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Wenn Pina später daheim der alten Großmutter von den geselligen Winterfreuden erzählte, die der Oheim in München ihr geboten hatte, so waren es besonders zwei Abende, von denen Frau Maria Magdalena immer wieder gern hörte. Den einen hatte Pina im Haus des alten Hofrats Martins, des Direktors vom Botanischen Garten, verlebt, der in jungen Jahren eine Forschungsreise durch das brasilianische Palmenland unternommen hatte und nun, nach langen Jahrzehnten, immer noch um deren nicht nur wissenschaftliche Verarbeitung, sondern auch dichterische Verklärung sich mühte. Aber nicht die sanft einlullenden Oktaven seiner »Suitramsfahrten«, die der alte Herr mit den tiefliegenden, klugen Augen, der mächtigen Adlernase und dem seltsam energischen Mund seinen Gästen zum besten gab, hatten ihr den Abend unvergeßbar gemacht, sondern was ein noch älterer Herr über – Adams Sündenfall und seine Folgen vortrug. Das war der berühmte Professor Johannes Nepomuk von Ringseis, mit einem Gesicht wie aus Holz geschnitzt, mit Augen, aus denen Funken sprühten. Der hatte als junger Arzt den nachmaligen König Ludwig des öftern nach Italien begleitet und in Rom ihm einst die fruchtbringende Bekanntschaft mit Cornelius vermittelt. Als dann, besonders auf sein Betreiben, die Universität von Landshut nach München verlegt worden – unter andern verdankte auch Martins ihm seine Berufung –, da war der vielbeschäftigte Arzt und Professor, der in seinen Vorlesungen ausschließlich der lateinischen Sprache sich bediente, hoch zu Roß aus der Praxis ins Kolleg und aus dem Kolleg in die Praxis gesprengt. Und als man ihn 1833 zum Rector magnificus gewählt, da hatte er in seiner Antrittsrede »Über den revolutionären Geist der deutschen Universitäten« unerschrocken den Regierungen vorgeworfen, daß sie durch die Revolution von oben die Revolution von unten vorbereiteten, und Ludwig I., vor dessen Bildnis wenige Jahre später der unglückliche Dr. Eisenmann wegen seiner freiheitlichen Bestrebungen Abbitte leisten mußte, hatte seinem »Ritter ohne Furcht und Tadel« nicht die königliche Ungnade, sondern den persönlichen Adel zugewendet. Wodurch der aufrechte Mann sich den Blick für die politischen Mißgriffe seines königlichen Freundes keineswegs trüben ließ, wie er diesen auch – leider vergeblich – gewarnt hatte, dem jungen König Otto »den ganzen Berg von Gesetzen und Beiordnungen, die schon in Bayern nichts taugen«, nach Griechenland mitzugeben, »wo sie geradezu ungeheuerlich wirken würden«.

Heute hatte Ringseis zuerst vom alten Heim in Berlin erzählt, dessen Assistent er einst gewesen. Wie der alte Herr an seinem Braunen gehangen, der ihn so viele Jahre durch die ausgedehnte Praxis getragen und gezogen, und an seinem Kutscher Lumpe, der ihn doch, wo und wie er nur konnte, übervorteilt und dann auch noch dem Trunk sich ergeben hatte. Nach dem Tode dieses Lumpen aber habe der alte Heim in seiner herzlichen Betrübtheit geäußert, wenn er annehmen könnte, daß es dem Leichnam noch angenehm spürbar sein würde, möchte er ihn wohl mit Branntwein abwaschen lassen.

