Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Im »Schwarzen Walfisch« ging es hoch her. In der Ecke an dem großen Rundtisch saß Hubert Wanderer, der Filmregisseur, mit seinen Mitarbeitern und besprach in hitzigen Debatten seinen neuen Film »Der letzte Walzer«. Groggläser dampften, Tabakswolken umwogten die Köpfe. Lizzi Lorena, der berühmte Star mit den verführerischen schwarzen Ponylocken, rief: »Hubert, wenn du mir auch noch das Chanson vom Schampus streichst, dann zerreiß ich meinen Vertrag.« Hans Troll, der Musiker, sagte: »In vier Wochen soll die Musik fertig sein? Schindluder treibt man mit einem. Wie soll ich da denn anständige Musik machen können?« Willy Richter, der Liebhaber des Films, flüsterte Hubert Wanderer zu: »Bei Großaufnahmen mein Gesicht möglichst im Profil – wie oft soll ich das denn sagen?« Freddy Haberkorn, der Cutter, saß still da und lächelte vor sich hin; er dachte: blast euch nur auf, das Wichtigste ist ja doch der Schnitt. Das gibt dem Film Rhythmus und Form. Aber wer weiß das? Ich bleibe immer anonym.
Albert, ein junger Dichter, der am Drehbuch mitarbeitete, hatte lange brütend dagesessen und hastig einen Grog nach dem anderen heruntergeschlürft; in ihm wogte es, warm und pochend rann es ihm durch die Glieder, das heiße Getränk trieb seinen Geist mächtig an, und plötzlich stand er auf, er, der sonst so Schweigsame und Schüchterne, und rief zum Erstaunen aller: »Da streiten Sie sich nun um Kleinigkeiten, aber das 144 Entscheidende seht Ihr nicht mehr! Zwei Jahre arbeite ich nun am Film, zu dem mich eine unglückselige Neigung hingetrieben. [»Pinkepinke«, kicherte Lizzi Lorena]. Nein, Fräulein Lorena, es war nicht das Geld, es waren Ideale. Ach, das verstehen Sie nicht. Aber ich bin schwer enttäuscht. Ja, Herr Wanderer, ich muß es einmal sagen. Ihr habt ja keine Ahnung, was der Film bedeutet, was man aus ihm machen kann. Oh, diese herrliche neue Form, Ihr kommt ja von der Bühne nicht los, vom Theater, laßt doch einmal den Wind frei durch die offene Natur brausen, damit er all euren Kulissenkram wegfegt. Nicht mehr diese niedlichen, geradlinigen, dünnen Handlungen. Symphonien in Bildern müßte man komponieren, Träume, Phantasien, schwelgerische Bild-Bachanale! Ach, ganz, ganz andere Filme müßte man machen!« »Was denn für Filme ?« fragte Hubert Wanderer, der Regisseur, mitleidig lächelnd, »bitte, mein Lieber, erklären Sie sich doch einmal deutlicher.« »Das Wichtigste habt Ihr nicht begriffen«, rief Albert, »und doch ist es das Einfachste und Elementarste. Was ist das Wesen des Films? Was kann nur er allein? Raum und Zeit überwinden! Uns aus diesem entsetzlichen Kasten von Raum und Zeit befreien, uns wenigstens für Augenblicke das Gefühl unbeschwerten Schwebens, eines freien unbegrenzten Götterdaseins geben. Film, das sollte etwas Mystisches, Kosmisches sein –, und Ihr, Ihr dreht den ›Letzten Walzer‹!« »Das klingt ja alles ganz schön und verlockend«, sagte Hubert Wanderer, »aber nun sagen Sie uns endlich mal, wie Sie sich einen solchen Film denn vorstellen. Einzelheiten, bitte, Konkretes –.« »Das ist natürlich schwer«, sagte Albert, »sowas im Augenblick zu improvisieren. Ich fühle 145 wohl, wie es sein müßte, aber ich kann es noch nicht ganz deutlich fassen – mein Gott, wie soll ich Ihnen das denn klar machen? Ich stelle mir einen Film vor – einen Film –« Albert hob suchend und deutend die Hand und schaute verzückt über all den Qualm weg in die Ferne.
