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Das war dem Minister des Innern Karl von Abel an seiner protestantischen Wiege im Schatten des Reichskammergerichts zu Wetzlar 1788 nicht gesungen worden, daß er einst in Bayern mit Konvertiteneifer die Evangelischen bis zur Kniebeuge vor der Fronleichnamsprozession drangsalieren und endlich und plötzlich mit einer hübschen Tänzerin aus dem Glanz der Allmächtigkeit in den Schatten des Ruhestandes fliegen werde. Denn wenn Ludwig der Erste als König sich auch die liberalen Ansichten seiner jungen Jahre auf politischem Gebiet ohne sonderliche Mühe abgewöhnen ließ: wie den eignen Versen, so hielt er auch der holden Weiblichkeit die liberalste Treue und insbesondere in seine Beziehungen zur Lola Montez durfte ihm weder der freundwillige Vetter und Schwager zu Berlin, noch der bewährteste seiner Minister hineinreden. Und nicht nur seines Herzens, auch seiner Muse hatte diese »Tochter Babels« (wie die ultramontane Presse sie nannte) sich bemächtigt und der königliche Dichter reimte:

Heitern Sinnes, froh und helle,
lebend in der Anmut hin,
schlank und zart wie die Gazelle
bist du, Andalusierin.

Mochte es sich nun bei diesen beiden Beheimatungen der Dame auch um weitgehende dichterische Freiheiten handeln – helle war die Lola gewiß, die als Tochter eines englischen Offiziers in Schottland das Licht der Welt erblickt, als Offiziersfrau in einer indischen Garnison beträchtlich über die Stränge geschlagen und endlich durch Spanien und Frankreich über Berlin nach München sich durchgetanzt. Daß er der Vielgeliebten schon so bald ein Gleiches antun werde, ahnte der König wohl nicht, als er dem Gesamtministerium, das unter Abels Führung ihretwegen in einer plumpen und anmaßenden Denkschrift ihn abkanzelte, 1847 den Laufpaß gab, und noch weniger, daß in weiterer Wirkung seiner Verliebtheit er selber sich bald emeritieren werde, mit der nicht nur im Blick auf seinen Sohn ein wenig unhöflichen Versicherung: er sei nun der letzte König gewesen. Der Königlich Preußische Kommerzienrat Friedrich Wilhelm Wolf aber, als er mit den Seinen im Spätsommer 1853 im Bayerischen Hof am Promenadeplatz zu München sich einquartierte, fühlte sich geneigt, dem Exkönig und dem Exminister zu danken, daß sie, in verständiger Würdigung der Bedürfnisse einer Königlichen Haupt- und Residenzstadt, noch selbander aus den frommen Meßgeldern von Altötting einen so guten Gasthof erbaut hatten.

Mit Interesse hatte der Kommerzienrat sich dem Studium der Vorschriften einer hohen Polizeidirektion hingegeben, die in seinem Zimmer hingen, und ihre Aufforderung, innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden nach seinem Eintreffen die Aufenthaltsbewilligung einzuholen, gewissenhaft beherzigt. Dabei hatte er dann freilich erfahren, daß auch im gemütlichen München mit der Polizei nicht zu spaßen ist. Denn während der dicke und schwitzende Beamte, die Pfeife im Munde und Maßkrug und Schnupftabaksdose in bequemer Nähe, ihn schreibend inquirierte, indessen er seinerseits erwog, ob es technisch möglich sei, daß jener den Waffenrock gänzlich zuknöpfe, ließ der Kommerzienrat durch das heitere Behagen des Augenblicks sich zu der Bitte verführen, jener möge ihm doch auch die erforderlichen »Polizeizeichen« alsbald mit aushändigen. Der Dicke sah ihn über den Rand der Hornbrille hinweg fragend an: wie viele Hunde der Herr denn mitgebracht habe? – »Keine.« – Ja, dann brauche er doch auch keine Polizeizeichen. Aber der Kommerzienrat bestand darauf: die polizeiliche Vorschrift, die im Bayerischen Hof hange, laute klipp und klar: »Hunde ohne Polizeizeichen dürfen nicht frei herumlaufen. Auch der Fremde muß ein solches lösen.« Darüber könne er sich nicht so ohne weiteres hinwegsetzen, sintemal er von Jugend auf gewohnt sei, einer hohen Obrigkeit zu gehorsamen ... Da ward der Dicke wild, und der Kommerzienrat, indem er sich mit der Miene gekränkter Unschuld zurückzog, hörte hier zum erstenmal aus Autochthonenmund das Wort »frozzeln«, das sein Bruder längst in seinen Sprachschatz aufgenommen hatte.

Wie Frau Maria Magdalena so hatte auch ihr Liebling Johannes entschieden sich verjüngt, und wenn er auch behauptete, die frische Gesichtsfarbe sei nur eine rasch vergehende Wirkung der sechs Sommerwochen, die er mit den Seinen soeben in Tegernsee verlebt, so wußte seine Mutter doch, wem nächst Gott am meisten sie für sein Wohlbefinden zu danken habe. Und sie begegnete ihrer jungen Schwiegertochter mit einer so großen Herzlichkeit, wie Frau Anna sie nie erfahren oder auch nur für möglich gehalten hatte. Sie schien sogar ganz zu übersehen, daß Mirl dem Ideal einer niederrheinischen Hausfrau keineswegs nahe war, ja anscheinend ihm nicht einmal nachstrebte, sondern Wohnung und Hauswesen, wenn auch ohne grobe Nachlässigkeit, so doch reichlich genial behandelte. Freilich war sie dafür ihren vier Kindern eine um so herzlichere Mutter, wie sie auch für Mann und Gäste immer Zeit zu haben schien.