Ganz erstaunlich sei Heims Leistungsfähigkeit gewesen. Schon frühmorgens beim Ankleiden und dann wieder am späten Abend habe er, immer von mehreren Assistenten unterstützt, Sprechstunde gehalten, den Tag hindurch aber zuweilen an die achtzig Krankenbesuche gemacht. Im Dienst seiner Kranken sei er vor nichts zurückgeschreckt, z. B. habe er die Untersuchung auf Zucker auf die natürlichste Weise von der Welt, mittels Fingerspitze und Zunge, angestellt. – Er sei wirklich der geborene Arzt gewesen, wie denn auch sein Vater, ein Pfarrer, schon früh einmal zu ihm gesagt habe: »Junge, zu einem Quacksalber schickst du dich am besten, du kannst den Leuten alles weismachen, was du willst ...« Da nun falle ihm, Ringseis, noch ein schier unglaubliches Stücklein ein, das wohl noch ganz unbekannt sei. Er verdanke es dem Fürsten Wittgenstein, der es selber erlebt habe: Diesen besucht in Berlin eines Tages der sogenannte Siebenschläfer, der berüchtigte Landgraf von Hessen, der seine Landeskinder als Soldaten ins Ausland zu verkaufen pflegte. Der Fürst, bedenkend, daß Heim regelmäßig um diese Stunde ärztlich bei ihm vorspricht, gibt seinen Leuten Befehl, dem Herrn Geheimrat zu sagen, daß und warum er ihn heute nicht empfangen könne. Heim, an dergleichen Abweisung nicht gewöhnt, dringt gleichwohl in das Zimmer des Fürsten ein, und dieser, die Situation zu retten, macht die beiden miteinander bekannt. »Ah,« sagt Heim, »sind Sie der Landgraf mit dem Zopf. Drehn Sie sich doch mal um! So! Sagen Sie mal, können Sie mir nicht auch ein paar Untertanen überlassen. Ich möchte allerlei medizinische Versuche damit anstellen.« ... Wortwörtlich so habe Fürst Wittgenstein ihm die Geschichte erzählt...

Später war Ringseis in längeren Ausführungen auf Sündenfall und Erbsünde als die Quelle aller gesundheitlichen Gebresten der Menschheit zu sprechen gekommen, und was er sagte, hatte Pina zuweilen an den guten Herrn Schlüpfes erinnert, aber wie er es sagte, das war freilich ganz anders gewesen. Und die Großmutter, wenn Pina ihr davon berichtete, freute sich, daß Gott einen katholischen Arzt mit soviel Weisheit und Frömmigkeit begnadet hatte. Auch daß der von ihrem seligen Vater so herzlich verehrte, sprachgewaltige Görres durch solche Auffassung mit Ringseis verbunden gewesen sei und in München am Abend seines Erdenlebens übersinnlichen Fragen sich zugewendet habe, hörte sie gerne. Daß er aber aus einem Sprecher der Deutschen gegen Franzosentum und Reaktion mit ähnlich starker Wirkung zu einem Sprecher der deutschen Katholiken geworden sei und ihnen das Machtbewußtsein gestärkt habe, das wollte ihr weniger gefallen, wenn er ja auch noch zuletzt eindringlich zum konfessionellen Frieden gemahnt hatte. Fast mehr noch interessierte Frau Maria Magdalena jedoch, was Pina von einem Abend im Liebigschen Hause erzählte. Nicht, daß dort ein Dr. Gemminger plötzlich eine gezähmte Fledermaus aus der Rocktasche gezogen und zum Entsetzen der Damen im Zimmer hatte umherfliegen lassen. Sondern daß und was die Herren über das Reichenbachsche »Od« verhandelt, jene geheimnisvolle Kraft, die sensitiven Personen zuweilen eigen sei: einen Pendel in Bewegung zu setzen, ohne ihn anzustoßen, oder unterirdische Wasseradern und Erzgänge zu fühlen. Ein junger Chemiker, Dr. Edelmann, versicherte, selber das Od über Herrn von Reichenbachs Fingerspitzen in der Dämmerung als eine zarte, aufwärts strebende Lohe gesehen zu haben. Aber Liebig meinte, er rechne es Reichenbach höher an, daß er das Paraffin und das Kreosot aus dem Holzteer entdeckt habe, wie er jenen denn durchaus nicht nur als Großindustriellen, sondern auch als Forscher schätze. Sein Od aber halte er für eine Verirrung. Auch sonst wolle ihn bedünken, daß für alle diese sogenannten »geheimnisvollen Kräfte« – richtiger »Schwächen« – möchten sie als Tischrücken, Geisterklopfen oder wie sonst immer sich betätigen, ausschließlich Herr Solbrig, – der Direktor des Irrenhauses – zuständig sei. Übrigens habe der Reichenbach schon als sechzehnjähriger Junge – als Sie, Herr Wolf, und ich noch in den Windeln lagen, schob er lächelnd ein – für eine andre, ebenso seltsame Idee zahlreiche Anhänger gefunden und zu einem Geheimbund zusammengeschlossen. Er habe nämlich auf den Südsee-Inseln ein deutsches Reich gründen wollen, wegen welcher unternehmenden Absichten die napoleonische Polizei ihn aber alsbald für einige Monate auf den Hohenasperg geschickt.