»Immer dasselbe«, sagte Hubert Wanderer, »das typische Anfängergequassel. Großspurig und inhaltlos. Nee, nee, mein Lieber, arbeiten Sie man erst mal brav am ›Letzten Walzer‹, ich bin noch gar nicht zufrieden mit dem, was Sie da gemacht haben. Dieser unmögliche Schluß! Lernen Sie erst mal unser Handwerk kennen, dann werden Sie mehr Respekt davor haben, dann vergeht Ihnen alle Mystik und Phantasterei.« »Ja, begreift denn keiner, was ich meine?« rief Albert und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch, schwankend, und blickte verständnisflehend in die Runde. Aber er sah nur ironisch lächelnde, peinlich berührte, ahnungslose Gesichter, und er hörte, wie Lizzi Lorena dem schönen glatten Willy Richter zuflüsterte: »Ach ja, der Grog, der Grog.« »Na, denn guten Abend«, sagte Albert und wandte sich schroff zum Gehen. »Nacht«, sagte Hubert Wanderer, »ist auch wohl am besten, Sie schlafen sich erst mal ordentlich aus; morgen früh, mit klarem Kopf, sprechen wir uns wieder, aber pünktlich, mein Lieber, um zehn. Und vergessen Sie nicht Raum und Zeit!« »Pack«, murmelte Albert. »Hier ist ein Brief für Sie abgegeben«, sagte die Garderobenfrau, als Albert seinen Mantel anzog. Er öffnete und las: »Teurer Freund, Dank, daß Sie so feurig für die heilige Sache eingetreten sind. Versäumen Sie nicht heute abend meine Vorstellung um elf Uhr! Dr. Kinowa, Direktor der 146 ›Laterna magica‹, Fasanenstr. 5.« Seltsam – Kinowa? Kommt mir so bekannt vor. Oder ist das eine Verwechslung? Na, wir werden ja sehen. »Wo ist die Fasanenstraße?« fragte Albert. »Wenn Sie rauskommen doch gleich die erste Querstraße links«, sagte die Garderobenfrau.
Ungestüm bog Albert um die Ecke, der Novembersturm blies scharf und brutal, Albert mußte seinen großen Schlapphut festhalten, da peitschte ihm auch schon Regen ins Gesicht, schnell vorwärts zu diesem Kino »Laterna magica«, wollen doch mal sehen, was dahinter steckt. Vielleicht 'ne Verbrecherfalle? Quatsch! Man kann ja die Hand vor Augen nicht sehen, ah, da über dem Kellereingang, wahrhaftig, ein bläulich glimmendes Transparent: »Laterna magica.« »Nun kommen Sie doch rein«, rief eine helle, frische Mädchenstimme, eine Hand faßte ihn leicht und fest am Arm und zog ihn die Stufen hinunter ins Haus, in den Keller. Ein kleiner dämmriger Vorraum, angefüllt mit dick vollhängenden Garderobenständern. Ein junges Mädchen in einem zarten, duftigen Gazekleid mit blonden, bis auf die Schultern herunterfallenden Locken, einer großen, weißen Seidenschleife im Haar und strahlenden blauen Augen und einer kecken Stupsnase stand vor ihm und sagte: »Schnell, den Mantel ab. So. Wir warten ja schon lange auf Sie. Alle sind da, nur Sie fehlten noch. Aber ein kleines Schlückchen sollen Sie trotzdem noch haben. Kommen Sie.« In einem kleinen Nebenraum stand eine Theke mit vielen Flaschen und Gläsern, und das Mädchen mixte aus verschiedenen Flaschen ein Getränk und kredenzte es Albert. Der Raum war sanft von Lampions erhellt, und Papierguirlanden zogen sich an der Decke hin. 147 Süß und brennend rann der Trank durch Alberts Kehle. »Willkommen bei Kinowa«, sagte das Mädchen, »noch ein Gläschen? Das macht Stimmung, das macht Laune. Ja, Doktor Kinowa hat mich beauftragt, für Ihr Wohl zu sorgen – er ist ja so begeistert von Ihnen. Wenn Albert nicht kommt, macht mir der ganze Abend keinen Spaß, hat er gesagt. Na, das ist wohl leicht übertrieben, aber immerhin, Sie bedeuten ihm viel, sehr viel. Noch ein Gläschen?« Mit jedem Glas fühlte sich Albert wohler und freier. Sein Ärger war vergessen, Heiterkeit und Freude und eine schwebende Klarheit erfüllten ihn, und er sah das Mädchen lachend an und fragte: »Wer sind Sie denn nun eigentlich?« »Anita – ja, kennst du mich denn nicht mehr, Albert?« »Ja, ja, ich kenne Sie, ich kenne dich –aber woher?« »Papperlapapp«, sagte Anita, »nun komm flink in den Saal.« Und sie sang leise und schnippisch:
»Sind wir denn nicht alle verwandt?
