Friedo Lampe
Ratten und Schwäne
Friedo Lampe

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Nach hundert Jahren

Ein großer gelber Schmetterling schaukelte in die Stube und setzte sich auf den schwarzen Ebenholzrahmen des Bildes, in dessen Anblick der Prinz versunken war. Auf dem Bilde war ein junges Mädchen zu sehen, fast noch ein Kind, aus dunkelbraunem Grunde trat sie hervor, im hellblauen Seidenkleid, eine Korallenkette um den schlanken Hals, Lilien im schwarzen Haar, dem Beschauer eine purpurne Rose entgegenreichend mit traurig-bittendem Blick, oh, so bleich war ihr Gesicht und so dunkel die Augen, so voll Nacht, voll Schlaf, voll Angst. Aber ihre Nase stand lustig und keck aufgeworfen in dem traurigen Gesicht.

»Da stehst du ja schon wieder vor dem Bilde«, hörte er da eine Stimme hinter sich. Schnell drehte er sich um. Da stand der Großvater, auf einen Stock gestützt stand er da, im dunkeln Samtrock, und sein Kopf wackelte hin und her, daß die weißen Haare zitterten. »Du sollst sie nicht immer ansehen«, sagte der Großvater, »das hat noch keinem gut getan. Laß sie schlafen, laß sie schlafen und halte dich an die Lebenden.« »Ach, die Lebenden,« rief der Prinz, »all die albernen Gänse, mit denen der Vater mich verheiraten will. Wie ganz anders ist sie. Sie hat so schöne traurige Augen und eine so lustige Nase.«

»Die Hecke, die Hecke,« sagte der Großvater, »in meiner Jugend zogen sie hin, und als ich noch nicht geboren war, zogen sie auch schon hin, schon seit 161 langer langer Zeit, hundert Jahre soll das nun schon so gehen. Mein bester Freund, der Philipp, der muntere, gute Junge, kam nicht zurück. Die Hecke hat ihn mit ihren Krallen zerrissen. Ich selber bin auch einmal vernarrt in das Bild gewesen, bin hingegangen, aber als ich dann aus der Ferne die Hecke sah, wie sie da alle so hingen, die bleichen Gerippe – da bin ich leise wieder weggegangen. Oh, das verfluchte Bild, weg soll es, niemand soll es mehr sehen«. Und der Großvater reckte sich und nahm mit zitternden Händen das Bild von der Wand, der gelbe Schmetterling flatterte aufgeschreckt, und der Prinz rief: »Zu spät, zu spät, ich hab' sie gesehen, nimm es, zerstör es, hier ist sie, hier wohnt sie«, und er schlug sich auf die Brust, daß es dumpf dröhnte. »Unsinn, Wahnsinn,« schimpfte der Großvater, »vielleicht ist ja alles gar nicht wahr, vielleicht schlafen sie gar nicht, vielleicht sind alle längst tot, eine ganz unsichere Geschichte, von wem weiß man das überhaupt? Niemand war dabei, niemand kann sie gesehen haben – Phantastereien.«

»So redest du, weil du alt bist,« sagte der Prinz, »früher hättest du anders gedacht. Du hast nicht den Mut gehabt, sie zu holen, hast eine Frau genommen, die du nicht geliebt hast, feige bist du gewesen. Ich aber werde hingehen und sie finden«. Und der Prinz stürzte davon. Der Großvater sank in einen Ohrenstuhl und ließ das Bild klappend auf den Boden fallen. »Recht hast du,« murmelte er, »zu feige bin ich gewesen – zu vorsichtig, zu vorsichtig, und was hab ich nun gehabt von meinem langen Leben?« Und der gelbe Schmetterling schwang sich durchs offene Fenster aus der kühlen schattigen Stube in die warme fließende blaue Sommerluft.

162 In einem Hui legte Prinz Albert die weite Reise zurück. Er war ein wilder, leidenschaftlicher Bursche, und was er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, das führte er auch aus. Immer im Galopp auf dem braunen, derben, breitschenkligen Gaul, und der Prinz weit vornübergebeugt und nach vorn witternd mit dem knochigen, wetterharten, sonnverbrannten Gesicht, das Haar ganz kurz geschoren und im straff anliegenden grünen Samtwams mit gelben Lederstiefeln. Hallo, vorwärts! »Wo liegt Dornröschens Schloß? Dort? Danke! Vorwärts, vorwärts!