Johannes betrieb seit einigen Jahren eine kleine chemische Fabrik, die hauptsächlich, wenn auch nicht künstliches Brot, so doch künstliche Brotvermehrung: Kunstdünger, herstellte. Der Entschluß, von einer wissenschaftlichen Tätigkeit zu einer praktischen überzugehen, war ihm nicht leicht gefallen. Vielleicht hatte ihm der Traum dabei ein wenig geholfen, den er, obwohl er sonst von Träumen selten sich behelligt und noch seltener sich versucht fühlte, ihnen irgendwelche Bedeutung zuzumessen, doch seiner Mutter geschrieben hatte: ihm habe geträumt, er sei, sehr gegen seine Gewohnheit, eines Abends allein auf einen Keller gegangen – so nenne man in München die großen und vielbesuchten Biergärten –, habe sich »seine Maß« bestellt, vor lauter Erwägen und Sorgen aber den köstlichen Trank kaum berührt. Plötzlich habe er ganz laut seinen Namen rufen hören. Er habe sich umgesehen, an allen Tischen aber nur unbekannte und gleichgültig-fröhliche Gesichter erblickt. Das habe sich noch zweimal wiederholt. Als er aber nach dem dritten Male sich ein Herz gefaßt und ganz laut geantwortet habe: »Hier bin ich!« – da habe eine ihm fremde freundliche Stimme gerufen: »Johannes Wolf, laß dir dein Bier schmecken!« – Die Mutter hatte geantwortet: Gewiß habe ihm Gott bedeuten wollen, alle seine Sorgen auf Ihn zu werfen und Ihm auch die Entscheidung anheimzustellen. – Aber schließlich waren es doch wohl sehr irdische Gedanken über die Zukunft seiner Kinder gewesen, die sich mit dem gefunden, vom Vater ererbten Erwerbssinn verbanden, und ganz sachliche Erwägungen, die den Ausschlag gegeben hatten.

Durch Liebig, dem er schon in Gießen freundschaftlich nahegestanden, hatte Johannes einige gesellschaftliche Beziehungen zu »Neumünchen«, dem Kreis der aus Norddeutschland berufenen Gelehrten und Künstler gewonnen, während seine Frau ihn mit etlichen einheimischen Familien verband. Freilich weilten die meisten seiner Freunde und Bekannten noch auf dem Land, aber wenn Pina, wie es vorgesehen war, ein volles Jahr bei ihnen bliebe, sollte sie im Winter manchen anziehenden und wertvollen Menschen kennen lernen. Allerdings: auf eine rheinisch-behagliche Geselligkeit und rheinisch-warme Gastlichkeit dürfe sie sich keine Hoffnung machen, denn der Münchner sei ganz und gar ungastlich und beschränke seine geselligen Verpflichtungen und Vergnügungen nach Möglichkeit auf Keller und Kaffeehaus. Sehe er aber ja einmal Gäste bei sich, so stelle er diesen sein Dienstmädchen und allenfalls seine Beratung zur Verfügung, damit sie sich auf ihre Kosten aus der nächsten Wirtschaft eine Maß und etwa noch Kalbshaxen oder Knödel holen lassen könnten. Und die »Berufenen« seien, von wenigen Ausnahmen abgesehen, schon aus finanziellen Gründen ziemlich exklusiv. Aber Theater und Konzerte sollte Pina nach Herzenslust besuchen dürfen und dann würden auch im nächsten Winter während der Fastenzeit in Liebigs Hörsaal wieder eine Reihe allgemein interessierender Abendvorträge gehalten werden, sowohl von den »Berufenen«, wie von einheimischen Gelehrten. Davon wollten sie wenn möglich keinen versäumen und hoffen, daß die gütige Frau von Liebig nach den Vorträgen dann auch sie zu einer Tasse Tee miteinladen würde. Denn bei Liebigs herrsche eine schrankenlose Gastlichkeit, die oft genug auch Nichteingeladene, ja dem Hausherrn und der Hausfrau völlig Unbekannte ganz naiv mitgenössen, sogar wenn es sich keineswegs um eine Tasse Tee, sondern ein opulentes Mittag- oder Abendmahl handle. – Vorläufig bot ja die Stadt als solche schon genug, diese vielwinkelige alte deutsche Mönchs- und Herzogsstadt, in der die Bauformen der Spätrenaissance behaglich mit den bäuerlichen und bürgerlichen der Alpennester sich verbunden hatten, und die nun sich anschickte, mit langen, geraden Straßenzügen die vielen italienischen und griechischen Bauten an sich heranzuziehen, die plötzlich jenseits der städtischen Wiesen aus dem kiesigen Boden hervorgewachsen waren. Und dann wollte man auch noch eine Fahrt in die Berge unternehmen. Denn die hatten schon von weitem unerhörte Wunder verheißen, als man am zweiten Tag gegen Abend über eine der Isarbrücken ging, deren Eichenbalken schwarz vor Alter waren.