Sind wir denn nicht alle bekannt?
Ach, nun tu dich doch nicht so,
ach, nun sei doch endlich froh.«
Und sie traten in einen großen Saal. Da war ein Menschengewoge, ein Lärmen, Lachen, Rufen! Unzählige rote, gelbe und blaue Lampen, Papierguirlanden, Fahnen und Wimpel, ein Werfen von Papierschlangen und Konfettiwolken –, und auf einem Podium an der Wand saß eine smarte, befrackte Jazzkapelle und spielte in scharfem Rhythmus, und die Menschen, alte und junge, reichgekleidete und ärmlich aussehende, tanzten miteinander, und immer wieder klang durch all das Rufen und Schreien der Name »Kinowa«, und die hintere Seite des Saales war durch 148 einen großen schwarzen Samtvorhang abgeschlossen, der mit Silbersternen bestickt war. »Ich denke, ich soll eine Vorführung sehen, einen Film«, sagte Albert enttäuscht, »und nun wird getanzt?« »Erst tanzen, dann schauen,« rief Anita, »tanzen und schauen, tanzendes Schauen.« Und sie riß Albert in das Gewühl hinein, und sie schwammen mit in dem Gewoge, und während sie tanzten, hörte Albert Anitas Singsang an seinem Ohr:
»Aus dem Tanzen, aus dem Meer
kommen ja die Bilder her,
fließen, strömen ohne Zahl,
folge mir ins Bachanal!«
Und so tanzte Albert eine Weile mit Anita, willenlos hin und her getrieben, glücklich. Da verstummte mit einem Male die Musik. Die Paare blieben abwartend stehen, ein dunkler Gong erklang, ein großer schlanker Herr in schwarzem Frack und Zylinderhut trat aus dem schwarzen Samtvorhang mit den Silbersternen hervor, nahm den spiegelnden Hut ab, verbeugte sich elegant und lächelte ein wenig ironisch mit seinem bleichen Gesicht in den Saal – seine dunklen Augen sahen träumerisch über die Menschen hin. Begeistertes, langanhaltendes Klatschen. »Wer ist das?« fragte Albert. »Papa«, sagte Anita. »Dein Vater?« fragte Albert. »Wer ist das denn?« »Du kennst doch Kinowa«, sagte Anita. »Kinowa?« sagte Albert, »das ist Kinowa? Und du bist seine Tochter?« »Albert, das weißt du doch«, sagte Anita. Das war also Kinowa – ja, ja, das war er – so sah er aus, natürlich, er, der Geist des Kinos, schwarz wie die Nacht, bleich wie der Mond, die Augen voll Traum und Schlaf, ein Zauberkünstler, ein Magier, ein Dichter . . . »Ich danke Ihnen, daß Sie 149 alle meiner Einladung gefolgt sind«, sagte Dr. Kinowa mit klarer metallener Stimme. Rufe: »Hoch, Doktor Kinowa! Wer sollte da wohl nicht kommen, wenn du rufst!« »Danke, danke,« sagte Doktor Kinowa, »besonderen Dank Ihnen, Albert, für Ihr Erscheinen. Habe ich Ihnen doch im geheimen und ohne daß Sie es wissen, so viele wertvolle Winke und Einfälle zu danken bei der Herstellung meines neuen Filmes ›Die Vermählung der Welten‹, den Sie alle heute abend zum erstenmal sehen werden. Ich glaube, es ist mein bester Film, der alles zusammenfaßt, was ich bis jetzt erstrebt und erträumt habe. Aber genug der Worte, laßt Bilder sprechen und Töne! Urteilt selbst über das Gelingen. Ich wünsche Ihnen allen einen recht vergnügten, genußreichen Abend. Musik!«
Die Jazzkapelle spielte einen wirbelnden Tusch, dann klatschte Doktor Kinowa dreimal in die Hände, und der Samtvorhang glitt auseinander – da zeigte sich die zweite Hälfte des Saales – ein Zuschauerraum mit vielen Stuhlreihen und hinten an der Rückwand die Leinwandfläche. Die Gäste liefen hinüber und setzten sich, Albert unter ihnen neben Anita, die ihn begeistert in den Arm kniff: »Nun geht es los, nun geht es los!