. Als ihm gleichwohl die Sache zu lange gedauert, habe er – so werde erzählt – ganz unverfroren um solche Erhöhung ein Gesuch eingereicht und gebeten, die Majestät wolle ihn zum Freiherrn von Andechs machen, welches alte Geschlecht ja ohnehin längst ausgestorben und gänzlich erloschen sei. Der König aber habe diese Bitte mit der eigenhändigen Randbemerkung abgelehnt: »Nein, Andechs nicht, aber Podex recht gerne!« – Und dann sahen sie in der Tiefe über einem fernen Waldstreifen das altersschwarze Dach der Reismühle, in der die Sage Karl den Großen geboren sein läßt, der jetzt im Untersberg der Wiederaufrichtung seines Reiches harrt. – Gegen zehn Uhr fuhren sie an den ansehnlichen Resten eines römischen Meilensteines vorüber und eine Viertelstunde später lag der See vor ihnen. In langer, schöner Fahrt trug das Dampfschiff sie über die blaue Flut, von der Mirl versicherte, daß sie keinen Ertrunkenen wieder herausgebe, sondern sie alle, aufrecht stehend, auf dem lehmigen Grunde festhalte. Und gar manchem Schiffer sei in seinem Einbaum ein Grausen angekommen, wenn er diese Garde des Todes da unten erblickt habe. Als sie an Leoni vorbeifuhren, wies Mirl auf ein freundliches Häuschen: das gehöre dem Romanschreiber Hackländer, aber für die letzten Sommer habe es ihm der Maler Kaulbach abgemietet, der die großen Bilder im Treppenhaus des neuen Museums zu Berlin gemalt, und in dessen Familie die schwedische Nachtigall, die Jenny Lind gewohnt habe, als sie vor sechs Jahren in München gesungen. In Seeshaupt nisteten Wolfs sich in der »Post« ein, um am nächsten Morgen mit frischen Kräften die vierstündige Wanderung zum Kochelsee anzutreten. Doch ließen sie sich gerne vom Posthalter bereden, am Nachmittag noch einen Spaziergang zur Lauterbachmühle am Ostersee zu unternehmen. Und das hatten sie nicht zu bereuen. Ja, Frau Anna, so oft sie später die Einzelheiten der ganzen langen Reise sich vergegenwärtigte, fand stets, daß dieses doch für sie landschaftlich der stärkste Eindruck gewesen war: die uralte, einsame Mühle an dem schöngebuchteten, stillen, blauen See, den der zarte Rhythmus waldiger Höhen einrahmte, dahinter im Schein und Widerschein der sich neigenden Sonne die hohen Berge leuchteten. Der überirdische Friede, die tiefe, tiefe Stille dieser zugleich traumhaft fremden und heimelig vertrauten Landschaft sollte ihnen bald gestört werden: ein Trüpplein hemdärmeliger junger Männer, breitkrempige schwarze Hüte in Händen – Demokratenhüte, wie sie der Münchner Polizei ein Dorn im Auge waren – und weißgewandeter junger Mädchen mit Blumensträußen, trat aus dem nahen Wald, zog mit Lachen und ausgelassenem Singsang über die Wiese der Mühle zu und ließ sich, ungeduldig nach Bier begehrend, in ihrer Nähe nieder.