Frau Maria Magdalena nun, wenn Pina ihr von diesem Abend erzählte, mußte immer an die Hand des Pfarrers Blumhardt denken, doch wußte sie, daß deren »Od« nicht eine Naturkraft dieser Welt war. Daß aber, als die Gesellschaft hatte aufbrechen wollen, Liebig, der leidenschaftlich gern Whist spielte, ihren Johannes aufgefordert hatte: »Jetzt dreschen wir noch ein Stündchen, Herr Wolf!« und daß dieser dadurch sich hatte zum Bleiben verführen lassen, das erfüllte sie mit einer leisen Sorge: Der liebe Junge würde doch hoffentlich auf seine alten Tage kein Spieler werden. Aber Mirl schrieb, daß er nur kein Spielverderber hätte werden wollen.

So gern und dankbar Pina solcher Geselligkeit sich erfreute und so lebhaft sie deren Unterschied gegen das, was die Vaterstadt in dieser Richtung ihr zu bieten vermochte, empfand – den ausgelassenen Münchner Fasching mitzumachen, fühlte sie um so weniger Verlangen, als auch Johannes und Mirl sich ihm fernhielten. Und wenn sie später an diese Münchner Zeit zurückdachte, so fand sie, daß doch nichts ihrem innern Menschen wohltätiger gewesen war, als der vertraute Umgang mit einer seinen und leidgesegneten Frau, der in schwersten Stunden sie ein wenig hatte tragen helfen dürfen. – Dieses nun hat sich solchergestalt begeben:

Im zweiten Stock des Hauses an der Neuen Amalienstraße, dessen ersten Johannes Wolf bewohnte, hauste eine dänische Etatsrätin mit ihrem Sohn, der Maler und ihr ein und alles war. Sie war nicht mehr ganz jung gewesen, als sie sich verheiratet. Schon auf der Hochzeitsreise hatte sie ihren Mann verloren. Das war 1832 und zu Paris geschehen. Zusammen hatten sie das Kostümfest in der Großen Oper besucht, auf dem plötzlich und mit solcher Heftigkeit die Cholera ausbrach, daß man ihre ersten Opfer, dreizehn an der Zahl, in derselben Nacht noch, und ohne sie der heiteren Festgewänder zu entkleiden, bestattete. Die Seuche aber ließ sich trotz solcher Raschheit nicht mitbestatten, und zu den zehntausend, die ihr erlagen, gehörte alsbald der dänische Etatsrat, indessen seine junge Frau und Witwe verschont blieb. Sein Kindlein unterm Herzen und durch die entsetzlichen Eindrücke gealtert, kehrte sie in ihr Vaterland zurück, das sie nicht wieder zu verlassen gedachte. Als aber ihr Sohn erwachsen war, den eine außerordentliche Begabung zum Maler hatte werden lassen, entschloß sie sich in Rücksicht auf seine überaus zarten Nerven und die Hemmungen und Störungen, an denen er laborierte, auf den Rat der Ärzte, für einige Jahre mit ihm in kräftiger Luft den Wohnsitz zu nehmen, und die Wahl fiel auf München. Sie hatte diesen Entschluß auch nicht zu bereuen, denn ihr Jens gedieh hier zusehends, und wenn auch immer wieder Zeiten kamen, in denen seine Fähigkeit zur Arbeit wie gelähmt erschien – die täglichen Störungen hatten sich doch ganz verloren. So durfte die Etatsrätin hoffen, in nicht allzu ferner Zeit mit ihm nach Kopenhagen zurückkehren zu können, und diese Hoffnung beseligte sie. Denn wenn ihr Junge auch den ersten Platz in ihrem Herzen einnahm, der zweite gehörte ihrem Vaterland und ihrem Volk, der dänischen Landschaft und der dänischen Kultur und diesem stillen und vornehmen Kopenhagen, mit dem sie sich durch so viele verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen, durch Erinnerungen und auch durch eine schöne mütterliche, Hoffnung verbunden fühlte.