An einem der nächsten Vormittage, als man die alte Pinakothek besichtigt, wobei der Kommerzienrat seiner Tochter weiszumachen versuchte, sie verdanke ihren Namen diesem schönen Bauwerk, zu dem am Tage ihrer Geburt der Grundstein gelegt worden, konnte Johannes, während man sich bei Tambosi unter den Arkaden des Hofgartens durch eine Tasse Schokolade stärkte, seinen Gästen die beiden Könige zeigen. Frau Anna hatte sich gerade dafür eingesetzt, daß die soeben bewunderten Bilder doch eigentlich wieder nach Düsseldorf zurückgegeben werden müßten, da die Franzosen, vor denen man sie hatte flüchten wollen ja längst verjagt wären, als Johannes sie bat, so gefährliche Reden zu unterlassen, denn die beiden alten Herren, die da soeben in eifrigem Gespräch schräg durch den Hofgarten schritten, wären der König Ludwig und sein genialer Hofbauintendant von Klenze, der Schöpfer der Alten Pinakothek, der herrlichen, in ionischem Stil gehaltenen Glypthothek, die man morgen besuchen wolle – übrigens der ersten, dem Publikum zugänglichen Kunstsammlung in Deutschland – und mancher andern schönen Bauten. Wenn der König wirklich, wie es heiße, persönlich nichts von Kunst verstehe, so müsse man ihm, dessen Wesenskern eine ja auch auf andern Gebieten betätigte Begeisterung sei, doch lassen, daß er für die Kunst außerordentlich viel getan habe. – Es scheine also doch wahr zu sein, daß Klenze die Gunst des Königs wiedergewonnen, der inzwischen manches Bauwerk durch andere Architekten habe herstellen lassen: so das schöne korinthische Kunstausstellungsgebäude am Königsplatz durch Ziebland, den Schöpfer der Bonifaziuskirche, die sie noch sehen würden, und die soeben fertig gewordene, aber leider noch nicht eröffnete Neue Pinakothek, durch Voit, den begabten Schüler Gärtners. Von Gärtner selber sei übrigens die wundervolle Hof- und Staatsbibliothek, die sie einmal gegen Sonnenuntergang aufsuchen wollten. Dann glühe das rötliche Gestein, hinter dem, nebenbei bemerkt, Schätze vereint seien, wie sie nicht viele Büchersammlungen aufzuweisen hätten, von einem warmen innern Leben, was dem ernsten, vornehmen Bau etwas unbeschreiblich Liebenswürdiges, ja er möchte wohl sagen: etwas Gütiges und Tröstliches und Überirdisches verleihe.

Um aber auf den König und Klenze zurückzukommen, so sprächen die beiden jetzt gewiß über den geplanten strengen Abschluß des Königsplatzes. Dort solle nämlich eine Art Triumphbogen dorischen Stils erbaut werden, der nach der Vorhalle, die in Athen den Eingang zur Akropolis bilde, »die Propyläen« heißen werde. Gelange dieser Plan zur Ausführung, so werde der Königsplatz an edler Schönheit nicht zu übertreffen sein. Frau Anna erlaubte sich die Frage, wann und wo denn die bayerische Armee so gewaltige Triumphe davongetragen, daß das prachtvolle Siegestor von Gärtner, das sie vorhin durchschritten, allein zu ihrer Verherrlichung nicht ausreiche. Sie müsse gestehen: seit sie gestern auf dem Obelisken die Inschrift gelesen, daß auch die dreißigtausend Bayern, die Napoleon in Rußland gelassen, für ihres Vaterlandes Befreiung gestorben wären, was ihrer Ansicht nach trotz der schönen Erzbuchstaben eine Erzlüge sei – seitdem sei sie ein wenig skeptisch gegen monumentale königlich bayerische Geschichtschreibung, womit sie übrigens keineswegs gesagt haben wolle, daß in Berlin alles Gold sei, was glänze. Um so mehr aber wolle sie hoffen, daß die Bayern im nächsten Krieg sich den Siegeskranz der neuen ehernen Bavaria verdienen möchten, durch deren Augenlöcher sie gestern über die Theresienwiese auf die Stadt geblickt und von der sie in Foersters Reisehandbuch gelesen, daß die Menschheit seit dem Koloß von Rhodos ein so gewaltiges Werk dieser Art nicht hervorgebracht hätte. Sie denke aber, daß Bandels Hermannsdenkmal im Teutoburger Walde eine noch stärkere und besonders eine viel weitere Wirkung haben werde. Bei dem vorhin geäußerten Wunsch setze sie natürlich voraus, daß jener nächste Krieg nicht etwa gegen Preußen gehe, denn dann gönne sie den Bayern den Siegeskranz freilich nicht. Da nun mußte Johannes seine Schwägerin schon wieder lächelnd zu einiger Vorsicht ermahnen, denn die beiden Herren, die dort anscheinend dem Englischen Garten zustrebten, wären der regierende König Maximilian II. und sein leitender Staatsmann, der Minister von der Pfordten. Was aber das Hermannsdenkmal betreffe, so glaube er an dessen Vollendung nicht mehr, die finanziellen Schwierigkeiten seien zu groß, zumal Herrn von Bandel in Hannover, der übrigens Bayer sei, kein König zur Seite stehe. Allerdings seien die acht Jahre, die Miller an der Bavaria gearbeitet, auch nicht gerade arm an Schwierigkeiten gewesen, und nach dem Thronverzicht des Königs solle er sein eigenes Vermögen gewagt haben, um die Arbeit nicht unterbrechen zu müssen. Es sei übrigens ganz erstaunlich, wie diese Münchner Erzgießerei da draußen in den Neuhauser Feldern sich entwickelt, seit Stiglmayer Anno zweiundzwanzig als erstes Stück im Auftrag der Königin Karoline das Relief für das Grabmal der beiden Wilden gegossen. Pina wollte wissen, was das für »Wilde« gewesen wären, und prompt erklärte der Oheim: »Isabella vom Stamme der Maranhas und Johannes vom Stamme der Juris«, zwei Kinder, die Martius von seiner wissenschaftlichen Reise durch Brasilien mitgebracht, die aber das Münchner Klima nicht lange ausgehalten. Leider sei der treffliche Stiglmayer früh hoffnungslos erkrankt und vor neun Jahren gestorben, wenige Minuten nach Eintreffen der Freudenbotschaft, daß seinem Neffen und erklärten Nachfolger Miller der erste selbständige Guß – das Standbild Goethes, das sie ja in Frankfurt bewundert hätten, – aufs beste gelungen sei. Seitdem habe Miller neben der Bavaria noch manches schöne Werk geschaffen, auch vor zwei Jahren in London für einen der Löwen des Viergespanns auf dem Siegestor den ersten Preis erhalten. Besagter Löwe sei übrigens auf der Heimreise nach München zwischen Düsseldorf und Köln im Eis stecken geblieben, wie denn überhaupt die Beförderung solcher ehernen Kolosse zuweilen ganz abenteuerliche Schwierigkeiten mache. Er, Johannes habe die von sechzehn gewaltigen Hengsten auf eigens erbautem Wagen gezogene Kiste gesehen, die ein für Amerika bestimmtes Reiterstandbild George Washingtons enthalten habe. Die sei wie ein kleines Haus und zwischen München und dem Main manches Stadttor ihr zu eng gewesen, also daß zuweilen eine Stadt auf rasch erbauter besonderer Straße habe umfahren werden müssen. –