« Die Jazzkapelle verwehte, der Samtvorhang schloß sich langsam hinter ihnen, auf der Leinwand erschienen feurige Kreise und Sterne und drehende Räder wie bei einem Feuerwerk, und die Kreise und schwingenden Linien und Figuren umtanzten einander, schmolzen zusammen und entfalteten sich in flammenden Blüten im Takt einer glockenklaren Sphärenmusik, die aus der Leinwand tönte, und dann dämmerten auf einmal Bilder auf aus den Flammenornamenten – Bilder vom Meer, von steilen Gebirgen, von Wäldern, wogenden 150 Kornfeldern und fernen Städten, von der Südsee und vom Nordkap – auf Tahiti badeten die braunen, schlanken Gestalten, blumengeschmückt, am Strand – die Lappen zogen mit ihren Renntierherden durch die weiten Schneefelder – Kamele schaukelten mit ihren Beduinenreitern den Palmenwipfeln einer Oase zu – in Deutschland am Rhein kelterten die Winzer auf den Rebhügeln den Wein – holländische Jungen liefen Schlittschuh auf dem Zuidersee – in Spanien in einer Schenke wirbelte die Tänzerin castagnettenklappernd die Tarantella – die Toreros zogen mit Marschmusik in die Stierkampf-Arena – ein Dampfer stampfte durchs Rote Meer, und die Passagiere lagen erschöpft auf dem Verdeck in Liegestühlen und schmorten in der Sonnenglut – ein reicher Chinese von Peking wurde in der Sänfte zum Teehaus getragen, und die Geisha empfing ihn im Schein der Papierlaterne auf den Treppenstufen mit tiefer Verbeugung – die Glocken von St. Peter läuteten, die Orgel dröhnte und die Menge drängte sich durch die Portale – auf dem Montmartre flanierten die Pariser in der weichen Abenddämmerung – auf dem Kurfürstendamm saßen die Menschen an den Tischen vor den Restaurants im Licht der elektrischen Lampen, und im Wannseebad lagen sie dichtgedrängt zu Tausenden am Strand und sonnten sich, und auf dem See glitten die Segelboote und Yachten hin – in Tokio feierten sie das Blütenfest, und aus dem Schneegipfel des Fujiyama stieg leichter Rauch in den klaren Frühlingshimmel.
All diese Bilder schwebten in schnellem Zuge, in weichen Überblendungen, im Klingen der Musik und begleitet von einem unsichtbaren Chor an den Zuschauern vorüber. Und der Chor sang: 151
Ȇberall sind wir zu Haus,
Erde, deine Macht ist aus,
fliegen blitzschnell hin und her,
Erde macht uns nicht mehr schwer.
Alles ist uns nun bekannt,
Näh' und Ferne, Meer und Land,
Wände fallen, Schranken schwinden,
Welten wollen sich verbinden!«
Und der Chor schwoll immer mehr an:
»Aber nun macht euch bereit,
überwindet auch die Zeit!
Alles sei auf einmal da.
Nun erblickt nach Götter Art
eine große Gegenwart!«
»Herrlich,« rief Albert entzückt, »das war's ja, was ich meine. Das ist ja mein Film, nach dem ich so lange gesucht habe. O Gott, daß es das gibt!« »Nun paß doch auf, nun guck doch hin!« sagte Anita. Feierliche Trompeten-Musik: Cäsar zog im Triumph in Rom ein, hoch auf dem Siegeswagen, in langem Zuge hinter ihm die gefangenen Gallier – tragische Klänge, eine klagende Syrer-Flöte: Cleopatra winkt der Sklavin, die ihr einen Korb reicht, eine Schlange windet sich heraus, sie hält sie an die Brust und stirbt an ihrem Biß – ein gläsernes Menuett: die Hofgesellschaft spielt im Park von Versailles Blindekuh, Marmorfaune grinsen aus den Taxushecken, Ludwig XIV. sitzt auf der Terrasse und trinkt Schokolade – Attila fegt mit seinen Hunnenhorden durch die Länder und steckt Dörfer und Burgen in Brand – der Suezkanal wird eingeweiht, Festansprachen, Militärmusik, 152 Böllerschüsse, Prunkaufführung von Verdis »Aida« – die Wettläufer im Stadion von Olympia rasen unter dem Jubel der ungeheuren Menschenmenge durch den weißen Sand, der Siegerknabe empfängt aus der Hand des Kampfrichters den Lorbeerkranz, der