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Wolfs hatten ursprünglich heute Abend den Freischütz hören wollen, aber der war soeben abgesagt worden, weil das Annchen heiser sei. Nun beantragte Frau Anna als Ersatz den Besuch des Seldschen Vortrags und der Kommerzienrat war einverstanden unter der Bedingung, daß sie, was auch immer der Mann gegen den Wein sagen würde, nach dem Vortrag in der »Ewigen Lampe« ein Fläschchen mitsammen tränken. Der Saal der Singakademie war bald überfüllt, die Flügeltür blieb offen, damit auch die Vielen auf Vorplatz und Treppe zuhören könnten. Der vornehm und ein wenig engbrüstig aussehende Redner begann. Er sprach mit einer angenehmen Stimme sachlich und eindringlich, und man fühlte, daß ihm die Worte von Herzen kamen. Da hielt er plötzlich inne und sah scharf nach der Tür, vor der ein Herr ganz laut zu sprechen angefangen hatte. Jetzt schwieg der Störenfried, kaum aber fuhr Baron Seld fort, als auch jener wieder begann. Da wendete Seld sich an die Versammlung und sagte ruhig: »Der Herr da draußen hat gewiß etwas sehr Nötiges zu sagen, ich bitte daher um die Erlaubnis, so lange zu schweigen, bis er ausgesprochen hat.« Wenn der Baron aber erwartet hatte, jener werde nun ruhig sein, so irrte er sich. Im Gegenteil, der also Aufgeforderte, in dem Wolfs mit Überraschung ihren gestrigen Reisegenossen Franz Raveaux erkannten, erhob die Stimme um so lauter. Ja, sagte er, er müsse reden, im Namen von ganz Köln müsse er reden. Der Herr Baron träte hier auf, als ob die Kölner Branntweinsäufer wären, aber Kölns Bürger wären ordentliche, einsichtsvolle Männer, die selbst wüßten, was sie zu tun und zu lassen hätten, da brauchte kein Fremder zu kommen, um ihnen zu predigen. Der Herr Baron solle nach den Fabrikstädten gehen, wo der Branntwein die Leute vielleicht unglücklich mache, in Köln sei sein Reden ganz unnötig, ja eine Beleidigung für die Kölner, und ein Schimpf sei es für die Kölner Damen, daß in den Zeitungen gestanden, sie hätten ihm die Hand darauf gegeben, daß sie keinen Branntwein trinken wollten. Kölns Damen seien keine Säuferinnen und er müsse im Namen aller Kölner Damen dagegen protestieren, daß sie so an den Pranger gestellt würden. Als er ausgeredet hatte, riefen einige Bravo! – Da wandte Seid sich an die Versammlung und sagte: »Ehe ich weiterspreche, muß ich wissen, ob Sie überhaupt wünschen, daß ich weiterreden soll?« Und als von allen Seiten stürmisch »Ja! Ja!« gerufen wurde, sagte er, daß er das gern, doch nur unter einer Bedingung tun wolle, nämlich wenn man verspräche, daß er ohne Unterbrechung bis zu Ende reden dürfe. Da ging ein gewaltiger Lärm los gegen den Störenfried von vorhin: »Der Kerl macht Skandal! Der macht sich überall mausig! Schmeißt den Kerl die Treppe hinunter!« Aber Seld rief: »Sie tun dem Herrn Unrecht! Ich selbst habe ihn aufgefordert zu sprechen. Sie aber bitte ich um die Erlaubnis, daß ich ihm zunächst auf seine Einwürfe antworten darf. Ich kenne ihn nicht, aber daß er kein Kölner ist, davon bin ich überzeugt. Wäre er ein Kölner, so wüßte er, wie es in seiner Vaterstadt steht, so wüßte er, daß in den Gefängnissen, die vor zwölf Jahren fünfhundert Verbrecher enthielten, jetzt dreizehnhundert sitzen, und daß die Mehrzahl nach der Aussage der Kriminalbehörden und Aufsichtsbeamten nur durch den Branntwein ins Gefängnis gekommen ist, so wüßte er, daß der Vater der Armen, der würdige Präsident Wittgenstein, in seinem Bericht von der erschreckenden Zunahme der Verarmung, von der Überflutung der Kranken- und Waisenhäuser spricht und dies alles dem zunehmenden Branntweingenuß zuschreibt. Darum steht's nicht gut in Köln, darum tut es not, ja in Köln ganz besonders not, zu warnen zu bitten, zu beschwören, daß dies Elend gemildert werde ...«

Und dann nahm er den Faden seines Vortrags wieder auf. Das Fläschchen in der »Ewigen Lampe« ward nach dem Vortrag und trotz dem Vortrag getrunken, und auch daheim blieben Wolfs der edlen Gottesgabe wie bisher mit Maßen zugetan. Der Weinkeller, den der selige Maire mit soviel Verständnis angelegt hatte, und in dem auch aus seiner Zeit noch mancher gute Jahrgang – vor allen der Elfer – lagerte, sollte nicht in Verfall noch Unehre geraten. Aber Eine Wirkung, die den enthaltsamen Baron erfreut haben würde, zeitigte sein Vortrag doch: in der Fabrik ward den Arbeitern, die des Schnapses sich zu enthalten gelobten, zweimal täglich Kaffee dargeboten und bald fanden die meisten, daß solches Getränk um so mehr den Vorzug verdiene, als sie es nicht zu bezahlen brauchten.