Ob König Max beliebt sei, fragte der Kommerzienrat. Ja, meinte Johannes, das könne man doch wohl sagen, wenn auch nicht in dem Maße, wie sein Großvater Max Joseph. Dem habe gleich 1799, als er in Nachfolge des, man könne zwar nicht behaupten: kinderlosen, aber doch erbfähiger Kinder entratenden Kurfürsten Karl Theodor festlich in München eingezogen, der riesige Kalteneggerbräu vom Karmelitergassl die derbe Rechte in die Staatskarosse gestreckt und freudetrunken gerufen: »No, Maxl, weilst nur do bist!« Und dieser erste Gruß des oberbayerischen Volkes an die neue Zweibrücken-Birkenfelder Linie des alten Hauses Wittelsbach sei offenbar von guter Vorbedeutung gewesen. Unter den Altbayern verdenke dem gegenwärtigen König zwar mancher, daß er so viele Preußen nach München ziehe, aber im großen ganzen gehöre ihm die Liebe seines Volkes und er verdiene sie auch. Es sei nur zu wünschen, daß sein ehrliches Bekenntnis: »Wir wollen Deutsche sein und Bayern bleiben« Gemeingut werde, was aber noch gute Wege habe. – Daß der König wie sein Vater sich angelegen sein lasse, womit schon sein Großvater begonnen: hervorragende Männer anderer deutscher Stämme zahlreich nach München zu ziehen, dafür würden die Bayern und besonders die Münchener noch einmal danken lernen, wenn sie jetzt auch zuweilen murrten. Denn es sei nun doch so, daß ohne diese Wittelsbacher und die von ihnen ins Land gerufenen Fremden München heute noch das dumpfe, stumpfe Nest wäre, das es um 1800 gewesen sein müsse.

Wenn König Max nun ja auf die Rechte seines Landes und auf die Rechte seiner Krone mit einiger Empfindlichkeit bedacht sei, so solle er doch persönlich von großer Bescheidenheit, aller Schmeichelei ganz unzugänglich und dazu ein wirklich guter Mensch sein. »Das ist viel für einen König!« warf Frau Anna ein – »übrigens sieht dieser aus wie ein Lord« – und Johannes fuhr fort: Maximilian II., dessen Vorbild Mark Aurel sei, verdanke seinem Berliner Lehrer Ranke ein starkes Interesse für Geschichte. Auch kennzeichne ihn ein lebhaftes Suchen nach Wahrheit. So habe er eine Vorliebe für geistliche Zwiegespräche und pflege solche sowohl mit seinen Professoren der katholischen Theologie Döllinger und Haneberg, wie auch mit dem protestantischen Seelsorger der Königin, dem Konsistorialrat Burger. Nebenbei bemerkt müsse dieser Döllinger ein über alle Begriffe gelehrter Herr sein, ein Kirchenhistoriker, aber auch ein Kirchenpolitiker ersten Ranges, der den Einfluß der Kurie beschränkt wissen wolle und anläßlich des Streites über die gemischten Ehen die Einführung der Ziviltrauung empfohlen habe. Leider sei er nicht nur jesuiten-, sondern auch protestentenfeindlich, wenn auch keineswegs im Sinn persönlicher Gehässigkeit oder auch nur Unfreundlichkeit. Ganz andersgeartet sei Haneberg: als Gelehrter in erster Linie Orientalist, als Geistlicher von einer warmen, überströmenden Frömmigkeit des Herzens, die jedem Eindruck mache, auch dem der Kirche Entfremdeten. – König Max habe sich vorgenommen, für die Wissenschaft in Bayern zu werden, was Ludwig I. für die Kunst gewesen, wie er denn auch selber von einem ungeheuren Lerntrieb besessen sei. Denn daß sein Herr Vater, von immer neuen Bauplänen erfüllt, ihn selbst für einen Prinzen allzuwenig habe lernen lassen, bedrücke ihn und er suche nachzuholen, was nur irgend sich nachholen lasse. Wobei ihm freilich sehr hinderlich sein möge, daß er fast beständig an Kopfschmerzen leide.