Es waren Münchner Künstler mit ihren Mädchen, die einander jetzt die erbeuteten seltenen, ja zum Teil nur hier noch vorkommenden Orchideen zeigten, und nachdem Wolfs eine kleine Viertelstunde ihrer Gegenwart genossen hatten, erklärte Johannes, daß er nun im Bilde sei und von den Herren einige dem Namen nach kenne. Unter den Mädchen waren einzelne bildhübsch, vor allen fiel ein zierliches dunkles Geschöpf auf, dessen Antlitz, wie Johannes sagte gerade auf der Linie sich befand, an der Schönheit und Häßlichkeit zuweilen ganz unvermittelt aneinander grenzen. Als aber das Fräulein eben jetzt laut und ein wenig gezwungen lachte und mit einer gemachten Gebärde ausrief: »Schicksal – sagt meine Tante,« da meinte er, daß jene Grenze wohl bald mit Entschiedenheit überschritten sein werde. Und aus den Zurufen der andern bestätigte sich seine Vermutung, daß es die »schöne Odinda« und daß ihr flachsblonder langer Freund, den sie Cunctator nannten, der Maler Bormann sei. Der habe, erzählte Johannes, die schöne Odinda als »Rätsel« gemalt und im Frühjahr ein großes Aufsehen mit dem Bilde erregt, das alsbald ein Amerikaner gekauft habe. Übrigens solle jener Cunctator nicht der einzige sein, der sich der Gunst dieses seltsamen Wesens erfreue, das, wie es heiße, aus Indien nach München verschlagen sei. – In eben dem Augenblick erhob sich die Odinda, mit einer wegweisenden Handbewegung schon wieder ausrufend: »Schicksal – sagt meine Tante!« Sie verließ den Cunctator und setzte sich neben ein Mädchen, durch dessen Blondhaar sich ein Kranz aus lilafarbenen wilden Malven schlang. Mit einer etwas gesuchten Vertraulichkeit schmiegte sie sich an die erstaunt Aufblickende, jenen aus dunkelglänzenden Augen mal verächtlich, mal verheißungsvoll anblitzend. Aber den Langen schien solches Gebaren nicht anzufechten. Er lehnte sich, die Daumen in die Ärmellöcher der Weste eingesteckt und den Kopf hin und her wiegend, zurück und sang mit mehr kräftiger als reiner Stimme:

Z Lauterbach hab i mein Strumpf verlorn,
ohne Strumpf gehn i nöt hoam, ja hoam,
jetzt gehn i halt wieder auf Lauterbach,
hol mir an Strumpf zu dem oan.

Z Lauterbach hab i mein Herz verlorn,
ohne Herz kann i net lebn.
Da muß i halt wieder auf Lauterbach,
s' Deandl solls seini mir gebn.

Mei Diandl hat schwarzbraune Äugle,
nett wie a Täuberl schauts her,
wann i beim Fenster oan Schnagger tu,
kommt sie ganz freundli daher.

Auf dem Rückweg nach Seeshaupt erzählte Frau Anna bewegten Herzens ihrem Schwager von den Sorgen, die Frau van Bornevelde um die kleine Odinda sich gemacht hatte. Und als sie später, unmittelbar vor dem Schlafengehen, auf die Altane hinaustrat, gerade als eine Sternschnuppe über den halben Himmel fuhr, um fern in der uferlosen Dunkelheit des Sees zu verschwinden, da bedachte sie die Kleinheit der Erde und die geheimnisvolle Größe des Alls, und daß nichts und niemand aus der Welt fallen und ganz verloren gehen könne.

Gleichwohl warf diese Begegnung mit der Odinda am andern Morgen einen leichten Schatten auf Frau Annas Weg und Wanderfreude, bis die hohen, in einem ersten Schnee leuchtenden Berge, die ihnen immer näher wurden, den Sieg behielten. Wie bestätigte ihr diese Wanderung wieder den Eindruck, den sie schon in und um München gehabt: daß in diesem gesegneten Oberbayern alles von einer ungleich stärkern Leuchtkraft und Tiefe war, als daheim am Niederrhein: das Blau des Himmels, die Farben der Blumen und die nächtliche Glut der Sterne. In einem plumpen, kiellosen Nachen ruderte ein dunkeläugiger Bursche, dessen grundsätzliche Geneigtheit zum Raufen die Spielhahnfeder seines Lodenhuts andeutete, die Reisenden über den Kochelsee, und trotzdem sein kräftig geschnittenes Gesicht alles Vertrauen erweckte, wollte ihnen kaum glaubhaft erscheinen, daß dieses liebliche Gewässer zuweilen bei Windstille und ganz heiterm Himmel wie von Dämonen aufgewühlt brausen und brodeln sollte. An den Fällen vorüber ging's auf der steilen Kesselbergstraße hinauf zum Walchensee, der, wie Johannes erzählte, nach einer uralten Prophezeiung mit seinen ausbrechenden Fluten einst München zerstören und wegschwemmen werde. Es sei noch nicht allzu lange her, daß in der Gruftkapelle zu München täglich eine Messe gelesen und alljährlich ein geweihter goldner Ring in den See geworfen worden sei, solchem Unheil vorzubeugen. In Urfeld sollte übernachtet und ein Tag gerastet werden. Der ward mit einer heitern Ruderfahrt nach dem Dorfe Walchensee und einem Spaziergang auf Goethes Spuren angenehm vertan. Denn Frau Anna, indem sie ihren Fritz an die Literaturstunden auf der Heidelberger Schloßterrasse erinnerte, die er ihr so glänzend honoriert habe, erzählte von Goethes artigem Abenteuer mit dem kleinen Harfnermädchen am Walchensee, und wie ihm hier ein Ahornbaum nicht weniger merkwürdig gewesen als jener Gingko biloba-Baum über dem Neckar. Und sie freute sich, als Pina die gutgemeinte Inschrift einer verwitterten hölzernen Tafel, wonach Goethe hier zum erstenmal die Alpen gesehen hätte, anfocht, sintemal der Dichter, lange bevor die Flucht nach Italien ihn dieses Weges geführt, schon zweimal in der Schweiz gewesen sei. Johannes aber berichtete im Anschluß hieran, Mirls Bitte, er solle doch »stad« sein, nicht achtend, daß er im vorigen Sommer auf der Insel Herrenchiemsee einen Grabstein entdeckt habe mit dem Nachruf: »Er lebte zwanzig Jahre lang als Ehemann, dann noch fünf Jahre lang als Mensch.«