Zunächst aber erwartete die Heimkehrenden eine sehr unangenehme Überraschung. Herr Walter Götze, der Bevollmächtigte des Hauses J. P. Wolf und Sohn, hatte, durch Machenschaften der Londoner Börse verführt, weit über den laufenden Bedarf der Fabrik hinaus mit Herrn Latschert Baumwollkäufe abgeschlossen, weil der Preis zu steigen schien. Tatsächlich aber war der Preis alsbald beträchtlich gefallen und er fiel noch immer. Der Kommerzienrat war außer sich, hatte er doch Herrn Götze des öftern auseinandergesetzt, daß es gegen seine Grundsätze gehe, solchergestalt das Glück zu versuchen. Nun waren an zehntausend Taler verloren. Da blieb nur übrig, den ungerechten Haushalter zu entlassen, so vortrefflich dieser auch bis dahin sich bewährt hatte. – Frau Anna ließ ihren Fritz sich austoben und meinte dann, sie wolle jenen gewiß nicht entschuldigen, aber gerade einen ungerechten Haushalter könne man ihn doch wohl nicht nennen, denn wenn schon auf das Gleichnis im Evangelium angespielt werden solle, so habe Herr Götze doch eigentlich ganz in dessen Sinne gehandelt, sintemal er ja doch nicht zu seinem eigenen Vorteil mit dem anvertrauten Pfunde gewuchert habe. Immerhin möge der Kommerzienrat doch ja tun, was ihm recht und richtig erscheine, sie wolle gewiß nicht in diese geschäftlichen Dinge sich einmischen, von denen sie nichts verstehe. Nur darum bitte sie und das dürfe sie vielleicht erwarten, daß ihr lieber Mann, wenn er sich zu so harter Bestrafung entschließe, ihr sein Wort darauf gebe, daß er jenen auch dann fortschicken würde, wenn die Baumwolle nach dem Abschluß des Geschäfts mit Herrn Latschert um ebensoviel gestiegen, wie sie jetzt leider gefallen sei.

Am Vormittag des Ostersonntags 1849, während Pastor Kranevoß an einer langwierigen und schmerzhaften Krankheit zu Bett lag, war die alte Kirche überfüllt und auf ihrer Kanzel stand ein dunkellockiger und sehr blasser Kandidat.

Es war Wilhelm Ritter, der zwischen dem ersten und zweiten Examen in Vertretung des einstigen Lehrers seit vier Wochen die Heimatgemeinde betreute. Seine Vorliebe für große Worte hatte sich in Halle, wo er vier Semester zu des frommen und geistvollen Tholuck Füßen gesessen, keineswegs verloren, aber sie hatte Kultur bekommen, und dann war seine Stimme außerordentlich angenehm. Aber die unter seinen Zuhörern feinere Ohren hatten, würden Tholuck zugestimmt haben, wenn sie gewußt hätten, was dieser seinem begabten Schüler zum Abschied gesagt hatte: daß es schön und löblich sei, den geistlichen Beruf ergriffen zu haben, daß es aber doch noch viel mehr darauf ankomme, sich von ihm ergreifen zu lassen. Und solches Ergriffenwerden bald zu erleben, das wolle er ihm herzlich wünschen.

Das war mit andern Worten dasselbe, was der alte Großvater Schlüpjes alle diese langen Jahre hindurch, in denen der Enkel auf Frau Maria Magdalenas und des Kommerzienrats Kosten dem Studium der Gottesgelahrtheit oblag, so oft gedacht und auch ausgesprochen hatte und was noch erleben zu dürfen er täglich von Gott erflehte. Von diesem Letzten und Größten abgesehen, hatte Willemken, seinen Jünglingsweg unsträflich wandelnd, ihm nur Freude gemacht. Und was Wolfs betraf – wenn Frau Anna auch mehr von seinem einfachen Bruder Michel hielt, der in der Fabrik Herrn Götzes rechte Hand geworden war, so war es Frau Maria Magdalena doch eine wirkliche und tiefe Freude, daß sie Willemken das hatte werden lassen dürfen, was zu werden ihr Johannes leider immer abgelehnt hatte. Daß »Reginens Lebensretter« etwa Absichten auf ein verwandtschaftliches Verhältnis zum Hause Wolf haben könnte, der Gedanke blieb ihr fern, aber Frau Anna erwog ihn zuweilen. Sie vertraute ohne weiteres, daß Pinchens nüchterner Blick sich von dem Kopf des Heiligen Johannes, den die Großmutter auf Willemkens ein wenig zu schrägen Schultern zu sehen versicherte, nicht würde betören lassen, und sie freute sich, als sie merkte, daß das Herz der zarten Regine schon einen andern, guten und verständigen Weg eingeschlagen. Denn auch Frau Anna hatte das Fehlen jenes Letzten und Größten längst empfunden, ohne welches nach ihrer Ansicht kein Beruf so gefährlich war, wie der geistliche. Gefährlich für den, der ihn ausübte und mehr vielleicht noch für die, die jenem im Leben menschlich am nächsten zu stehen hatte.