Ob dieser königliche Lerntrieb auf die Münchner Bürgerschaft abfärbe oder etwa gar in den gutsituierten Kreisen Mode werde, erkundigte sich Frau Anna. Nein, ganz und gar nicht, sagte Johannes, erst kürzlich hätte ein Großbrauer, dessen Sohn vor Eintritt in das väterliche Gewerbe gern ein wenig zur Universität gegangen wäre, den klassischen Ausspruch getan: »Ach was! Studieren hält auf!« Übrigens sei das Gewerbe eines Großbrauers durchaus nicht ungefährlich, wovon der Herr Pschorr ein Lied zu singen wisse. Denn das Volk von München sei keineswegs gesonnen, sich sein Bier verschlechtern oder verteuern zu lassen, vielmehr solchen Versuchen gegenüber stets zu rascher und resoluter Selbsthilfe geneigt. Vor fünf Jahren, als der Preis für die Maß von vier Kreuzern auf fünf erhöht werden sollte, hätte die hierüber aufs äußerste erboste Menge kurzerhand die Großbrauereien gestürmt, und wenn Herr Pschorr, den man mit Recht oder Unrecht für den Vater jener Absicht gehalten, nicht rechtzeitig sich und seine Familie in Sicherheit gebracht hätte, möchte es ihm wohl ans Leben gegangen sein. So hätte man sich freilich begnügen müssen, ein paar seiner Leute zu mißhandeln, seinen Hausrat zu demolieren und sein Bier auslaufen zu lassen. – Ein hübscheres Geschichtchen werde vom ersten »Bierkrawall« Anno vierundvierzig erzählt: Zur Vermählung der Prinzessin Hildegard mit dem Erzherzog Albrecht kommt auch dessen Vetter, Erzherzog Karl, der Sieger von Aspern, nach München. Am ersten Morgen zeigt König Ludwig ihm die Residenz, wobei er ihm die zwei bronzenen Löwen am Hauptportal als »Symbol der bayrischen Treue« vorstellt. Am selben Abend hören die hohen Herrschaften draußen ein seltsames Trommeln, dessen Bedeutung sie sich auf keine Weise erklären können, von dem aber der Erzherzog Karl behauptet, daß es der bayerische Generalmarsch sei. Sie eilen in die nach der Straße zu gelegenen Gemächer und treten an die Fenster. Da ist die ganze Residenzstraße von einem tobenden Volkshaufen erfüllt. Der König, dem die Situation sehr peinlich ist, hat hierfür keine Erklärung, aber der Erzherzog bemerkt ganz gelassen: »Nun, die bayerische Treue brüllt eben.«

Frau Anna fragte, ob die Treue zu den spezifisch bayerischen Tugenden gehöre, was Johannes verneinte. Mit den Italienern verglichen, sagte er, deren Empfinden ja der Begriff der Treue gänzlich fremd sein solle, möchten freilich wohl alle deutschen Stämme treu genannt werden dürfen, unter den deutschen Stämmen aber sei nach seinen Eindrücken keiner so treu wie der Westfale. Die Treue des Bayern, er meine natürlich des Altbayern, stehe auf etwas wackligen Beinen. Nicht als ob er behaupten wolle, der Bayer sei falsch, aber er neige zur Untreue aus Indolenz. Er sei sich selber nicht unbedingt treu, darum könne auch kein andrer auf seine Treue bauen. Er, Johannes, habe des öfteren beobachtet, daß ein Bayer auf einem Sitz, im Verlauf eines Gesprächs, Ansicht und Urteil mehrere Male ins Gegenteil geändert, also daß aus Weiß Schwarz und wieder Weiß und wieder Schwarz geworden. Und z. B. sein altes Fabrikfaktotum Rattenhuber, ein typischer Münchner Kleinbürger, pflege in solchen Fällen sich nacheinander für die Richtigkeit der jeweiligen Farbe mit einer momentan durchaus ehrlichen Leidenschaft so entschieden einzusetzen, daß sogar der Gamsbart auf seinem Hütl vor Erregung zittere. – Jahrhundertelang von Rom gegängelt und allem selbständigen Denken ferngehalten, sei der Altbayer, ungeachtet seines rauhen Wesens, außerordentlich leicht umzustimmen, und gerade der Berliner, den er doch mit Vorliebe einen Saupreußen schelte, könne bei einiger Gerissenheit auf der bajuvarischen Volksseele spielen, was ihm beliebe ...