Den folgenden Tag nahm die lange Wanderung durch die Jachenau in Anspruch, wobei Johannes mancherlei von dem reichen und stolzen Bauernadel erzählte, der, gegen die Welt sich abschließend, diese wenigen Ansiedlungen bewohne und mit Strenge an den alten Überlieferungen festhalte. Kurz vor dem Dorf Lenggries führte die Straße dicht an einem behäbigen Bauernhaus vorüber. Ein blondes Dirndl hantierte ohne Rock in blauen Hosen vor der Stalltür und sah von der Arbeit auf und den Wanderern entgegen. Als diese herangekommen waren, strahlte es übers ganze Gesicht und rief treuherzig: »Grüß Eahna Gott, Frau Wolf!« Da erkannte Mirl die Schwester ihrer Pepi. »Grüß Gott, Cenzi!« antwortete sie und ließ sich mit dem Dirndl in ein Gespräch ein, von dem die andern nicht eben viel verstanden. Als sie weitergingen, gab Mirl zum besten, was jene ihr erzählt hatte: sie wolle doch auch lieber in München einen Dienst sich suchen, denn seitdem die Bäuerin um ihren einzigen Sohn in die Klag gekommen (das bedeute in Trauer), sei's mit ihr nimmer zum aushalten, nichts könne sie ihr recht machen, von der Früh bis in die Nacht stehe sie hinter ihr und sie könne schier nicht genug arbeiten. Sie, Mirl, habe gemeint, es werde wohl nicht so schlimm sein, denn sie schaue doch recht gesund aus, und wenn ihre Furcht vor der Bäuerin so gar groß war, nachher würd sie sich jetzt doch wohl nicht die Zeit zum Plaudern nehmen, oder ob die Gestrenge vielleicht zufällig nicht zuhaus war. Da habe die Cenzi verschmitzt gelächelt und gesagt: zuhaus sei die Bäuerin freilich, aber heut sei sie sicher vor ihr. Der Bauer könne nämlich seit ein paar Tagen nicht mehr ordentlich schlucken, was ja freilich ängstlich genug sei, da man bei solchem Leiden doch Hungers zu sterben riskiere. Der Wundertoni von Königsdorf sei denn auch heut in der Früh schon dagewesen und hab eine tüchtige Schwitzkur verordnet. Seitdem liege der Bauer im Bett und die Bäuerin habe ihren ganzen Besitz an Federbetten auf ihn gepackt, sogar aus der Menscherkammer (so heiße das Schlafgemach der Mägde über der Küche, erläuterte Mirl) habe sie alles herbeischleppen müssen. Dann sei die Bäuerin auf den Federberg gestiegen und habe zu weiterer Förderung der Schwitzkur sich noch selber oben darauf gelegt, so daß sie das Auge Gottes am Betthimmel ganz dicht über sich habe. Welche nahe Nachbarschaft nach Ansicht und Hoffnung der Cenzi der Bäuerin dann wohl ins Gewissen reden möge, dieweil der Bauer zeitlebens unter ihr sich hart genug getan. Es sei halt ein Kreuz mit so einer grantigen Frau! Habe die Bäuerin ihr doch selber erzählt, daß sie, als der Herr Pfarrer sie beim Brautexamen und später bei der Trauung vermahnt, ihrem Eheliebsten in allen Stücken zu gehorsamen, heimlich habe lachen müssen. Schließlich habe sie, Mirl, die Cenzi gefragt, ob sie denn nicht selber ans Heiraten denke, die Pepi hab ihr einmal dergleichen gesagt. Worauf jene erwidert, ja, daran denken, das tue sie schon und wenn sie nur gewollt hätt, könnt sie längst als Bäuerin auf einem schönen Gütl sitzen. Aber so oft sie sich hab die Karte schlagen lassen, stets sei ein Weinblatt beim Heiratsblatt gelegen, und bis das nicht anders werde, wolle sie doch lieber Dirndl bleiben.