Heute, als am ersten Ostertag, saßen sie alle andächtig unter Willemkens Kanzel und freuten sich der klugen und eindringlichen Predigt. Nur der alte Großvater Schlüpjes schüttelte bisweilen mißbilligend den Kopf, und als der junge Prediger gar, einen Tholuckschen Lieblingsgedanken ausführend, darlegte, daß und warum es auch im Jenseits noch eine Vergebung der Sünden geben müsse, also daß auch jene keineswegs unbedingt dem ewigen Tode zu verfallen brauchten, vielmehr einer Auferstehung zum Leben gewärtig sein dürften, die hier auf Erden nicht zur Buße und Wiedergeburt gelangt wären, – da war's mit der Geduld des alten Totengräbers und Stundenhalters vorbei. Solcher Irrlehre, die sein und aller wahren Christen schweres und langwieriges Kämpfen um die Gewißheit der Gnade gleichsam als überflüssig oder doch als nicht durchaus erforderlich hinstellte, zu widersprechen, war ihm heilige Pflicht. Selbstverständlich durfte angesichts der Würde des Orts und des Amtes, das der betörte Jüngling versah, solcher Widerspruch nicht in Worten oder überheblichem Gebaren sich äußern. Und der Alte tat, was er auch in Kranevossens und des seligen Piepers Predigten, von seinem Gewissen getrieben, etliche Male getan hatte: er nahm seinen Hut, hielt ihn vors Gesicht und bewegte unhörbar die schmalen Lippen, betend, daß Gott den Irrenden erleuchten und in den Herzen der Hörer den Irrtum unwirksam machen wolle. Dann erhob er sich und verließ leisen und langsamen Schrittes, aber aufrechten Ganges das Gotteshaus. Und wie immer, gab er damit denjenigen Freunden der Wahrheit, denen die Gnade der Freimütigkeit geschenkt war, das Zeichen, ihm zu folgen. Frau Maria Magdalena aber blieb sitzen. – Nach dem Gottesdienst erschien der Kandidat als Tischgast im kommerzienrätlichen Hause und angesichts der edlen Gottesgaben schwand seine Verstimmung über die unpassende Kritik des Großvaters wie Schnee vor der Sonne. Man müsse solche Taktlosigkeit dem Bildungsniveau des Alten zugute halten, meinte er. Und als er nach Tisch mit den beiden Gespielinnen seiner Kindheit und ihren jüngeren Geschwistern im großen Garten Ostereier suchte, taute er vollends auf. – Was war es nur, das ihn dann später von neuem bedrückte, während er, nachdem man im Gartensaal den Kaffee genommen, mit Pinchen und Regine plaudernd den breiten Mittelweg auf und ab wandelte? Er erzählte ihnen von seinen Erlebnissen im vorigen Jahr, von seinen kriegerischen Abenteuern im Frühling, wie er als Feldgeistlicher bei den Truppen Dienst getan, die der Deutsche Bund unter Wrangel gegen die Dänen marschieren ließ, und mehr noch von den Herbsttagen in Berlin, wie schlau und schneidig derselbe Wrangel die Berliner wieder an den Anblick des Militärs gewöhnt, wie er den sogenannten Volksvertretern im Sitzungssaal des Königlichen Schauspielhauses mitgespielt, die Bürgerwehr aufgehoben hätte und binnen wenigen Stunden und ohne alles Blutvergießen Herr von Berlin, nach einigen Wochen aber dort die volkstümlichste Persönlichkeit gewesen wäre. Ganz österlich hatten ihn, Willemken, jene Herbsttage angemutet, in denen in Berlin und in ganz Preußen Zucht und Treue wieder auferstanden und die Sonne des königlichen Gottesgnadentums mit erneutem Glanz die letzten Schatten jener unseligen Märztage Vertrieben. – Die Hauptschuld an der ganzen sogenannten Revolution, die im Grunde doch nur eine freche Revolte gewesen, trügen diese gottverlassenen, halbgebildeten und Halbbildung verbreitenden Volksschullehrer, die die Schule von der kirchlichen Aufsicht befreit und wohl gar, wie einer ihrer Führer, Diesterweg mit Namen, nur noch konfessionslosen Unterricht gestattet wissen wollten. Für den guten Dr. Zahn in Mörs täte es ihm ja freilich leid, denn der wäre nicht so, aber davon abgesehen hätte es ihn herzlich gefreut, daß der fromme König den in Berlin beratenden Seminardirektoren neulich einmal gründlich den Kopf gewaschen. Er, der Kandidat, bedauerte nur, nicht dabei gewesen zu sein, aber er hätte sich die wahrhaft königlichen Worte gut gemerkt, die der zornige Monarch persönlich den überraschten Schulmännern ins Gesicht geschleudert: »All das Elend, das im verflossenen Jahre über Preußen hereingebrochen, ist Ihre, einzig Ihre Schuld, die Schuld der Afterbildung, der irreligiösen Massenweisheit, die Sie als echte Weisheit verbreiten, mit der Sie den Glauben und die Treue in den Gemütern meiner Untertanen ausgerottet und deren Herzen von mir abgewandt haben.«

Willemken hatte diese Worte mit einigem Aufwand stimmlicher Mittel zitiert, doch ließ sich eine besondere Wirkung nicht feststellen. – Ein Hallenser Kommilitone, fuhr er fort, hätte ihm kürzlich seine Doktordissertation geschickt, die den Nagel auf den Kopf treffe. Schade, daß sie sie nicht verstehen könnten, sonst würde er sie ihnen gern einmal leihen. Sie sei betitelt: »De morbo democratico«, zu deutsch »Über den Demokratenwahnsinn«, und weise das Pathologische dieser ganzen Verirrung überzeugend nach. – Wenn die Regierung doch nur der »Neuen Rheinischen Zeitung« das Handwerk legen wollte, die noch viel schlimmer sei als die alte. Denn der Redakteur, ein gewisser Marx aus Trier, sei schon gar nicht mehr Demokrat, sondern Kommunist. So nenne man die bösen Menschen, die alle gottgewollten Unterschiede aus der Welt schaffen und den Begüterten ihre Häuser und Fabriken und ihr Geld abnehmen und alles unter allen teilen wollten. Und dazu sei dieser Marx auch noch Jude. – In jenen Berliner Märztagen hätte übrigens auch der Herr Franz Raveaux aus Köln eine anmaßliche und unrühmliche Rolle gespielt. Ob die Eltern wohl seitdem von diesem Herrn wieder etwas gehört hätten, mit dem sie doch vor ein paar Jahren aus einer Rheinfahrt persönlich gut bekannt geworden wären?