Zwischen Wolfs und ihren dänischen Hausgenossen bestand längst ein freundnachbarlicher Verkehr. So hatte denn auch Mirl mit Frau Anna und Pina der Etatsrätin einen Besuch gemacht, als diese einige Tage, bevor der Kommerzienrat mit den Seinen die Heimreise antrat, aus der Sommerfrische nach München zurückgekehrt war. Und da die Etatsrätin diesen Winter hindurch allein sein würde, denn ihr Jens hatte mit einem Freunde und Kunstgenossen eine Romfahrt angetreten, ward ihr die junge Rheinländerin eine erwünschte und beinahe tägliche Gesellschaft. Und Pina wiederum fühlte sich durch die Freundschaft der so viel älteren Dame beglückt und gefördert und genoß dankbar der vielen Anregungen. Sie freute sich auch, gerade über dänisches Wesen und Leben manches zu hören, wofür aus der Zeit, die sie mit der rotblonden Inge daheim im Gartenhaus verlebt hatte, ein besonderes Interesse in ihr wachgeblieben war.

Voll mütterlichen Stolzes zeigte die Etatsrätin der jungen Freundin das fast fertige große Gemälde, womit sie und ihr Sohn übers Jahr nach Kopenhagen zurückzukehren gedächten und das dort seinen Ruf als Maler begründen solle. Daran sei nach dem, wie Kaulbach über das Bild geurteilt, wohl nicht zu zweifeln, und sie hoffe, daß die Süße des ersten Ruhms und das Bewußtsein, daß sein Volk Großes von ihm erwarte, ihren armen Jungen von den Hemmungen befreien würden, die ihm gerade jetzt wieder die letzte Vollendung der Arbeit versagt hätten.

Das Bild, das sie »Heimkehr« nannte, stellte einen ungefügen altertümlichen Wagen dar, der, von zwei Apfelschimmeln gezogen, durch eine weite, von Wasser und Buchenwald belebte Ebene einem fernen Feuerschein zustrebte. Eine aufrecht sitzende, schwarzgewandete Frau, Entschlossenheit und verhaltenen Schmerz im Antlitz – sie glich der Etatsrätin – führte die Zügel, und neben ihr ruhte auf einem Lager von Buchenzweigen, Haupt und Oberkörper ein wenig erhöht und die Stirn verbunden, die Leiche eines jungen Kriegers von weicher, fast mädchenhafter Schönheit. Eine riesige Dogge schritt, zum Toten aufschauend, neben dem Gefährt dahin, über dem gleitenden Fluges zwei große schwarze Vögel schwebten.

Die Etatsrätin meinte, das Bild spiele auf eine in Dänemark volkstümliche Ballade an, aus der bösen Zeit im siebzehnten Jahrhundert, da der zehnte Karl von Schweden alle Schrecken des Krieges über das unglückliche Land gebracht habe, und werde schon seines Gegenstandes wegen allgemein beachtet werden. Dieser Ansicht sei auch Andersen, der Märchendichter, der sie immer besuche, so oft er nach München komme. –