Es war schon ganz dunkel, als die Wanderer ihr Tagesziel, Tölz, erreichten. Sie waren so müde geworden, daß sie beschlossen, hier, unmittelbar vor der Heimfahrt, zu der sie ein Floß zu benutzen gedachten, einen Ruhetag einzuschieben, um gemächlich ausschlafen zu können. Als der Kommerzienrat, der mit seinem Bruder noch ein spätes Abendtrünklein eingenommen, sein Schlafgemach aufsuchte, wunderte er sich der drei Buchstaben C. M. B., die in weißer Kreide zwischen zwei Kreuzen über der Zimmertür standen. Und Johannes erklärte, das seien die Initialen der heiligen drei Könige Caspar, Melchior und Balthasar, der berühmtesten und ausdauerndsten Reisenden der Christenheit, und in ihrer Obhut werde er ohne Zweifel eines besonders guten Schlafes sich erfreuen. Alljährlich am Dreikönigstag aber werde jene Aufschrift erneuert, wobei dann ein geistlicher Herr, mit Wedel und Weihwasser hantierend, Schutz und Segen für Wirt und Gäste erflehe. Am andern Tag gegen Abend, nachdem sie sich das alte Nest mit seinen fromm bemalten Häusern angesehen, auch vom Kalvarienberg der schönen Aussicht ins weit offene Isartal genossen hatten, begegneten sie dem Tölzer Landrichter und seiner Frau, die Mirl aus der Jugendzeit befreundet war. Und man verabredete, nach dem Abendbrot ein Stündchen oder zwei in der »Post« miteinander zu verplaudern. Da nun erfuhren Wolfs unter anderm, daß in der Jachenau, die sie gestern durchwandert, lange fünfundzwanzig Jahre hindurch keinerlei Verbrechen vorgekommen, noch ein Rechtsstreit zu gerichtlichem Austrag gelangt sei, wobei sie freilich den Eindruck hatten, daß der Landrichter zu jenen vortrefflichsten aller Juristen gehöre, die ihren Ruhm nicht in spitzfindiger Paragraphendeutung, sondern im Verhüten von Prozessen suchen. Wie er denn auch sonst als einen tüchtigen und aufrechten Mann sich erwies, der unbeschadet seiner königs- und kirchentreuen Gesinnung der Weite und Freiheit staatsbürgerlichen Blickes und Urteils sich nicht begeben hatte. So war er von der Baulust des Königs Ludwig gar nicht erbaut, dessen Kunstwütigkeit München zu einer architektonischen Musterkarte gemacht und für alte und neue Bilder und Plastiken unverantwortlich viel Geld vertan habe. An diesem König zeige sich wieder, wie sehr der heilige Hieronymus, dieser gelehrteste aller Kirchenväter, Recht habe, wenn er vor einer überschwänglichen Liebe zur Schönheit warne: sie mache den Menschen einseitig und verdreht, möge er noch so hochgeadelt sein. Übrigens hätten auch die heidnischen Philosophen Aristoteles und Seneca ähnlich geurteilt. Er hoffe nur, daß der König Max der Versuchung, jene Musterkarte zu vervollständigen, widerstehen und lieber die Straßen und Flußläufe des Landes verbessern werde. Aber leider habe er gehört, daß der König nicht nur ein Preisausschreiben für eine neue deutsche Nationaltracht von Stapel gelassen, sondern auch ernstlich mit dem Gedanken sich trage, auf ähnliche Weise einen neuen deutschen Nationalbaustil zuwege zu bringen, der dann natürlich in München seine Feuertaufe erhalten werde.