Ja, sagte Pina, als der Vater Ende Dezember sie nach Düsseldorf mitgenommen, um ihr einen Weihnachtswunsch zu erfüllen und sie ein paar gute Theatervorstellungen sehen zu lassen, da hatten sie dort ganz zufällig auf der Straße den Herrn Raveaux getroffen und dann auch mit ihm zu Mittag gegessen. Wobei er viel vom vorigen Jahr erzählt: wie die Nachricht vom Ausbruch der Pariser Revolution mitten in die Kölner Karnevalsfreuden hineingeplatzt sei und alsbald zu Unruhen und zu einer Formulierung der Forderungen des Volkes geführt habe. Und daß seine Reise mit der Deputation sehr kurz und über die Maßen anstrengend gewesen: am 17. März wären die Herren in Köln abgefahren, am 18. in Berlin vom König empfangen worden und am 19. schon wieder in Köln eingetroffen. – Und daß am Abend des 29. die Kölner eine riesige schwarz-rot-goldene Fahne auf dem höheren der beiden Domturmstümpfe aufgepflanzt, die aber schon in der ersten Nacht leider durch den Sturm in Fetzen gerissen worden sei. Sie wisse nicht mehr alles, was Herr Raveaux erzählt, denn sie sei mit ihren Gedanken immer wieder bei der Maria Stuart gewesen. Aber der Vater habe gesagt, schwarz-rot-gold sei, von der Textilindustrie aus betrachtet, keine glückliche Trikolore, weil Gold keine Farbe sei. Man müsse da also in der Praxis immer Kompromisse machen, und das eine Mal werde das sogenannte Gold orangefarben sein und das andere Mal gelb. Kompromisse aber seien immer bedenklich, am meisten für einen Staat. Außerdem sei Deutschland wirklich nicht so reich, daß es Wert darauf legen müsse, gerade Gold in seiner Trikolore zu haben. Man solle lieber dafür sorgen, daß es Gold in den Staatssäckel bekomme. Aber Herr Raveaux hätte das nicht Wort haben wollen: das ganze Menschenleben sei ein Kompromiß und das politische Leben erst recht. – Und dann hätte er ihnen noch von der Nationalversammlung erzählt, deren Mitglied er sei, und von dem Dombaufest im August, durch das man das sechshundertjährige Jubiläum der Grundsteinlegung gefeiert habe, und zu dem die Nationalversammlung mit dem Erzherzog Johann an der Spitze, auf reichgeschmückten Dampfschiffen den Rhein herab nach Köln gefahren sei. Und daß dort der König, der eigens von Berlin gekommen, den Herren gesagt hätte, sie sollten ihn nicht vergessen. Nein, verbesserte der Kandidat, solch einen wahrhaft königlichen Ausspruch müsse man sich wörtlich merken. Der König habe gesagt: »Vergessen Sie nicht, daß es noch Fürsten in Deutschland gibt, und daß Ich einer von ihnen bin!«

Auf den König, fuhr Pina fort, sei der Herr Raveaux auch sonst nicht gut zu sprechen gewesen; so habe er gesagt, der König freue sich, wenn das Volk sich für den gotischen Baustil begeistere – den man übrigens ebenso gut einen französischen wie einen deutschen Stil nennen könne – weil er hoffe, es gewinne dadurch auch andern mittelalterlichen Institutionen Geschmack ab, wie er sie gerne wieder einführen wolle. – Des weiteren habe Herr Raveaux darüber sich aufgehalten, daß beim gemeinsamen Festmahl im Gürzenich die einen für einen Taler kalt, die andern für fünf Taler warm gespeist hätten. Solche Betonung der Unterschiede des Geldbeutels bei einer gemeinschaftlichen, der ersehnten deutschen Einheit und Freiheit gewidmeten Unternehmung wäre eine echt deutsche Geschmacklosigkeit. Geschmeckt aber hätte es deßungeachtet den einen wie den andern. – Was ihr aber am meisten Eindruck gemacht, sei, daß die Nationalversammlung einen großen Goldpokal aus Frankfurt mitgebracht, woraus zuletzt Kaiser Karl VII. bei seiner Krönung getrunken habe, und daß der König diesen Pokal beim Festschmaus mehrere Male auf Einen Zug geleert habe.

Ob sie sich etwa wundere, fragte Willemken, daß der König so viel vertragen könne. – Ja, das auch, gestand Pina, aber die Hauptsache sei doch die Erinnerung an den Kaiser Karl mit seinen melancholischen Augen ... Na, sie tue ja gerade, als ob sie selber zu tief in diese Augen hineingesehen hätte ... Nein, das freilich nicht, aber ob Willemken denn die schöne Geschichte nicht kenne, die Bettina von Arnim erzähle: wie bei jener Krönung Goethes Mutter als Backfisch sich ganz leidenschaftlich in diesen Kaiser und seine Augen verliebt habe. Wenn man nun bedenke, daß Goethe selber als Fünfundsiebzigjähriger sich ebenso leidenschaftlich und ebenso aussichtslos in die siebzehnjährige Ulrike von Levetzow verliebt habe, und daß es sich in beiden Fällen, bei der Mutter wie beim Sohn, um die größte, leidenschaftlichste Liebe des ganzen Lebens gehandelt, müsse man schon sagen, daß dies ein seltsames Spiel des Zufalls sei. – Oder ein gleich zuchtloses Spiel der Herzen, verbesserte der Kandidat.

Bei dieser ganzen Unterhaltung konnte Willemken aber das dumme Gefühl nicht los werden, als ob er sich im vorigen Frühsommer da oben in Jütland an ein rotblondes Mädchen gebunden hätte, die Tochter eines kinderreichen Pfarrhauses, in dem er ein paar Wochen einquartiert gewesen ... Wenn er sich auch in seinen Briefen seitdem immer mehr einer herzlichen Zurückhaltung befleißigte, so zeigten die ihrigen doch um so deutlicher, daß sie auf ihn wartete. Nun, eine Verlobung, erst recht eine heimliche und gar mit einem Mädchen in so entlegenem Ausland, war ja noch kein unzerreißbares Band. Denn im Grunde – warum sollte man in die Ferne schweifen, wenn das Gute, vielleicht das Bessere, so nahe lag. Gewiß, die rotblonde kleine Inge war ein süßes Gottesgeschöpfchen und die jütländischen Pfarrherren zumeist ganz vermögliche Leute. Aber schließlich – Pinchen und Regine hatten sich auch recht erfreulich entwickelt und alles in allem wußte man hier doch genauer, was man hatte.