Als Prinz Albert das Schloß noch gar nicht sehen konnte, roch er bereits den Duft von Rosen, süß und schwer lag er in der Luft. Und dann trat er aus dem Wald auf eine Wiese, und vor ihm stieg die riesige Hecke in die Höhe. Es war ein sonniger, windstiller Nachmittag, kein Blatt, kein Gras, kein Vogel rührte sich – der sanfte blaue Himmel spannte sich über der Hecke, und die Hecke stieg hoch wie eine mächtige Kirchenwand, von allen vier Seiten stieg sie in die Höhe, ein Rosenheckenhaus, nichts von dem Schloß war zu sehen, und die Heckenwände blühten in schwerem, üppigem Laube, Bienen umsummten sie, Schmetterlinge umschwangen sie, und Rosen, Rosen prangten aus dem Laube, gelbe, weiße, rosa und schwarzrote, hunderte, tausende prangten und dufteten wild und scharf. Und als der Prinz näher herantrat, sah er in dem dornigen Gezweige, zwischen Rosen und Blättern, weiße Knochengerippe hängen, Arme, Finger winken, starrende Schädel grinsen. »Ach was«, sagte der Prinz und hob sein Schwert und wollte gerade in die dicke Hecke hineinhauen, da ging sie sanft auseinander – und vor ihm öffnete sich ein 163 runder, schattiger Gang. Ah, so ist das, dachte der Prinz, wenn ich mitten in dem Gang bin, dann schließt sich die Hecke, und die Dornen und harten Äste zerknacken, zerbrechen meine Glieder – trotzdem, ich wag's, Dornröschen oder tot! Und er ging mit angehaltenem Atem durch den schattendunkeln Gang, immer bereit, noch im Tode ringsherum alles mit seinem Schwert zu zerschlagen. Aber er ging und ging, und nichts geschah, und auf einmal stand er vor einem Burgtor. Ein Wächter, eisengepanzert, lag schlafend über dem Geländer der Zugbrücke, ein anderer auf den Boden gerutscht am Toreingang, im Arm die Hellebarde. Aha, die ersten Schläfer! Der Prinz rüttelte sie: »Aufgewacht, ihr Schlafmützen, Prinz Albert ist da!« Aber die Wächter rührten sich nicht, bewegten sich nicht, wie aus Stein gehauen lagen sie da. Ach, laß sie, und der Prinz ging durch den Torbogen in den Schloßhof. Da lag im milden Nachmittagssonnenschein eine nette Schlafgesellschaft. Pferde lagen da, alle Viere von sich gestreckt, und schliefen, vier mächtige gefleckte Doggen, Kopf auf den Pfoten, Burschen in grünem Jagdwams lagen neben den Pferden, die Bürste noch in der Hand, mit der sie sie gestriegelt hatten, und mitten zwischen ihnen der alte Jägermeister mit struppigem Graubart und dicker roter Weinnase und schnarchte, daß es hohl durch die Stille kratzte. Oben am Gesims saßen die Tauben und schliefen, den Kopf in die Flügel gesteckt, und hoch überm Schloß auf dem Rundturm hing schlapp und unbeweglich die purpurne Fahne in den sanften blauen Himmel – kein Lüftchen, kein Laut, nur aus allen Ecken und Richtungen ein leises Atmen, Schnaufen, Schnarchen, und dazu der süße, schwere, wilde 164 Duft der Rosen. »Hallo, hallo, aufwachen!« schrie Prinz Albert. Und als sich nichts regte, sprang er auf den alten Jägermeister zu und schüttelte ihn an der Schulter, kneipte ihn in die dicke Weinnase: »Nun wach doch auf, hast lange genug geschlafen, gebrochen ist der Zauber!« Jawohl, gebrochen ist der Zauber, da irrte sich unser Prinz, so einfach war das nicht, und ob er nun die Jägerburschen puffte und knuffte, den Pferden hüh, hüh in die Ohren schrie, die Doggen am Halsband riß, die schliefen alle weiter, und er konnte sie nicht einmal bewegen, so hart waren sie, ja, wahrhaftig, wie aus Stein. Ganz verzweifelt war Albert, ganz ratlos, und er ging weiter in das Schloß.