Im Laufe des Gesprächs hatte Frau Anna die Bemerkung gemacht, daß in Bayern die Flüsse ersichtlich größere Eile hätten als die Menschen, und der Landrichter hierauf erwidert, daß es gleichwohl aber doch ausgerechnet ein Münchner gewesen sei, der die zeitsparende Stenographie erfunden, und daß doch auch unter allen deutschen Staaten zuerst Bayern eine Repräsentativverfassung erhalten hatte. Damit lenkte die Unterhaltung sich auf die Politik im allgemeinen und die Frage der deutschen Einheit im besonderen und man erwog, was von den jetzt regierenden Fürsten für sie zu erwarten sei, wobei dann freilich die Aussichten betrüblich genug erschienen, also daß man bald auf Erfreulicheres, Ungefährlicheres und Reifemäßigeres zu sprechen kam: auf oberbayerische Volkssitten und -unsitten. Und Frau Anna fragte, ob der Herr Landrichter ihnen vielleicht über das berühmte oder berüchtigte Haberfeldtreiben einige Auskunft geben könne.

Er hause hier freilich, erklärte dieser, ziemlich an der Grenze der Landschaft, darin solche uralte Volksjustiz noch gang und gäbe sei, denn auf dem linken Isarufer, etwa bis an den Würmsee hin, würde kaum noch »getrieben«. Aber er habe doch im Lauf der Jahre des öftern auch von Amts wegen sich mit diesen Dingen zu befassen gehabt in deren Behandlung freilich, wie er wohl wisse, eine hohe Obrigkeit und wer sie vertrete keine besonders gute Figur mache. Es sei nämlich gar nicht zu sagen, wie machtlos letzten Endes die Behörde den Haberfeldmeistern gegenüberstehe, die, in uralter Erbfolge solcher Würde, das Bergland unter sich geteilt hätten. Das nun müsse er seinen nächtlich amtierenden Kollegen nachrühmen, daß sie stramme Zucht hielten, Zucht und Maß. Denn die Haberer, bewaffnet, vermummt und durch die Nacht geschützt, nützten die Macht der Stunde nie völlig aus, nie werde der Betroffene an Leib, Leben oder Eigentum geschädigt, lediglich seine sündige Seele solle gestraft werden. Und noch niemals habe ein zur Verantwortung gezogener Haberfeldtreiber einen Mitschuldigen verraten oder irgend etwas gestanden, was nicht ohnehin bekannt gewesen sei: man müsse annehmen, daß ein schwerer Eid jedem die Zunge binde, den brechen wahrscheinlich das Leben verwirken heiße.

Johannes meinte, gehört zu haben, daß das Haberfeldtreiben irgendwie mit Karl dem Großen in Verbindung gebracht werde, ob dem so sei. Ja, sagte der Landrichter, der Kaiser Karl von Untersberg spiele freilich eine große Rolle dabei. Wie denn auch die Kulturhistoriker annähmen, daß das Ganze eine bäuerliche Fortsetzung der Inquisito oder des Rügegerichts sei, das jener Kaiser mittels geistlicher oder weltlicher Sendboten in den einzelnen Grafschaften abgehalten habe. Als dann nach dem gänzlichen Zerfall des alten deutschen Rechts der Bauer durch das römische Schreiberwesen sich aus der Rechtspflege verdrängt gesehen, habe er auf seine Weise jenes Rügerecht wiederhergestellt, das zu Zeiten, wie etwa während des Dreißigjährigen Krieges, hierzulande wohl die einzige Justiz gewesen sein möge. Danach aber habe man den alten Brauch beibehalten für solche Verschuldungen, die das Landgericht nicht, oder nach bäuerlichem Empfinden nicht durchgreifend genug ahnde, als da seien Wucher, Ehebruch, liederliches Leben und dergleichen mehr.