Und da Willemken von den Ratschlägen der großväterlichen Pappschachtel nicht viel hielt, andererseits aber deutliche Winke Gottes in seinem Herzen noch nicht zu verspüren pflegte, beschloß er, wie so oft, auf äußerliche Weise eine Art »Gottesurteil« herbeizuführen. Würde es im weiteren Verlauf seines hiesigen Aufenthalts etwa sich zeigen, daß eines der beiden jungen Mädchen stark auf ihn reagierte, so sollte ihm das ein Beweis dafür sein, daß jener andre Liebeshandel da oben in Jütland nichts als eine lässige, mit der Eintönigkeit des Quartierlebens in rauher Kriegszeit wohl entschuldbare Verirrung des Herzens gewesen. Schließlich würde sich ja vielleicht mit Frau Maria Magdalenas Hilfe für die kleine Inge der Eintritt in Pastor Fliedners Diakonissenhaus ermöglichen lassen, wo sie ebensogut wie als Pfarrfrau eine Mitarbeiterin im Weinberge des Herrn sein könnte.

So reizvoll, wie er sich die Herbeiführung solches Gottesurteils vorgestellt, ließ sie sich nun freilich nicht an– schon nach einigen Wochen konnte er sich nicht verhehlen, daß er weder bei dem energischen Pinchen noch bei der zarten Regine irgendwelche Aussichten hatte. Mochte nun hier die Kommerzienrätin die Hand im Spiel haben oder nicht – er begann die beiden Schwestern als nichtssagende Gänschen zu empfinden und sich um so näher an ihre Großmutter anzuschließen, die ihn besser verstand.

Besonders gern ließ Frau Maria Magdalena sich von Willemken wiedererzählen, was Tholuck von dem vor einigen Jahren heimgegangenen »Abraham der Berliner Gläubigen«, dem Baron von Kottwitz, erzählt hatte, dem er selber seine Wiedergeburt verdanke.

Wie in diesem Manne das Eigentliche des Christentums Gestalt gewonnen, so daß mit der Selbstverständlichkeit und Wahllosigkeit einer Naturkraft Ströme des Lebens von ihm ausgegangen. Denn nicht das sei das Größte, daß der fromme Baron, wie nichts und niemand, den armen Spinnern und Webern seiner schlesischen Heimat geholfen, oder daß er in Berlin jahrzehntelang mit einem ganzen Volk von Armen und Elenden »in Not und Liebe« in einer ehemaligen Kaserne gehaust hätte. Auch nicht, daß er in den verschiedensten Kreisen Berlins und auf ausgedehnten Reisen charitative Liebe und Hilfsbereitschaft geweckt und gefördert und besonders der gebildeten Jugend den Sinn auch für jene innere Mission erschlossen hätte, die sich außerhalb aller Vereine und Anstalten im täglichen Leben betätige. Das Größte sei nicht, was Kottwitz geleistet, sondern was er gewesen: ein lebendiger und vollkommener Beweis für die Wahrheit des Christentums. Aber freilich: wie die Kirche die sichtbare Gemeinschaft der Gläubigen sei, so müsse sie als solche auch sichtbare und geordnete Werke der inneren Mission betreiben.

Schon voriges Jahr, als Willemken nach dem von England und Rußland diktierten Abschluß des Waffenstillstandes von Malmö zu seinen Büchern heimkehrte, hatte er auf Frau Maria Magdalenas Wunsch einen Umweg gemacht, um am Wittenberger Kirchentag teilzunehmen. Die improvisierte kraftvolle Rede, die Johann Heinrich Wichern aus Hamburg dort über die wenigen schon erkannten, die vielen und großen noch zu lösenden Aufgaben der inneren Mission gehalten, war nicht ohne Eindruck an ihm vorübergerauscht. Jetzt las er mit seiner alten Freundin Wicherns »Denkschrift an die Deutsche Nation« über dasselbe Thema und dann saßen sie stundenlang zusammen und ergingen sich in weiten und kühnen Plänen, wie sie miteinander den unterschiedlichen menschlichen Nöten und Lastern beikommen könnten. Ganz so klein, wie Wichern angefangen hatte, als er vor fünfzehn Jahren mit Mutter und Schwester und drei verwilderten Hamburger Knaben die strohgedeckte Hütte draußen vor den Toren bezogen, aus der in dieser kurzen Zeit das blühende »Rauhe Haus« mit seinen vielen Gebäuden und Gärten und Menschen geworden war – ganz so klein brauchten sie ja vielleicht nicht anzufangen. Und Willemken spielte nicht ungern mit dem Gedanken, in jungen Jahren schon die höchste Spitze einer großen und vielseitigen charitativen Unternehmung darzustellen und mit Fliedner und Wichern in einem Atem genannt zu werden. Einem Ruf als Hofprediger nach seiner Vaterstadt Berlin, von dem er seit seinem ersten Semester träumte, konnte er später immer noch folgen, ja wahrscheinlich würde solcher Ruf dann um so früher an ihn ergehen. Denn auf die Dauer brauchte er großstädtische, gebildete Zuhörer und eine große Kirche. Dafür, daß diese dann allsonntäglich bis auf den letzten Platz sich fülle, dafür würde er schon sorgen, wenn anders es richtig war, was ihm schon so mancher gesagt hatte, daß seine Art an den seligen Schleiermacher erinnere. Der war doch nur ein bucklicht Männlein gewesen und doch waren besonders die vornehmen Damen ihm nur so zugeströmt. Selbstverständlich würde er, Willemken, dann ebenso bescheiden bleiben wie jener, der, als man ihm einmal von der Anziehungskraft seiner Predigten sprach, gemeint hatte: »Ja, es sind hauptsächlich Studenten, junge Damen und Offiziere, die zu mir kommen. Die Studenten kommen, weil ich der Prüfungskommission angehöre; die jungen Damen kommen wegen der Studenten, und die Offiziere wegen der jungen Damen.«

So fand Frau Maria Magdalena ihn durchaus geneigt, ihrem Vorschlag gemäß, statt für die Zeit der Vorbereitung aufs zweite Examen eine Hauslehrerstelle anzunehmen, als Wicherns Gehilfe ins Rauhe Haus einzutreten, zumal sie andeutete, ihm nicht nur für Wicherns Unternehmung einen Beitrag, sondern auch ihm selber einen guten Zehrpfennig mitzugeben. Er zweifelte nicht, daß ihm als jungem Theologen in Hamburg manche begüterte Familie der christlichen Kreise sich erschließen würde. Mit welchem Erfolg, das mußte abgewartet werden, aber in jedem Fall konnte er dort aus bequemer Nähe die Geschichte da oben in Jütland so oder so zu Ende führen.