Dann kamen die beiden Brüder auf die Politik zu sprechen: Ob das Mönchsgezänk von Bethlehem wohl wirklich zum Krieg führen, und ob dieser auf Rußland und die Türkei beschränkt bleiben oder ob Frankreich sich einmischen und welche Folgen das haben werde. Johannes meinte, die Franzosen litten darunter, seit Waterloo »die Besiegten Europas« zu sein, außerdem wären sie verärgert, weil der Zar ihren vom Volk erwählten Kaiser nur zögernd anerkannt, ihn auch nicht, wie üblich, »Bruder« oder »Vetter«, sondern »guter Freund« angeredet habe. Dagegen sei er überzeugt, daß Preußen die russenfeindliche Politik Österreichs nicht mitmachen, sondern neutral bleiben werde. – Wie man in München über die deutsche Zukunft denke? warf der Kommerzienrat ein. Ja, das sei schwer zu sagen, antwortete Johannes, die Ansichten gingen sehr auseinander. Im allgemeinen empfände man ja natürlich für Österreich weit mehr Sympathien als für Preußen. Der König aber, von der fixen Idee beherrscht, daß Preußen Bayern »verschlingen« wolle, und von der Pfordten und der sehr einflußreiche Legationsrat Dönniges – ein Pommer übrigens, angeblich mit Wikingerblut in den Adern –, die erstrebten ein einiges Deutschland unter gemeinsamer Führung von Österreich, Preußen und Bayern, worin Österreich für Zölle und Handel, Preußen für Politik und Militär und Bayern für Kunst und Wissenschaft maßgebend sein sollten. Der eigentliche Vater dieser sogenannten Trias sei der alte Baron von Wangenheim, weiland Württembergs Gesandter am Bundestag zu Frankfurt. Der sei auf philosophischen Gedankengängen zu der Einheit in der Dreiheit als dem Gesetz alles Lebens gelangt und habe solche Erkenntnis dann aufs Politische angewendet ...

Eine etwas verworrene Idee, die ihm nicht einleuchte und gegen die ja auch viel eingewendet werde. Er glaube natürlich immer noch und trotz allem an Preußens Führerberuf, und diesen Glauben teilten auch in München viele. Zunächst freilich werde Preußen selber noch viel stärker werden, auch seinen isolierten Westen fester an sich heranziehen müssen. Von Friedrich Wilhelm IV., der von der krankhaften Unruhe einer ewig Pläne schmiedenden Planlosigkeit besessen sei, allzu gerne sich reden höre und es mit niemand verderben wolle, von dem sei freilich kaum viel zu erwarten, und so werde man wohl noch ein wenig sich gedulden müssen. Inzwischen würden aber immer mehr Deutsche mit Heine singen: »O Bund, du Hund, du bist nicht gesund!« wie denn ja alle Therapie mit einer guten Diagnose beginnen müsse. – Aber allzu lange werde die Entscheidung der Machtfrage zwischen Österreich und Preußen nun wohl nicht mehr sich hinausschieben lassen und damit werde man dann, wie er vertraue, der Einigung Deutschlands einen guten Schritt näher kommen. Einstweilen freue ihn, daß Preußen in den Fragen der Zollpolitik Österreich gegenüber standhaft geblieben sei. – Nun, die Scharte von Olmütz sei dadurch doch noch nicht ausgewetzt, meinte der Bruder, und daß die Reaktion schwerer als je auf dem Lande laste und dabei auf die russische Freundschaft sich stütze, verspreche ihm für die nächste Zukunft nichts Gutes. – Gewiß, so könne man die Dinge ansehen, bestätigte Johannes, aber er betrachte sie optimistischer und halte dafür, daß alles, was ins Groteske sich auswachse, seinem Ende nahe sei. So z. B. jetzt die Zensur. Denn wenn der Polizeirat Doleschal in Köln als Zensor eine buchhändlerische Anzeige von Dantes Göttlicher Komödie unterdrücke, weil mit göttlichen Dingen nicht Komödie gespielt werden dürfe, so sei das nicht ein ärgerliches, sondern ein erfreuliches Zeichen der Zeit. – Im Grunde fehle den Deutschen, darauf laufe schließlich jedes derartige Gespräch hinaus, nur Eines: ein Mann. Tüchtige Leute hätten sie genug, aber der eine Mann sei noch nicht da. Vielleicht sei er noch nicht geboren, vielleicht habe er schon eine Glatze. Aber daß er kommen werde, sobald die Zeit reif sei, daran sei nicht zu zweifeln.

Übrigens habe er dieser Tage ein naturwissenschaftliches Buch gelesen, das wie eine Satire auf Preußen anmute: »Untersuchungen über Tierstaaten«. Es behandle hauptsächlich die Röhrenquallen, und sein Verfasser heiße Karl Vogt. Er glaube diesen jetzt in der Schweiz lebenden Forscher als ganz jungen Studenten in Gießen flüchtig kennen gelernt zu haben. – Pina fragte, ob in diesem Buch auch die Rede von den Staaten der Ameisen und der Bienen sei, und der Oheim erwiderte, ja, auch die würden berührt, so erinnere er sich, daß Vogt von dem dummen Konstitutionalismus der Bienen spreche, die trotz ihren ewigen Revolutionen doch nie zu einer höheren Staatsform gelangten, einfach weil sie immer die gleiche Nahrung zu sich nähmen, während der sozialdemokratische Ameisenstaat die individuelle Anarchie und den hohen Verstand seiner Bürger lediglich der beständig wechselnden Nahrung verdankte, die diese Tierchen sich suchten. – Um aber auf die Triasidee zurückzukommen, so habe ihm Liebig neulich ein hübsches Geschichtchen erzählt, das sich an einem jour fixe bei Dönniges ereignet habe und auch den Damen Vergnügen machen werde. Da habe Dönniges den mit seiner jungen Frau, einer Tochter Liebigs, bei ihm eintretenden Ästhetiker und Philosophen Professor Moritz Carrière mit den Worten begrüßt: »Nicht wahr, zu zweien philosophiert es sich besser?« und jener schlagfertig erwidert: »Jedenfalls ist der Dualismus leichter durchzuführen als die Trias!«