Und auch das müsse man dieser Volksjustiz nachrühmen: sie kenne kein Ansehen der Person, Der reiche Bauer sei vor ihr nicht sicherer als der arme, und einen ärgerniserregenden Pfarrer, Landrichter oder Bezirksamtmann schütze seine Würde so wenig vor ihr, wie den gräflichen Schloßherrn seine hohe Geburt.

Gerne wolle er ihnen jetzt mal den Verlauf eines Haberfeldtreibens schildern so gut er könne, denn freilich – dabeigewesen sei er noch nicht, obgleich beim nächtlichen Appell der Haberer auch »der Landrichter von Tölz« immer mit aufgerufen werde. – Die Sache nun begebe sich etwa folgendermaßen: Eines schönen Tages verbreite sich das Gerücht, ein Haberfeldtreiben solle abgehalten werden. Oder eigentlich sei es nicht einmal ein Gerücht, es liege so in der Luft. Die ganze Gegend spreche davon, ohne daß irgend jemand Näheres wisse. Nur der, dem das Treiben zugedacht sei, der werde zu nachtschlafender Zeit durch einen vermummten Boten vorbereitet: er solle sein Haberfeld leeren. Das heiße: er solle dafür sorgen, daß die Haberer genug Platz hätten, auch sein Vieh in den Ställen gut anbinden, damit es, durch den Lärm erschreckt, nicht zu Schaden komme, und endlich, aus Haus und Nachbarschaft Kranke und Wöchnerinnen beizeiten fortschaffen lassen. Meist versuche man wohl noch eine Weile, durch allerlei falsche Gerüchte die allgemeine Aufmerksamkeit und besonders die der Behörden abzulenken und einzuschläfern. Bis dann unversehens, mitten im Frieden der Nacht – meist vor einem Sonn- oder Feiertag – allenthalben einzelne Trommeln und Trompeten anhüben: das Zeichen, daß die Haberei anzutreten hätten. Die schlichen alsdann, phantastisch vermummt, und mit angeschwärzten Gesichtern, von überall her auf allen Straßen und Sträßlein lautlos, aber mit oft grotesken Lärm- und Musikinstrumenten ausgerüstet, zumeist auch mit Flinten bewaffnet, dem Haberfeld des armen Sünders zu. Dort würden zunächst die angenommenen Namen der Erschienenen verlesen, an erster Stelle der des großen Frankenkaisers, und darauf die von vielen bekannten Persönlichkeiten der Landschaft, die ebensowenig anwesend sein könnten. Dabei begebe es sich dann wohl, daß bei einem Namen außer dem, der ihn führen solle, noch ein zweiter mitantworte, für den auf der Liste kein Name übrigbleibe. Das sei dann der Gottseibeiuns in eigener Person, und wem der solchergestalt den zugedachten Namen streitig mache, der müsse noch im selben Jahr eines gewaltsamen Todes sterben. – Sobald die Vollzähligkeit festgestellt sei, würden Posten ausgesetzt, Neugierige und Störenfriede, nötigenfalls mit Waffengewalt, fernzuhalten. Dann erst werde der Sünder geweckt und ihm anbefohlen, barhaupt am offnen Fenster oder in der Haustür den Spruch zu erwarten. Und alsbald trete, von Laternenträgern begleitet, einer der Haberer vor, in witzigen, an unglaublichen Derbheiten überreichen Knittelversen das oft recht lange Sündenregister zu verlesen. Punkt für Punkt frage er die Versammlung, ob er recht habe, und hinter die stereotype Antwort: »Recht hast!« setze dann jedesmal ein Tusch aus den Lärm- und Musikinstrumenten das kräftigste Ausrufungszeichen. Mit etlichen Seitensprüngen pflege das Sündenregister auch zu streifen, was etwa in der Nachbarschaft Ärgerliches geschehen, und am Ende der Verlesung heiße es stets:

Kaiser Karl muß noch kommen und 's Protokoll unterschreiben, daß wir das nächstemal (da und da) haberfeldtreiben.