Gleichwohl unterließ er nicht, als er sich von den beiden nichtssagenden Gänschen verabschiedete, noch ein letztes »Gottesurteil« herbeizuführen, indem er zuerst Pinas und dann Reginens Rechte sehr lange in seiner warmen und weichen Hand behielt. Aber so scharf er auch aufpaßte, er verspürte doch bei keiner irgendein Fluidum. Und als er ernsten und entschlossenen Angesichts die hohe Treppe hinabschritt, warf die knabensäugende römische Wölfin dem schwarzgewandeten und dachschultrigen Kandidaten Ritter einen hohnvollen Blick nach.

Im Frühjahr 1852 sah der Kommerzienrat Wolf eines Abends sich vom katholischen Pfarrer besucht, der augenscheinlich erregt war. Pastor Hupperts weidete, jetzt von zwei Kaplänen unterstützt, seine rasch wachsende Herde seit fast vier Jahrzehnten, mit den Evangelischen im allgemeinen und Kranevoß im besonderen bei reichlichem Abstand guten Frieden haltend. Der kleine, lebhafte und ein wenig umständliche Herr, den man in jüngeren Jahren damit geneckt hatte, daß er durch sein Äußeres der Hinneigung zur Burschenschaft verdächtig erscheine, sintemal er in Kleidung, Antlitz und Haar deren Farben trage, begann, nachdem er unter dem Bilde des seligen Maire Platz genommen: Er habe in der vergangenen Nacht ein seltsames und aufregendes Erlebnis gehabt, worüber er heute mit sich zu Rate gegangen und dabei zu dem Entschluß gekommen sei, als Erstem dem Herrn Kommerzienrat diese höchst alterierende Sache mitzuteilen. Denn das Ganze als Beichtgeheimnis zu betrachten und es stillschweigend dem vielen hinzuzufügen, was er an fremder Schuld, Jammer und Elend schon im fürbittenden priesterlichen Herzen trage, sei nicht angängig, vielmehr habe er dem armen Sünder nach getaner Beichte ausdrücklich versprechen und geloben müssen, die Wahrheit an den Tag zu bringen.

Es handle sich, kurz gesagt, um den Mörder der beiden Franzosen: des Kapitäns Jeanbon und des Andern, dessen Name ihm entfallen sei. »Monsieur Besnard de Vivie« half der Kommerzienrat nach, und der Pastor fuhr fort: Er sei gestern abend zu nachtschlafender Zeit ins Krankenhaus gerufen worden (das die Stadt ja der Munifizenz des Herrn Kommerzienrats verdanke), weil dort ein Sterbender der Absolution und letzten Ölung dringlichst begehrt hatte. Herr Freundgen, der übrigens als Hausvater und Verwalter sein Metier zu verstehen scheine, habe ihm eröffnet, der Sterbende sei ein alter und auffallend großer Mann, der erst vor einigen Tagen sichtlich entkräftet aus dem Holländischen zugewandert, sich als Schmied und als Witwer legitimiert, auch einige Mittel bei sich gehabt und solche der Stadt als Äquivalent für die Aufnahme zugedacht habe. Die letzte Entscheidung dem Herrn Bürgermeister reservierend, habe er, Freundgen, den Mann vorläufig aufgenommen, der sich alsbald zu Bett gelegt, und nach Herrn Doktor Latscherts Prognose auch wohl kaum wieder aufstehen werde. Nach solchen Prämilinarien habe Freundgen ihn, den Pfarrer, in das Gemach geleitet, darin ein Nachtlämpchen gebrannt und alles aufs beste hergerichtet gewesen sei. Der Alte habe mühsam sich ein wenig aufgerichtet, ihn aus einem Gewirr von strähnigem grauen Haupt- und Barthaar mit großen brennenden Augen angeblickt und alsbald hastig und ängstlich gefragt, ob er vor der Beichte und zu deren Erleichterung noch etwas sagen dürfe. Er habe diese Frage selbstverständlich bejaht und dann in der Tat etwas höchst Merkwürdiges zu hören bekommen. – Der Pfarrer hielt inne und strich sich einige Male mit der noch ganz rundlichen Hand über das straffe und dichte Haar, dessen Gold die Jahrzehnte in Silber verwandelt hatten, – wie wenn er die Gedanken beruhigen und ordnen wolle. »Ja, etwas höchst Merkwürdiges,« fuhr er dann fort, der Alte habe ihm nämlich erzählt, und in solchen Momenten schwindle der gemeine Mann nicht leicht, daß ihm vor Jahr und Tag im Traum die heilige Jungfrau erschienen sei, die ihn zum Beichten ermahnt und ihm offenbart habe, er werde einen Beichtvater finden, der durch ein und dasselbe Sprüchlein gleichzeitig in zwei unterschiedlichen Sprachen ihr Lob zu verkündigen wisse. – Da nun sei ihm, dem Pfarrer, sofort der Zweizeiler eingefallen, den er in jungen Jahren auf seiner Romfahrt am Hafenturm eines alten Nestes an der genuesischen Küste gefunden und sich abgeschrieben, und so habe er dem Alten gesagt, er solle getrost sein und sich freuen, denn den Beichtvater habe er in ihm gefunden und das Sprüchlein laute:

In mare irato, in subita procella,
Invoco Te, nostra benigna stella.