Unbeschadet ihres sehr ausgeprägten Sinnes für die Wirklichkeit hegte Pina eine stille Liebe zum Theater, eine Liebe, die bisher nur selten sich hatte betätigen können, die aber durch das, was ihre zweite Mutter ihr zuweilen von Immermanns allzu rasch gescheiterten Düsseldorfer Theaterbestrebungen erzählt hatte, vertieft war. Daß auch in München ein Dichter die Bühne leitete, hatte sie mit frohen Erwartungen erfüllt, aber leider sollte gerade jetzt das Hoftheater Gasbeleuchtung erhalten. Auch sonst sollte manches in ihm verbessert und verschönt werden, und diese Arbeiten zogen sich länger hin als man gedacht hatte. Endlich, unmittelbar vor Weihnachten, öffneten sich seine Pforten und unter den mehr als zweitausend festlich gewandeten Menschen, die den im neuen Licht strahlenden Zuschauerraum füllten, um einander und Goethes Faust zu sehen, waren auch Johannes, Mirl und Pina, denen die Etatsrätin sich angeschlossen hatte. Sehr frühzeitig hatten sie ihre Balkonplätze aufgesucht, damit Pina Gelegenheit habe, die Einzelheiten der Ausstattung genauer zu betrachten, und man ihr auch in Muße die eine oder andere Berühmtheit unter den Zuschauern zeigen könne. Denn in den Pausen würde bei der durch die neue Beleuchtung voraussichtlich sehr gesteigerten Hitze alles unverzüglich hinausstreben, um Luft zu schnappen. –

Als seine Frau mit einem entzückten Bericht über die Jenny Lind fertig war, die vor sechs Jahren hier das Annchen im Freischütz gesungen (wobei sie das Malheur gehabt habe, einen Schuh zu verlieren ), machte Johannes seine Nichte auf einen kleinen, weißhaarigen und hochgestirnten Herrn aufmerksam, der nicht allzuweit von ihnen saß, blitzenden Auges und ausdrucksvoll beweglichen Mundes der Unterhaltung mit seiner Nachbarin sich hingebend. Das sei der Nestor der »Nordlichter«, der treffliche Professor Friedrich Thiersch, ein Thüringer, der nun schon unter dem dritten König seinem Adoptivvaterlande Bayern die wertvollsten Dienste leiste. Übrigens heiße er, seit der König Max vor vier Wochen den Maximiliansorden für Kunst und Wissenschaft gestiftet habe, von Thiersch, sintemal mit solchem Orden der persönliche Adel verbunden sei. Ihr vielgeliebter Ludwig Uhland habe, nebenbei bemerkt, diese Auszeichnung zurückgewiesen, ebenso wie früher schon die preußische » Pour le mérite«. Pina wollte wissen, in welcher Richtung die Verdienste dieses Herrn von Thiersch lägen, und Johannes erzählte, daß jener, der ursprünglich Theologie studiert habe, schon in jungen Jahren, nachdem ihm unter Jerome die Hoffnung auf eine Professur in Göttingen unerfüllt geblieben, als Gymnasiallehrer nach München gegangen sei. Hier, in der reinkatholischen Stadt, habe im Schutz der protestantischen Königin Karoline und des freigeistigen Ministers Montgelas eine kleine protestantische Fremdenkolonie ihr Wesen gehabt und ziemlichen Einfluß gewonnen, sehr zum Ärger der Altbayern, die nichts unterlassen hätten, den Ketzern und Preußen das Leben schwer zu machen. Ja, Herr von Thiersch könne heute noch im Nacken die Narbe des Dolchstoßes aufweisen, den ihm eines späten Winterabends vor seiner Haustür ein Unbekannter, ganz ohne Zweifel von den Römlingen zu solchem Mordversuch verführt, hinterrücks beigebracht ... Er habe sich aber nicht verwirren, noch entmutigen lassen. Nebenamtlich habe Thiersch lange Jahre die schon erwachsenen, außerordentlich lernbegierigen königlichen Prinzessinnen in den Wissenschaften gefördert, und als dann der einst so heiß ersehnte Ruf nach Göttingen an ihn ergangen sei, da habe Max Joseph, dem die fünf Töchter ob der Aussicht solches Verlustes täglich, nach seinem eignen Wort, die Ohren vollgeheult, ihn mit leichter Mühe zu halten vermocht. Nachdem gleich zu Anfang der Regierung König Ludwigs die Universität von Landshut nach München verlegt worden, habe Thiersch seine Tätigkeit auch auf diese ausgedehnt, und heute verdanke Bayern vor allen andern ihm den Ausbau und die glückliche Entwicklung seines Mittel- und Hochschulwesens und dessen Erlösung vom Jesuitismus. Aber auch um die Befreiung Griechenlands und um den Griechenkönig Otto, der ja ein Sohn Ludwigs des Ersten sei, habe Thiersch große Verdienste, wie es denn Leute gebe, die behaupteten, jener habe seinen Beruf verfehlt, denn der » Praeceptor Bavariae« sei eigentlich zum Staatsmann geboren. Wahrscheinlich deswegen habe auch der Minister Abel dunklen Angedenkens, als Thiersch vor fünfzehn Jahren die erste Versammlung der klassischen Philologen Deutschlands nach Nürnberg berief, ihn persönlich dafür verantwortlich gemacht, daß dort kein Wort über Politik falle.