Worauf dann zum Beschluß des Ganzen eine Katzenmusik anhebe, ein Höllenlärm, der stundenweit hörbar sei: Kesseln und Pfannen, Trommeln und Trompeten, Ratschen und Knarren, was nur irgend Lärm hergebe, werde in Bewegung gesetzt, dazu aus Leibeskräften geheult und gejauchzt, gepfiffen und gekreischt und aus ein paar hundert Flinten geschossen – er glaube nicht, daß auf diesem Planeten ein schlimmeres Getös möglich sei. – Und nachdem sie etwa noch einen Wagen zerlegt und auf dem Hausdach des Sünders wieder zusammengesetzt und mit Mist beladen, oder durch ähnliche harmlose Scherze dafür gesorgt hätten, daß jener am Morgen ihren Besuch nicht etwa bloß für einen bösen Traum halte, verschwänden die Haberer, lautlos wie sie gekommen.

Frau Anna meinte, daß solche Justiz doch vielleicht nicht ohne gute Wirkung bleiben und deswegen als wertvolle Ergänzung der staatlichen geduldet werden solle. Denn diese treffe schließlich doch nur die einzelne Entgleisung, während jene die Gesinnung brandmarke und so das verletzte Rechtsgefühl des Volkes wieder herstelle. Der Landrichter zuckte die Achseln: Ludwig der Erste hätte ähnlich gedacht, aber er halte dafür, daß in einem neuzeitlichen Staate für solche Volksjustiz kein Raum sei. Allerdings verspreche er sich mehr von der fortschreitenden Zivilisation als vom Eingreifen der Behörden, obwohl auch dieses, so schwierig und undankbar es sei, nicht gänzlich unterlassen werden dürfe.

Als die Reisenden in Tölz frühmorgens einem Floß sich anvertrauten, das sie in acht Stunden die Isar hinab nach München zurücktragen sollte, bedauerte der Kommerzienrat in seinem Herzen anfangs, daß dieses grüne Gewässer Balken habe. Denn in Unkenntnis der Beschaffenheit des Landsträßchens wollte ihn eine Wagenfahrt bequemer und sicherer bedünken. Auch dachte er mit einem milden Heimweh an den »Herzog von Nassau« und dessen gute Weine eigenen Wachstums der Kölnischen Dampfschiffahrtsgesellschaft. Es dauerte aber nicht allzu lange, bis ihm die Reize solcher Wasserfahrt aufgingen. Denn das grüne Tal, durch dessen Tiefe das bald breite und von flachen Kiesinseln durchsetzte, bald schmale und von dichtem Wald beuferte Flußbett sich wand, war von so herber und unberührter Schönheit, von so ruhevoller Menschenferne, daß er seinem Bruder zugeben mußte, derartiges im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts nicht für möglich gehalten zu haben. Immer wieder boten neue Bilder sich dar, sei es, daß eine steile Wand aus gelbem Sand oder ein schroffer Nagelfluhfels den Wald unterbrach, oder eine schwarze Holzbrücke den Fluß überspannte oder ein stilles weißes Kloster vor dem grünen Höhenzug lag, der in sanften Linien den Fluß begleitete. Und wie vergnüglich war's, mit Mirl als Dolmetsch, dem ältern der wettergebräunten Flößer zuzuhören, der von der guten alten Zeit auf der Isar erzählte, da die Flöße nicht nur für solche Gelegenheitsgäste gut genug waren, sondern als richtige Verkehrsmittel für Waren und Menschen eine große Bedeutung hatten. An die zwanzigmal, versicherte er, sei er in jungen Jahren mit dem Ordinarifloß gefahren, das um wenige Gulden die Reisenden von München nach Wien gebracht, sie auch durch eine Hütte mit Ofen gegen die Unbilden der Witterung geschützt habe. Und dann erzählte er umständlich, wie er auf solcher Fahrt einmal auf der Donau die Passagiere einer »Ulmer Schachtel« gerettet und dafür vom »Kini« (König) die Rettungsmedaille erhalten hätte.