Das sei zugleich Lateinisch, wie es einst die heidnischen alten Römer gesprochen und wie es gegenwärtig nur noch die heilige Kirche und die deutschen Gelehrten sprächen, und Italienisch, wie es heute auf seinen lauten Gassen und Märkten das Volk in Italien spreche, das sonst durchaus kein Latein könne. Denn Lateinisch und Italienisch seien zwei, wenn auch verwandte, so doch völlig getrennte und selbständige Sprachen, aus denen ein heiliger Zufall hier eine Anzahl gleicher Wörter zu gemeinsamem Lobe der Himmelskönigin zusammengefügt habe. Auf Deutsch aber laute das Sprüchlein, das ein rechter Trostspruch für Schiffer und Schiffbrüchige sei, etwa:

Auf wildem Meer, im Sturmgewüte,
Dich ruf ich an, du Stern der Güte.

Da habe ihm der Alte ganz beglückt zugelächelt und alsbald zu beichten begonnen: Er heiße Paulus Kradenpoel, sei aber kein Holländer, sondern in der Jülicher Gegend beheimatet, allerdings schon in jungen Jahren, nachdem er das Schmiedehandwerk erlernt, ins Holländische verschlagen und alldort seßhaft geworden. Nach dem Tode seines Meisters, der zuletzt auch sein Schwiegervater gewesen, sei dessen ländliche Schmiede nebst Ökonomie ihm und seiner Frau zugefallen und sie hätten nicht anders gedacht, als daß sie auf ihrem Erbe ihr Leben in Gesundheit und leidlichem Wohlstand zu Ende führen würden. Ihr Anwesen habe Waterbroich geheißen und heiße wohl auch heute noch so und sei einen Büchsenschuß von der kleinen Ortschaft Uykelhoven unweit der preußischen Grenze und der aus dem Preußischen ins Holländische führenden Landstraße gelegen. Sie hätten nur ein Kind gehabt, einen Jungen, der Jan geheißen und wegen seiner Leibeslänge schon früh verlange Jan genannt worden sei. Der habe gleichfalls das Schmiedehandwerk erlernt, alsdann ein paar Jahre in der Welt sich umgetan und endlich ihm bei der Arbeit geholfen. Jan sei ein braver Bursche gewesen, habe aber leider das Wildern nicht lassen können, wozu ja die Versuchung dort in den menschenarmen Niederungen freilich auch groß genug gewesen sei. Dieserhalb wären sie, Vater und Sohn, bisweilen hart aneinander geraten; davon abgesehen hätten sie aber alle drei stets im besten Einvernehmen gelebt, nur daß seine Frau mehr als recht gewesen dem Jan die Stange gehalten und ihm wohl des öftern einen erwilderten Hasen oder Rebhuhn heimlich angerichtet habe. Der Jan nun sei mit einem gewissen Aloys Butzheynen befreundet gewesen, einem Bauernsohn aus der Nachbarschaft, und mit der Zeit hätten die beiden angefangen, an demselben Mädchen Gefallen zu finden, an der blonden Trina, deren Mutter in Uykelhoven die Schankwirtschaft betrieben und manchen harten Gulden auf die hohe Kante gelegt habe. Doch habe solche gemeinsame Verliebtheit der Freundschaft der beiden Burschen keinen Abbruch getan, wie ja auch alle drei noch viel zu jung zum Heiraten gewesen. – Eines Tags, Anno fünfzehn im September, seien die beiden Burschen miteinander in einem Nachbardorf auf der Kirmes gewesen. Da sei der Aloys dann am Abend gegen zehn Uhr ganz blaß und schrecklich aufgeregt und atemlos zu ihm gekommen: Jan, der ein wenig früher von der Kirmes aufgebrochen, weil er noch ein kleines Jagdvergnügen vorgehabt, liege am Faldernbosch in seinem Blut, und es sei der reine Zufall, daß er, Aloys, auf dem Heimwege von der Kirmes in der Nähe vorbeigekommen und ihn stöhnen gehört habe. Er habe ihm auch, so gut er gekonnt, die Wunde verbunden und Jan, der sehr schwach gewesen, habe ihm gesagt, daß der Franzos, der die Jagd gepachtet und mit dem er ja schon öfters Händel gehabt, ihn angeschossen, daß er ihm aber dann doch noch entkommen sei und sich bis dahin geschleppt habe. Aber nun könne er nicht mehr weiter. – Er, Aloys, habe versucht, ihn auf den Buckel zu nehmen, was aber ganz unmöglich gewesen sei. – Während solcher Erzählung habe er, der Vater, schon angespannt gehabt, und dann seien sie, die Frau mit, zu dritt in die Nacht hinausgefahren, aber ihr Jan sei schon tot gewesen, als sie ihn gefunden. – Dann hätten die holländischen und preußischen Gerichte hin und her verhandelt, der Franzos aber, der gewiß hohe Gönner gehabt, hätte glaubhaft gemacht, daß er an jenem Septembertage sein Haus Duynberg gar nicht verlassen – kurz die Sache sei so im Sand verlaufen. Er habe sich gesagt, daß die Obrigkeit wegen eines geringen Burschen, der noch dazu im Ruf eines Wilderers gestanden, sich wohl den Kopf nicht zerbrechen und daß schließlich Holland wegen des Franzosen ja auch mit Preußen keinen Krieg anfangen könne. Seine Frau aber, die sehr an dem Jungen gehangen und ihm immerfort nachgetrauert, sei darüber hingestorben und er habe mit Wirtschafterinnen viel Not ausgestanden, bis er sich endlich eine verwitwete Schwester ins Haus getan. Und als die blonde Trina sich nach Maastricht an einen alten Gastwirt verheiratet, da hätten die einen gesagt, das sei, weil der Aloys in die Ostindische Kompagnie eingetreten, die andern aber, umgekehrt sei's richtig. Er wisse das nicht, und es gehe ihn auch nichts an. Derweilen sei die Zeit so hingegangen und das Jahr 1834 herangekommen und der September und die Kirmes. Seine Schwester sei frühmorgens mit der Magd in die Stadt gefahren, um allerhand einzukaufen, und er habe verdrießlich und in bittern Gedanken über sein verarmtes und zweckloses Leben in seiner Schmiede gearbeitet, als auf einmal ein Wagen mit zwei Schimmeln vorgefahren sei. Zwei Herren seien abgestiegen, die miteinander französisch gesprochen hätten. Der eine habe ihn ersucht, einem der Gäule ein Hufeisen wieder anzuschlagen und auch die andern gleich nachzusehen, auch sei an einem Rad etwas nicht in Ordnung. Der andre aber habe erklärt, dann wolle er inzwischen ins Dorf gehen, er sei noch nie in Holland gewesen und es gelüste ihn, den berühmten Schiedam zu kosten. Inzwischen habe er, der Schmied, sich an die Arbeit gemacht, während welcher er mit dem Zurückgebliebenen in ein Gespräch sich eingelassen. Als sich dabei dann herausgestellt, daß der Herr niemand anders als Monsieur Jeanbon von Haus Duynberg sei, dem in der Nachbarschaft die Jagd gehöre, da sei es ihm heiß über den Rücken gelaufen und er habe die Rede auf die Wilderer gebracht und gefragt, ob das wahr sei, daß der Herr vor langen Jahren einmal einen solchen erschossen. Jener habe hierauf nicht Ja und nicht Nein geantwortet, aber eine hochfahrende und harte Bemerkung gemacht, des Inhaltes, es solle ihm gegebenen Falls auf ein halbes Dutzend solcher Lumpenhunde nicht ankommen. Als der kleine alte Herr solchergestalt sich schuldig bekannt und dabei so wohlgepflegt und satt und vergnüglich vor ihm gestanden, recht wie einer, dem alles im Leben nach Wunsch gediehen und der nach Gott und dem Teufel nicht zu fragen braucht, da habe ihn plötzlich eine wahnsinnige Wut gepackt und er habe das garstige eitle Männlein mit seinem Schmiedehammer auf den Kopf geschlagen, daß es ohne einen Laut zusammengebrochen und auch richtig mausetot gewesen sei. Er sei wohl zuerst sehr erschrocken über seine rasche Tat, habe sich aber sofort gesagt, daß er nun den andern auch kalt machen müsse, was er dann nach dessen Rückkehr auch unverzüglich besorgt habe, und zwar auf dieselbe Weise. Und alsbald habe er die Leichen in die Schmiede getragen, das Gepäck ebenfalls, sodann die Tür verschlossen und das Fuhrwerk auf einen entlegenen Platz im Faldernbosch gelenkt und die Gäule dort angebunden. Später habe er etwa zwanzig Schritt vor der Schmiede an einem kleinen Buschwerk den Rasen abgehoben, eine tiefe Grube gegraben, die Toten und ihr Gepäck hineingetan, die Stelle sauber wieder hergerichtet, auch eine umherstehende Fuhre Holz davor aufgeschichtet und die übrige Erde im Gemüsegarten verteilt. Währenddessen sei es Abend geworden und die Schwester mit der Magd zurückgekehrt, und da habe sie ihn gescholten, daß er über der Arbeit das Essen versäumt und nun ganz krank aussehe, sie sehe wohl, daß sie ihn nicht allein lassen dürfe. Nach dem Abendbrot, als die Schwester und die Magd schon zu Bett gegangen, habe ei sich sacht davon gemacht, und das Fuhrwerk in der Dunkelheit eine gute Meile weit auf den Heimweg kutschiert, alsdann es seinem Schicksal überlassen.