Gänge mit Schlafenden, Pagen, goldbetreßte Diener, Kammerfrauen mit großen Hauben, das lag und stand an die Mauer gelehnt und war in die Knie gerutscht und schlief, schlief, schlief – und keiner wollte sich wecken lassen. Da kam der Prinz in einen großen Saal, durch bunte, hohe Glasfenster fiel der Nachmittagssonnenschein auf eine große Festgesellschaft, die an einer langen Tafel saß und von der scheußlichen Schlafkrankheit mitten beim Essen überrascht worden war. Oben an der Tafel saß der König, hager und mit einer Adlernase, die Hände mit Messer und Gabel von sich gestreckt und zurückgelehnt im Sessel, den Kopf nach hinten, die Augen geschlossen. An seiner Seite die Königin, rundlich und üppig, den Kopf auf den Tisch gelegt neben ihrem Teller, auf dem ein Stück Gänsebraten fett glänzte. Und all die übrigen seitlich hängend, vornübergebeugt, vom Stuhl gefallen, Messer in den Händen, Servietten umgebunden, Gläser umfassend, einige noch mit vollen Backen – beim Kauen unterbrochen. Und am Boden die Diener, 165 hingesunken, hingeglitten, und daneben die Schüsseln mit Braten und Obst und Gemüsen und Salaten, die Kannen mit Wein umgekippt, und der Wein dunkel am Boden rollend. Und das Essen noch so frisch und leuchtend, als sei es eben aufgetragen, und dabei waren doch hundert Jahre vergangen! Auf einem Podium saßen die Musikanten, Geige, Flöte, Trompete im Schoß, mit hängenden Köpfen, gebogenen Rücken, dem Trommler war der Schlegel entglitten, und der Prinz sprang auf das Podium und schlug und wirbelte auf das Trommelfell, daß es dröhnte und donnerte wie der Weckruf am Jüngsten Tag: »Aufwachen, aufwachen, ho, hallo!« Und die Wirkung? Überhaupt keine: Totenstille, Sonnenschein, Schnarchen, Rosenduft. Das war ja zum Wahnsinnigwerden! Wie krieg' ich nur Bewegung in die Gesellschaft? Prinz Albert, der Springlebendige, dem nichts schnell und stürmisch genug gehen konnte, wie litt er unter dieser Erstarrung! Bin ich in einem Wachsfigurenkabinett auf dem Jahrmarkt? Wie ein elastisch federnder Tänzer flog er, sauste hin und her zu dem und dem und dem, rüttelte, schüttelte, stieß und kitzelte – vergeblich. Und wo ist Dornröschen? Sie war nicht in dem Saal. Ich muß Dornröschen suchen.

In der Küche die gleiche Bescherung: Küchenjungen flegelten sich unten neben dem Herd, eine Magd auf einem Stuhl war eingeschlafen beim Rupfen eines schwarzen Huhns, wirr hingen ihr die Strähnen über die Stirn und auf das Huhn, der Küchenmeister an die Wand gelehnt, die Hand am Ohr eines Küchenjungen, den er wohl gerade zausen wollte, und der Kopf des Jungen friedlich an seiner Brust ruhend, an der Wand steif und fest die Fliegen wie Nagelknöpfe. 166 Auch hier kein Dornröschen. Wie sollte sie auch hier sein? Eine Prinzessin in der Küche! Weiter. Durch viele Gänge kam er auf einen Innenhof, vor ihm der dicke Rundturm, auf dessen Spitze die Fahne hing, schlapp purpurrot im windstillen Blau. Hinauf auf den Turm, vielleicht entdecke ich Dornröschen irgendwo, vielleicht ist sie im Garten. Schnell über die alte steinerne Wendeltreppe, Moos quillt über die Stufen, wie riecht das muffig und modrig, die Spinnen schlafen fett und satt im Netz – eine Tür. Quietsch, knarr – da lag sie, da lag Dornröschen auf einem blauen Kanapee, genau wie auf dem Bilde sah sie aus, das hellblaue Kleid aus Seide, das blasse Gesicht, der Lilienkranz im glänzenden Ebenholzhaar, die Korallenkette um den schlanken Hals, die zarte durchsichtige Hand herunterhängend, eine goldene Spindel war ihr aus der Hand gefallen und lag am Boden. Und puh – dort die scheußliche alte Hexe am Spinnrad schnarchend, ein graues Lumpentuch um die strohigen weißen Haare geknotet, drei dicke Warzen auf der Backe. Komische Liebhaberei von Dornröschen, sich bei so einer alten Hexe aufzuhalten. Nein, war Dornröschen hübsch, und sie hatte wirklich die lustige, keck aufgeworfene Nase in dem melancholischen Gesicht. Nur leise wagte Prinz Albert zu rufen: »Dornröschen, Dornröschen – Prinzessin, wachen Sie auf!« Und als das nicht wirkte, drückte er leicht ihre Hand, eine kalte harte Marmorhand, schüttelte sie ein wenig an der Schulter. Es nützte nichts. Da stampfte Prinz Albert ganz unglücklich auf den Boden: »Prinzessin, Sie sollen aufwachen, Sie haben doch nun wirklich lange genug geschlafen!« Und er versuchte, sie vom Lager hochzuziehen. Aber steinern lag sie da, traurig 167 lächelnd, fast ein wenig schadenfroh schlief sie weiter. Es hat keinen Sinn, ich krieg' sie nicht wach. Lange sah sie Prinz Albert an, dann beugte er sich über sie und drückte auf ihren frischen, harten Mund einen langen, schmerzvollen Abschiedskuß. Warum auch nicht? Sie merkte es ja doch nicht. Aber da schlug Dornröschen auf einmal die Augen auf und sah ihn starr und wie wahnsinnig an. Von weit, weit her kam dieser Blick – aus einer langen, langen Nacht, aus vielen wirren Träumen, ganz schwarz war er und verständnislos, und so blickte sie ihn an, eine lange Zeit. Aber dann sprang sie plötzlich auf von dem Kanapee und schüttelte sich, daß die schwarzen, kurzen Haare flogen: »Mein Gott, was mach' ich denn? Was lieg' ich hier denn rum? Warum schlaf' ich denn am hellichten Tage? Und drunten sitzen sie und warten auf mich beim Essen. Heute ist doch mein Geburtstag. Wer sind Sie überhaupt? Wie kommen Sie hierher?« »Ich bin Prinz Albert von Seeland«, sagte der Prinz, »ich wollte Sie doch aufwecken, Dornröschen, ich habe den Zauber gebrochen.« »Dornröschen?« sagte die Prinzessin, »ich heiße doch Adelheid.« »Ja, im Volksmund heißen Sie Dornröschen, aber das muß ich Ihnen alles erklären . . .«