Als sie Tambosi und die Arkaden verlassen hatten, meinte Pina fragend, München würde wohl sehr viel von Franzosen besucht. Johannes wußte sofort, wohin sie zielte und sagte nein, die Franzosen reisten überhaupt nur wenig, aber die bayerischen Aristokraten und solche, die dafür gehalten werden wollten, sprachen außerhalb ihrer vier Wände ein oft ziemlich mäßiges Französisch, dafür aber daheim ein um so echteres Bajuvarisch. Er hätte sogar neulich gehört, daß auch für den dienstlichen Verkehr einzelner Zweige der Regierung die französische Sprache vorgeschrieben sei, und wolle nur hoffen, daß von diesen das Französische nicht so verschandelt würde, wie von andern das Deutsche. Denn amtlich spreche man vom »diesseitigen Bayern« oder gar vom »diesrheinischen Bayern«, was beides soviel heißen solle wie »Bayern diesseits des Rheins«, aber doch kein Deutsch sei. So wenig wie »Der reitende Gendarm zu Fuß«, der nächtens das Münchner Postamt bewache. Frau Anna bemerkte, es sei ihr immer schon auffallend gewesen, daß die Bayern soviel sie sehe, noch nicht einen einzigen Dichter von Bedeutung hervorgebracht hätten, denn die Familie von Platen sei ja doch aus Rügen eingewandert. Er wisse allerdings auch keinen, antwortete ihr Schwager, aber das werde schon noch kommen, denn das Volk habe viel Phantasie und Formgefühl und Musik. Vielleicht sei es nicht nur auf diesem Gebiet so, daß, wenn einst die andern Stämme erlahmten, Bayern mit seiner aufgespeicherten Kraft die deutschen Schatzkammern füllen werde. Wenn nun aber auch der große Dichter aus Bayern noch fehle, eine ganze Reihe liebenswürdiger bayerischer Dichter gebe es immerhin in München, und wenn sie in diesen Wochen des trefflichen Mineralogen Kobell »Schnadahüpfler und Geschichtln« lese, auch etwa in seinen hochdeutschen »Gedichten« und in des Grafen Pocci »Dichtungen« blättere, so werde sie's nicht bereuen. Noch mehr Freude werde sie aber vielleicht an Aurbachers »Volksbüchlein« haben oder an seinen »Lalenbürgern«, die die »Fliegenden Blätter« kurz nach seinem Tode veröffentlicht. Und ob denn wohl in irgendeinem deutschen Lande eine so rein erfreuliche Zeitschrift existiere wie diese »Fliegenden Blätter« von Braun und Schneider? –

Immer wieder mußte Frau Maria Magdalena über die vielen Bettler in München sich wundern: an jeder Kirchentür und an nicht wenigen Straßenecken lungerten solche, meist alte Weiberchen, zuweilen aber auch ganz rüstige Männer. Und sie fühlte sich gedrungen in alle diese Hüte und Hände je einen Groschen zu legen, was ihr peinlich genug war. Denn was hatten diese Ärmsten davon, und ihnen wirklich zu helfen hätte sie ja doch nicht vermocht, um so weniger, als sie nie ein Wort von dem verstand, was jene auf ihre teilnehmenden und hilfsbereiten Fragen antworteten. Gab es denn in diesem München keine Innere Mission, solchem Elend zu steuern? – Johannes lachte: Der Bettlerstand, ja man könne fast sagen der Bettlerberuf, sei in München eine recht auskömmliche Sinekure, und alle diese Leutlein ließen sich wenigstens sechsmal am Tage auch ohne Stimme von oben »ihre Maß« schmecken, dazu in Ergänzung der häuslichen Mahlzeiten auch unterschiedliche Weißwürscht und Radis. Und manche von ihnen wären geradezu Autoritäten in der Frage, die für jeden richtigen Münchner von der Wiege bis zur Bahre alljährlich akut werde: welches Bräu heuer den Vorzug verdiene. – Übrigens aber könne das berühmte »goldene Münchner Herz« solches augenfälligen Anreizes zur Wohltätigkeit schlechterdings nicht entraten, die hierzulande weder im Geber noch im Empfänger irgendwelche peinlichen Gefühle auslöse – im Gegenteil ...