Von dieser Zeit an aber sei es mit ihm immer mehr bergab gegangen. Gleich das nächste Jahr habe die schlimmste Mißernte gebracht, was er nicht nur in der kleinen eignen Ökonomie, sondern auch in der Schmiede verspürt, indem die Bauern mit neuen Arbeiten zurückgehalten, ihn auch langsam und schlecht bezahlt hätten. Als ihm dann Anno 44 auch noch die Schwester gestorben, da habe er sein Anwesen verkauft und sei zuerst nach Venlo, später nach Roermonde gezogen, aber Ruhe und Frieden habe er nirgends gefunden. Und vollends, nachdem ihm vor Jahr und Tag im Traum die heilige Jungfrau erschienen, habe sein Gewissen ihn umgetrieben ... Schließlich habe er sich auf den Weg gemacht, sein altes Anwesen und Uykelhoven, auch seine alte Heimat im Jülichschen noch einmal wiederzusehen, und dort habe es ihn gedrängt, das Haus Duynberg aufzusuchen, denn daß dieses inzwischen abgebrannt, habe er nicht gewußt. Auch habe er gehofft, bei der Mutter Gottes in Kevelaer den rechten Beichtvater zu finden. Auf selbiger Wanderschaft sei er krank geworden und nun könne er nicht mehr und sein letztes Stündlein sei da...

Der Pfarrer hielt inne, und der Kommerzienrat meinte, er begreife vollkommen, daß solche Beichte den Herrn Pastor alteriert habe, aber ob der Kradenpoel, oder wie er heiße, auch wohl wirklich die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit bekannt habe. Ja, versicherte der Pfarrer lebhaft, davon sei er fest überzeugt. Dann müsse er seinerseits befürchten, entgegnete Wolf, daß dieser schreckliche Schmied mit seiner Blutrache fehlgegangen sei. Ihn wenigstens wolle es das wahrscheinlichere dünken, daß es nicht der Franzose, sondern der Aloys gewesen, der den langen Jan ums Leben gebracht. Freilich habe es von Monsieur Jeanbon des öfteren schon geheißen, daß er einen Wilderer erschossen. Aber ernstlich habe das doch niemand geglaubt und jetzt zeige es sich ja, wer jenes Gerücht aufgebracht habe. – Der Pfarrer schlug sich mit der rundlichen Hand strafend an die Stirn: An diese Möglichkeit habe er allerdings nicht gedacht. – Übrigens habe er, fuhr er in seiner Erzählung fort, an dem Schmied getan, was seines heiligen Amtes gewesen und er vertraue, daß die befreite Seele jetzt vor einem milden Richter stehe, denn der ganz erschöpfte Alte sei noch angesichts des Sanktissimum entschlafen.


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