Einmal, da rein gar nichts zu sehen war als Wasser, Wald und Himmel, bemerkte Pina, nun fehle, um ganz auf Coopers Spuren sich zu glauben, nur noch der letzte Mohikaner. Aber alsbald grüßte die deutsche Romantik von der Höhe hernieder: das gotische Fischerschlößl, darin Ludwig der Erste Ainmillers Entwürfe für die Glasmalerei der Ludwigskirche hatte entstehen sehen, und in der Nachbarschaft das Röschenauer Schlößchen, da hinein er seine zur Gräfin Landsfeld gemachte Lola geflüchtet, bevor er sie, ihrer Seele vom Teufel zu helfen, Justinus Kerners Hungerkur überantwortet hatte. Denn sie hatte wirklich den Teufel oder er sie. Mit der Reitpeitsche hatte sie in ihrer Münchner Wohnung einer hohen Polizei die Tür gewiesen, den tugendhaften Studenten, die ihr ein Pereat brachten, hatte sie lächelnd Champagner zugetrunken und die unter ihren Fenstern drohende Menge mit Bonbons beworfen. Und die kochende Volksseele der getreuen Königlichen Haupt- und Residenzstadt hatte wieder einmal Recht gehabt: »Wenn's noch lang so fortgeht – nachher geht's nimmer lang so fort!«

Und dann glitt man unter der trutzigen alten Grünwalder Burg dahin, hoffend, daß sie, zum Pulvermagazin degradiert, nicht eben jetzt in die Luft fliegen werde, oder man sah zu Schwanthalers Ritterburg auf, die der berühmte Bildhauer genau an der Stelle und so sich erbaut, wie er als Knabe so oft sich's erträumt hatte. Bis dann bei Großhesselohe das Floß die Pfeiler der werdenden Eisenbahnbrücke passierte und, von den Frauentürmen beherrscht, die Silhouette der Stadt auftauchte.

Als Wolfs nach reichlichem Trinkgeld an der Lände beim Wirtshaus zum Grünen Baum das Floß verließen, versagte sich der Kommerzienrat nicht, den Flößer ganz treuherzig zu fragen, wann das Floß nach Tölz zurückfahre, wobei sein Wunsch, auf solche Weise das schöne Wort »frozzeln« wiederzuhören, in Erfüllung ging ...

Unter Frau Maria Magdalenas weißen Haaren aber ward, als sie von dieser Floßfahrt hörte, die Erinnerung an ein anderes Floß wach, das vor etlichen Jahrzehnten oft und beunruhigend genug durch ihre Träume geschwommen war. Und sie erzählte vom Floß der »Medusa«: Wie die französische Regierung Anno sechzehn eine Flotte von vier Schiffen ausgerüstet, den Senegalstrom in Besitz zu nehmen, wie die führende Fregatte »Medusa«, dank der Unfähigkeit des eigensinnigen Oberkommandos, in der fürchterlichen Brandung vor der nordwestafrikanischen Küste Schiffbruch erlitten, hundertfünfzig Mann der Besatzung auf ein rasch erbautes Floß sich gerettet, das, von den Booten treulos verlassen, vierzehn Tage lang auf dem Meer dahingetrieben. Wie Verzweiflung und Hunger und Durst und Mordlust auf dem Fahrzeug gewütet, darauf unmenschliche Dinge geschehen, bis endlich ein Schiff die überlebenden fünfzehn Menschenfresser aufgenommen. Sie wolle doch zu Hause gleich nachsehen, ob sie den Holzschnitt noch besitze, der den Augenblick veranschauliche, in dem jenen die Rettung nahte. Johannes sagte, daß er sich dieses Holzschnittes noch gut erinnere, später aber im Louvre auch das ergreifende Original selber gesehen habe, ein großes Gemälde von Gericault, das in der Kunstgeschichte eine neue Epoche eröffnet habe. Denn als der junge Künstler zuerst es ausgestellt, habe die Kritik gemeint, es beweise nur, daß er die Gesetze der Schönheit nicht begriffen. Erst ganz allmählich habe man vor diesem leidenschaftlich bewegten Bilde gelernt, daß Wahrheit wichtiger ist als Klassizismus, und eine starke künstlerische Persönlichkeit wichtiger als das bewährteste Kunstgesetz.

Acht Tage später traten Wolfs die Reise in die niederrheinische Heimat an. Nur Pina blieb, voll Erwartung den Freuden des Münchner Winters entgegensehend.


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