Hier nun trat Mirl lebhaft für ihre Vaterstadt ein. Das Münchner Herz sei wirklich golden, wovon ihr lieber Mann doch hoffentlich ein Lied zu singen wisse, und auch in München gebe es die verschiedensten Hilfsvereine und Wohltätigkeitsanstalten, sowohl weltliche wie geistliche. Und auch eines der Gebiete, auf denen man in Bayern weiter sei als in Preußen, gehöre hierhin, nämlich das Zuchthaus- und Gefängniswesen. Denn während man in Preußen dieses entsetzliche amerikanische Zellensystem einzuführen beabsichtige, das die Sträflinge um den Beistand und damit um den letzten Rest von Menschenwürde bringe, trete der Direktor Obermaier vom Strafhaus in der Au in Wort und Tat für eine menschliche Behandlung der Gefangenen ein, weil die Strafe nicht nur sühnen, sondern auch bessern solle. Obermaier sei ein Studienfreund von ihrem Vater selig gewesen und habe in schwerer Zeit auch ihrer Mutter sich freundlich angenommen, aus welchen alten Beziehungen sie ihn und seine Familie persönlich kenne. Als sie nun das letzte Mal seine Frau besucht, da habe er sie gefragt, ob sie einmal etwas Hübsches sehen wolle. Und dann habe er sie an ein Zimmer geleitet, daraus ein schöner zweistimmiger Gesang erschollen. Der sei nun freilich beim Eintritt des Direktors verstummt, habe aber auf den Gesichtern der zwölf bis fünfzehn Mädeln in sauberen Waschkleidern, die um einen Tisch gesessen und Weißzeug genäht hätten, seinen friedlichen und freudigen Glanz zurückgelassen. Nachher habe Obermaier sie gefragt, was sie wohl glaube, daß diese netten Mädeln verbrochen hätten. Sie habe auf kleine Veruntreuungen geraten, aber jener sie berichtigt: »Sämtlich Kindsmörderinnen, doch keine wird's wieder tun.« – So human gehe man in Bayern sogar mit Kindsmörderinnen um, während, wie Herr Obermaier ihr erzählt habe, in dem sächsischen Zuchthaus zu Waldheim, wo viele Achtundvierziger säßen, voriges Jahr an die fünfundzwanzigtausend Rutenstriche und Stockschläge verabfolgt worden seien.

Eines Mittags, als man im Bayerischen Hof vergnüglich tafelte, berichtete Johannes, der heute die vormittägliche Führung Mirl überlassen hatte, er habe soeben auf dem Wege von der Fabrik einen jungen Maler namens Piloty getroffen, dessen Bekanntschaft er unlängst gemacht habe. Der habe ihn aufs freundlichste zu einem Besuch seines Ateliers eingeladen, und in der Annahme, daß es ihnen allen gewiß höchst erwünscht sei, einmal sozusagen einen Blick hinter die Kulissen der Kunst zu tun, habe er mit jenem verabredet, daß sie alle zusammen heute nachmittag um halb fünf sich bei ihm einfinden würden. – Frau Maria Magdalena schien bedenklich und zum mindesten geneigt, sich und das junge Volk auszuschließen, sintemal in einem Maleratelier gewiß allerlei Unpassendes mit in Kauf genommen werden müsse. Sie wolle unterdessen mit der Jugend nochmals in die Ludwigskirche gehen, denn sie finde, etwas Erhabeneres und Schöneres als dieses Jüngste Gericht von Cornelius könne man nicht leicht sehen, und ein solches Bild möge auf ein junges Menschenleben von wohltätiger, ja entscheidender Wirkung sein. – Johannes fragte, ob die Mutter auch wisse, daß manche behaupteten, Cornelius habe in dem »Schlemmer« Goethe und in dem »Heuchler« Luther porträtiert. Aber da geriet die alte Dame in Rage: eine derartige Behauptung sei die abscheulichste und unsinnigste Verleumdung, denn ein solches Bild könne nur ein Maler von außergewöhnlicher, ja fast übermenschlicher Größe der Seele schaffen, der so kleinlicher Niedertracht schlechterdings unfähig sein müsse. – Übrigens gelang es ihrem Liebling Johannes, jenes Bedenken gegen den Atelierbesuch zu zerstreuen, und zu der verabredeten Stunde standen sie alle in Ergriffenheit vor dem großen Gemälde, das Piloty in diesen Tagen erst vollendet hatte. Der junge Künstler, der solcher Wirkung sich freute, sagte, daß er die Anregung zu diesem Bilde seiner Schwester verdanke, die ihm erzählt, daß ihre Amme von einem Ausgang ganz verstört heimgekommen sei, weil sie ihr eigenes Kind bei seiner Ziehmutter im Sterben angetroffen habe. – Auf dem Pilotyschen Bilde nun kniete die junge Amme, das wohlgenährte, in Spitzen gehüllte fremde Kindlein im Arm, vor dem Bettchen, darin das eigene Kind matt und blaß die Händchen nach ihr ausstreckte. Und einen weitern Gegensatz bildeten in dem ärmlichen und verwahrlosten Gemach des einen Säuglings zierlich gewandetes Brüderchen mit Strohhut und Spazierstöckchen und des andern Säuglings teilnahmlose alte Ziehmutter.

Der Dank, mit dem die Besucher sich verabschiedeten, kam von Herzen, und Frau Maria Magdalena leistete im stillen Abbitte. Frau Anna aber sagte später zu ihrem Mann, daß dieses Bild für sie doch bis jetzt innerlich der stärkste Eindruck sei, daß es ihr aber auch als Gemälde ganz außerordentlich gut gefallen habe, mit der verhaltenen Kraft seiner Farbe, die sie an Murillo und Velasquez erinnere. Dagegen mute sie das Jüngste Gericht des Cornelius jetzt erst recht schemenhaft und abstrakt an, was aber kein Werturteil sein solle, denn sie verstehe ja nichts von diesen Dingen.


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