Und während sie hastig weiter sprachen, ging durch das ganze Schloß ein tiefes Brausen und Summen und Rauschen, ein Seufzen und Stöhnen und Gähnen, das schüttelte sich, reckte sich, streckte sich – und dann sprang das Leben auf einmal auf wie eine Fontäne, ein breiter Strom von Leben durchrauschte das Schloß von unten bis oben. Die Hunde im Hof begannen zu bellen, die Pferde zu wiehern und zu stampfen, die Hühner zu gackern, Jagdhörner schmetterten, die 168 Fliegen in der Küche putzten ihre Flügel und flogen summend über Braten, die Magd rupfte das schwarze Huhn, und der Küchenmeister schüttelte den Jungen am Ohr und gab ihm eine saftige Backpfeife. Und im Saal spielte die Kapelle einen aufrüttelnden Tusch und einen strammen Marsch, die Diener flitzten in die Höhe, ergriffen die Schüsseln und servierten weiter, König und Königin guckten ganz verdattert auf ihren Gänsebraten – warum essen wir denn nicht? Und die Gäste guckten sich mit offenen Mündern an: »Was war denn los? Was ist denn mit uns passiert? Wir haben doch nicht geschlafen? Was ist das für 'ne Hexerei?« Und draußen um das Schloß begann der Wind zu wehen, erst hohl sausend, leise, und dann immer stärker anschwellend, die purpurne Fahne auf dem Turm blähte sich und warf sich triumphierend in die Luft und knatterte, Wolkenballen zogen heran, das Blau verschwand, grau und schwer sammelte sich das Gewölk, drängte sich schwarz über dem Schloß zusammen. Und der König fragte: »Wo ist denn eigentlich Adelheid? Warum kommt sie nicht zum Essen? Wo steckt sie denn jetzt bei dem drohenden Unwetter?« Da ging die Tür auf, und Dornröschen trat mit Prinz Albert in den Saal. Und während es draußen dumpf donnerte und der erste Blitz zuckte und Regen erfrischend niederrauschte und der Blitz und der Wind und der harte Regen in die Rosenheckenwände schlug und peitschte und hämmerte, daß sie krachend zusammenstürzten und die Gerippe grell zerschepperten, sagte Dornröschen traurig und sanft und lächelnd: »Papa, darf ich dir Prinz Albert von Seeland vorstellen?«