Während Pina noch mit unauffälligem Interesse den Praeceptor Bavariae betrachtete, fragte ihr Oheim, ob sie nach den Bildnissen, die sie gewiß schon gesehen, den Herrn mit Knebelbart erkenne, der eben jetzt, nicht ohne Selbstbewußtsein nach verschiedenen Seiten leicht sich verneigend, auf dem Balkon gegenüber seinen Platz suchte. Sie verneinte, und als Johannes sagte, das sei der Dichter Emanuel Geibel, war sie überrascht: den hätte sie sich anders vorgestellt. – Gewiß als einen lorbeerbekränzten Lockenkopf mit großen, zugleich traurigen und feurigen, schwarzen Augen in einem blassen Gesicht, meinte der Oheim lächelnd, und Pina widersprach nicht. Übrigens halte er dafür, daß Geibel eines vollen Lorbeerkranzes nicht nur wert sei, sondern ihn auch zu tragen verstehe. Im guten wie im weniger guten Sinne solle dieser Dichter überaus empfindlich sein und in der etwas derben Münchener Luft nicht immer ganz behaglich sich fühlen. Aus Anlaß seiner Übersiedelung von Lübeck nach München sei im Bayerischen Hof ein »Dichterfest« mit sehr feierlicher und ehrenvoller Begrüßung Geibels veranstaltet worden. Darüber habe dann Herr Altenhöfer, der geistreiche Redakteur der Beilage zur Allgemeinen Zeitung, alsbald eine lustige kleine Satire geschrieben und obwohl er solche nicht habe drucken lassen, sei sie doch sehr rasch bekannt geworden. Während nun alle übrigen Dichter, die darin ein wenig verspottet werden, gute Miene zum bösen Spiel gemacht, habe Geibel diesen Scherz sehr übel genommen, und als Herr von Dönniges, »der die Glutidee der Trias zündend in die Welt geschmettert«, an einem seiner Montagabende in übermütiger Stimmung ein paar Verse aus jener Satire in Geibels Gegenwart rezitiert, sei es um ein Haar zu einem ernstlichen Bruch zwischen diesen beiden norddeutschen Duzfreunden gekommen. – Er, Johannes, wolle versuchen, ob er trotz seinem schlechten Gedächtnis jene Verse noch leidlich zusammenbringe. Also: »Geibel, kein Poet im öden Sinn der Heiden, kein Gestalter, nur die zartesten, modernsten Fühlsamkeiten tönt dein Psalter, patriotisch und .. erbaulich, allzeit fromm und tugendhaft, ohne .. ohne .. ohne .. ohne .., ohne blinde Leidenschaft. Deine Minne .. Minne .. Minne .., wie ein lichtentstammter Engel, statt der glühend roten Rose trägt sie Josefs Lilienstengel. Ach das duftet, ach das säuselt, und kein Weiblein geht dir fehl, Tugendsamer Rattenfänger, Gott mit uns, Emanuel!« Geibel gehöre, fuhr Johannes fort, zu dem engeren Kreise der »Berufenen«, den der König allwöchentlich einmal um sich versammle. Da werde dann nach dem Abendessen, bei einer Zigarre, die der König lediglich deshalb sich anzünde, um seinen Gästen den Genuß des Rauchens zu ermöglichen, stets eine wissenschaftliche oder künstlerische Frage ernsthaft verhandelt. Diesen zwanglosen Herrengesellschaften habe man den etwas anspruchsvollen, dem griechischen Altertum entlehnten Namen »die Symposien« beigelegt. Als Pina fragte, ob denn die Königin für diese Dinge sich nicht interessiere, antwortete der Oheim zögernd: doch, zuweilen werde wohl auch in ihrem Salon einmal vorgelesen, wobei sie nicht selten sich einen strengen Blick von seiten des Herrn Gemahls zuziehen solle. Dann nämlich, wenn die hohe Frau mit hohenzollernscher Unbefangenheit sich die Freiheit nehme, während des Vorlesens ein leises Geplauder mit ihrer Hofdame anzufangen. Es werde erzählt, daß besonders Geibel für solche königliche Unart gar kein Verständnis habe, sondern alsbald stirnrunzelnd mit Lesen innehalte, während Dingelstedt ... Hier wurde Johannes durch den herantretenden Obermedizinalrat Pfeufer, seinen Hausarzt, unterbrochen, der sich freundlich nach dem Befinden seiner Mutter erkundigte – er wisse nicht, ob er hinsichtlich ihrer Frische sagen solle: dank der Homöopathie oder trotz der Homöopathie – und alsdann den ausdrucksvollen Kopf mit den kurzen schwarzen Haaren verbindlich neigend die Etatsrätin fragte, ob sie gute Nachrichten aus Rom habe. Als jener sich verabschiedet, nahm Johannes den Faden wieder auf: Ja, Dingelstedt, der solle in solchem Fall seine Stimme erst recht erheben, um die Störung zu übertönen. Er werde aber nur selten zu Königs befohlen, da er ja nicht als Dichter, sondern lediglich als Intendant nach München berufen worden, also Beamter sei. Übrigens habe er soeben seine Loge betreten. Die jüngere der beiden Damen sei seine Frau, Jenny mit Namen, die ältere kenne er nicht. – Der Herr mit dem Napoleonskopf, der jetzt bei Dingelstedts eintrete, sei der berühmte Generalmusikdirektor Lachner. – Die Frau Jenny habe, nebenbei bemerkt, eine so wundervolle Stimme, daß Geibel einmal, ganz hingerissen, zum Dank für ein Schubertsches Lied kniend ihr die Hand geküßt. – Der Herr Intendant scheine ja heute recht aufgeräumt. Seine Stellung und Aufgabe sei äußerst schwierig: ein so vielköpfiges Bühnenvolk zu regieren, sei schon an sich keine Kleinigkeit. Dazu komme, daß es den Münchnern höchst ärgerlich sei, gerade das Theater von nichtbayerischen Händen geleitet zu sehen. Neben dem Legationsrat Dönniges, der wohl von allen »Nordlichtern« den größten Einfluß auf den König habe, sei darum Dingelstedt ihnen am widerwärtigsten, wie es denn ein lateinisches Verschen gebe:

A duobus D / et ab uno T / Liber nos, Domine.

Das T sei der Flügeladjutant des Königs, der treffliche Oberst von der Tann. – Um aber auf Dingelstedt, der seiner Geburt nach Kurhesse sei, zurückzukommen: dem habe, als er vor einigen Jahren zum Intendanten berufen worden sei, der Polizeidirektor Graf Reigersberg alsbald eröffnet, daß gleich bei der ersten Vorstellung gegen ihn demonstriert werden solle. Er habe ihm sogar ein ausführliches Schriftstück unterbreitet, mit der saubern Aufschrift: »Betreff: Auspfeifen des neuen Intendanten.« Es sei aber dann doch nicht so schlimm geworden, die Polizei habe wohl mal wieder zu schwarz gesehen. Dieser Graf Reigersberg leide übrigens, ganz nebenbei bemerkt, an einer Idiosynkrasie gegen jede Art von Herrenhüten, mit Ausnahme des Zylinders, den er für die einzig würdige Kopfbedeckung wohlgesinnter Männer halte. Insbesondere veranstalte er von Zeit zu Zeit eine richtige Razzia auf breitkrempige weiche Hüte, worunter er stets Demokraten wittere, obwohl er doch eigentlich wissen könnte, daß viele politisch ganz indifferente Künstler mit Vorliebe solcher Hüte sich bedienen.


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