Chor singt eine Hymne von Pindar – Luther ersteigt mit Riesenschritten die Treppe der Schloßkirche von Wittenberg und haut mit gewaltigen Schlägen die Thesen an die Tür – Klaus Störtebecker und seine Gesellen werden auf dem Schinderkarren zum Richtplatz gefahren, doch ehe man ihm den Kopf abschlägt, stößt er einen ingrimmigen Fluch aus – Nero steckt Rom in Brand und steht auf dem Dach seines Palastes und greift in die Lyra und singt mit fetter Tenorstimme über das Flammenmeer weg vom Untergang Trojas – der Vesuv bricht aus, Pompeji und Herculanum werden unter den Lavamassen und dem Feuerregen begraben, Panik, Schreien, wildes Rennen, dann Stille, zerborstene Säulen, Ruinen, Rauch, der verweht, Gras wächst über die Trümmer, der Hirt mit seinen Schafen zieht durch die schöne Einöde, flöteblasend, das Meer rauscht an die Felsen, der Wind weht, die Wolken ziehen dahin, die Sonne geht auf und unter im Meer, und dann kommt eine Zeit, da stehen Hotels am Strand, und die Reisenden gehen mit dem Fremdenführer durch die Trümmer und blicken voll Erstaunen auf die halbverblichenen Wandmalereien und zerbrochenen Vasen – der Alte Fritz sitzt an der Tafelrunde von Sanssouci, Sonnenflimmer durch die geöffnete Terrassentür und plaudert, während er dem Windspiel ein Stück Zucker zuwirft, witzig und scharf mit dem häßlichen, boshaften Voltaire – Columbus steht am Bug der Santa Maria, Rufe vom Mastkorb »Land, Land«, die Küste 153 taucht auf, Indianer stehen am Strand und sehen mit Neugier und Grauen dem herannahenden Schiffsungetüm entgegen – das Volk erstürmt die Bastille, Robespierre und Danton sprechen im Konvent – Kepler steht auf seinem einsamen Turm und blickt durch das Rohr in den gestirnten Nachthimmel – die erste Eisenbahn fährt von Nürnberg nach Fürth – in Manhattan schießen die Wolkenkratzer in die Höhe – Flugzeuge umkreisen das Straßburger Münster – Rennautos knattern flitzend über die Avus – der Steinzeitmensch zimmert den ersten Wagen – Sklavenhändler überfallen ein Negerdorf in Afrika – der Sohn der Sonne sitzt auf seinem Thron und empfängt die Gesandten aus sieben Provinzen, dann singt ihm Li-tai-pe ein Lied vor von der Vergänglichkeit alles Irdischen – Philipp II. läßt sich von Velasquez malen, unterschreibt drei Todesurteile von Ketzern und dann geht er in den Park und schaut sich eine feenhafte Aufführung von Calderons »Das Leben ein Traum« an, das Stück wird im Freien aufgeführt, unterm Sternenhimmel, auf einer Insel im See, Fontänen rauschen ins Spiel, Geigen und Flöten singen aus den Gebüschen, bengalische Lichter flammen auf – Atlantis, die Märchenstadt, wird von den Fluten überschwemmt und versinkt im Meer, da liegt sie nun auf dem Meeresgrund, einsam stehen die Häuser, Paläste und Kirchen, riesige Seegewächse überwuchern sie, Fische schwimmen durch die stillen Straßen, und die Strömung bringt die Glocken zum Schwingen, und sie klingen hallend aus der Tiefe und dunkel übers Meer – ein Fischerjunge sitzt am Strande, es ist Abenddämmerung, die Möven fliegen schreiend über die glucksende Tiefe, und die Glocken hallen dunkel herauf. –
154 Und wieder erscholl der unsichtbare Chor, traurig und tröstlich:
»Bilder, Bilder, Leben, Träume,
das verfliegt wie leichte Schäume.
Leben ist ja nur ein Traum,
was einst schwer war, fühlst du kaum,
und am End' bleibt nur zurück
Weltmusik und Schauens Glück.«
Aber dann schwang sich der Chor wieder freudiger auf:
»Erde, wirst mir viel zu klein,
sieh, es muß geschieden sein,
aufwärts nun mit meinem Ball
steige ich ins große All.