»Von Seeland«, sagte der König, »so sind Sie der 169 Sohn meines alten Freundes König Bodos von Seeland?« »Nein«, sagte der Prinz leise, »das war mein Ururgroßvater«. »Was heißt das«, fragte der König. Fahl war das Licht in dem Saal und von Blitzen durchflattert. »Ach, Papa«, sagte Dornröschen, »bitte, erschrick nicht – wir haben ja hundert Jahre geschlafen«. »Was, was?« schrie der König, »sind heute denn alle wahnsinnig geworden – und nun noch dieser Gewitterradau – still, die Musik, man kann ja sein eigenes Wort nicht verstehen. Was sagst du da?« Aber da trat schon ernst und traurig der alte weise Schloßkaplan an den König heran: »Die Prinzessin hat wahr gesprochen. Majestät erinnern sich doch an den Spruch der bösen Fee – am fünfzehnten Geburtstag der Prinzessin wird sie sich mit einer goldenen Spindel –« Der König faßte sich an den Kopf: »O Gott, – und du hast dich heute – oder vielmehr vor hundert Jahren – nein, nein, ich kann es nicht fassen, ich werde verrückt«. »Ja«, sagte Dornröschen, »ich habe mich mit der Spindel gestochen – vor hundert Jahren, und Prinz Albert hat mich, hat uns alle heute aufgeweckt«. »Stimmt alles«, sagte der Prinz, »schon Ihre Kostüme lassen ja erkennen, daß Sie aus einer ganz anderen Zeit stammen. So was trägt man doch heute gar nicht mehr.« »Hundert Jahre, hundert Jahre«, jammerte der König, »das kann ich nicht glauben.«

Aber er mußte sich sehr bald davon überzeugen, daß alles seine Richtigkeit hatte. Inzwischen hatte sich nämlich blitzschnell die Kunde im Lande verbreitet, daß das alte Rosenheckenschloß wieder aufgewacht war. Nun waren aber hundert Jahre vergangen. Neue Könige hatten das Land beherrscht, und jetzt war gerade König Siegwart III. an der Regierung. »Das 170 wär ja noch schöner, wenn das alte Gespenst wieder lebendig würde!« rief er. Und Dornröschen und ihre Eltern und Prinz Albert hatten noch nicht den Gänsebraten ganz vertilgt, da sprang abermals die Tür auf, drei gelbgekleidete Herolde bliesen in die Fanfare, und ein Bote von König Siegwart trat vor und überbrachte die herzlichsten Glück- und Segenswünsche zu dem fröhlichen und gesunden Erwachen. Im übrigen lasse König Siegwart verkünden, daß Dornröschens Vater, König Hermelin, im Augenblick allen Regierungsansprüchen zu entsagen habe, andernfalls würde er sofort mit einem großen Heer heranrücken, sein Schloß umzingeln und den König und seinen Anhang, wenn er ihn dann zu fassen bekäme, in einen Schlaf versetzen, der nicht nur hundert Jahre dauern solle, darauf könne er sich verlassen, ha, ha, ha, er halte in seinem Lande auf Ordnung und Gesetz und dulde keinen solchen Teufelsspuk . . .« »Was soll ich denn machen«, stöhnte König Hermelin, »ich habe doch kein Heer, ich bin dem Lump ja auf Gnade und Barmherzigkeit ausgeliefert.« »Mit nichten«, rief Prinz Albert, »lieber Schwiegerpapa – Ihr erlaubt doch, daß ich Euch schon jetzt so nenne? – ich eile in mein Reich zurück, um binnen kurzem mit einem mächtigen, unbesieglichen Heere zurück zu sein. Du versuche so lange, dich in der Burg zu halten und kapituliere nicht, Dornröschen, warte auf mich.«

Nun, man sieht, das Leben war schon wieder so richtig in Schwung gekommen und ging munter seinen Gang. Wir können deshalb getrost von Prinz Albert und seinem Dornröschen Abschied nehmen und sie ihrem Schicksal überlassen, denn an Bewegung und turbulenten Ereignissen wird es Prinz Albert nun 171 nicht mehr fehlen. Es würde uns auch ins Uferlose entführen, wenn wir noch von dem, ich glaube neunjährigen Kriege berichten wollten, der sich jetzt zwischen Prinz Albert und König Siegwart entspann. Ja, Dornröschen mußte noch recht lange auf ihren Albert warten. »Aber was macht das?« sagte sie, ihr hundertjähriges Alter hatte sie ungewöhnlich weise gemacht [ein reizender Kontrast übrigens zu ihrer kindlichen Jugend!], »was macht das schon aus, die paar Jährchen, wo ich nun schon so lange auf ihn gewartet habe.« Dank Prinz Alberts Feuergeist, Tapferkeit, Feldherrntalent und Entschlossenheit gelang es ihm endlich, König Siegwart niederzuzwingen – König Hermelin erlebte leider nicht mehr diesen Freudentag, der Arme, er konnte sich einfach nicht in der neuen Zeit zurechtfinden – und so kann es denn doch noch am Schluß dieser Geschichte heißen, genau wie im Märchen: »Und da wurde die Hochzeit des Königsohnes mit Dornröschen gefeiert, und sie lebten vergnügt bis an ihr Ende«. 173

 


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