Räume weichen, Schranken schwinden,
Welten wollen sich verbinden!«
»Das ist ja Doktor Kinowa,« rief Albert, »das ist ja Doktor Kinowa! Was will er denn?« »Fliegen! Fliegen!« rief Anita, »fühlst du es denn nicht? Siehst du es denn nicht?« Ja, da war Doktor Kinowa in höchsteigener Person auf der Leinwand erschienen mit Frack und Zylinder, und er stieg in den Hängekorb eines großen Ballons, grüßte noch einmal zylinderschwenkend und spöttisch lächelnd zur Erde, zu den Zuschauern zurück und entschwebte in die Lüfte – und der Chor sang:
»Aufwärts nun mit meinem Ball
steige ich ins große All!«
Schnell schrumpfte die Erde zusammen, wurde kleiner und kleiner, war nur noch eine Apfelsine, ein Fleck, ein Punkt, zerlöste sich in Nichts – und Doktor 155 Kinowa flog dahin durch den Äther über Wolkengebirgen, höher und höher, am Mond vorbei mit seinen bleichen toten Kraterlandschaften, an Mars, Venus und Orion, an drehenden Sonnen und Planeten vorbei, immer schneller und schneller, Kometen zischten vorüber, Sterngruppen tanzten hell klingend ihre Reigen, und die Sternentänze verbanden sich zu Kreisen und Figuren, zuletzt sah man nur noch gleißende, glühende Lichtfiguren und -Schwingungen und Feuerräder, und die Feuerräder zerplatzten, zersprühten, zerflammten in üppigen Funkengarben und erloschen zischend, und der Chor sang jubelnd und in höchstem Triumphe:
»Wände fallen, Schranken schwinden,
Welten wollen sich verbinden.
Leben ist ja nur ein Traum,
was einst schwer war, fühlst du kaum,
und am End' bleibt nur zurück
Weltmusik und Schauens Glück.
Feuer drehen sich um Feuer,
wagt das letzte Abenteuer
und erblickt nach Götter Art
eine große Gegenwart!
Überall sind wir zu Haus,
Erde, deine Macht ist aus,
fliegen blitzschnell hin und her,
Erde macht uns nicht mehr schwer.
Näh und Ferne, Meer und Land,
alles ist uns nun bekannt.
Aufwärts nun mit meinem Ball
steige ich ins große All.
Räume weichen, Schranken schwinden,
Welten wollen sich verbinden!«
156 Die Leinwand verdunkelte, der Chor verhallte, das Licht ging an im Saal, die Zuschauer sprangen, wie aus Träumen aufgeschreckt, von ihren Sitzen. Wütendes Geklatsche: »Bravo, bravo, hoch Kinowa, das war ja kolossal, das war ja –« Doktor Kinowa erschien wieder auf der Bühne vor der Leinwand – er verbeugte sich, er dankte winkend und sagte: »Na, war das ein Filmchen? Was?« Dann wies er nach hinten: der Samtvorhang öffnete sich wieder zur anderen Saalhälfte, die Jazzkapelle setzte hart und hämmernd ein, und Doktor Kinowa rief hell und metallen: »Kinder, Kinder, tanzt wie die Sterne, bleibt in Bewegung, das hab ich gerne!« Und die Zuschauer folgten seiner Aufforderung und fluteten in den Nebensaal, der Samtvorhang schloß sich wieder hinter ihnen, und sie begannen, noch berauscht von dem genossenen Bildergewoge, trunken durch den Saal zu tanzen. Albert tanzte mit Anita. Da sah er Doktor Kinowa in einer Ecke stehen mit untergeschlagenen Armen und starr und brennend über das Gewühl hinschauen wie ein Marionettenspieler, ein Magnetiseur, der das Spiel seiner Geschöpfe betrachtet und lenkt. Albert ließ Anita los und stürzte zu ihm hin und ergriff heftig seine Hände: »Oh, Doktor Kinowa, das war ja der Film, wie er mir vorschwebte, nun hab ich ihn endlich gesehen! Wie glücklich bin ich, wie unaussprechlich glücklich!« »Was Wunder, mein Albert, daß dir der Film gefällt,« sagte Doktor Kinowa leise lächelnd, »deinen Anregungen und genialen Einfällen hab ich doch vorzüglich sein Zustandekommen zu verdanken.« »Oh, Doktor Kinowa,« rief Albert, »dann sind Sie zufrieden mit mir? Dann darf ich immer bei Ihnen bleiben und auch fernerhin mit Ihnen 157 zusammenarbeiten?« »Nichts lieber als das, mein Albert,« sagte Doktor Kinowa, »wir beide gehören ja zusammen, ob wir wollen oder nicht, das steht doch nun einmal fest. Und nun, wo sich, wie es scheint, zarte Fäden zwischen dir und meinem Töchterchen Anita angesponnen haben, nun ist es ja geradezu selbstverständlich, daß wir zusammenhalten.« »Oh, Papa,« sagte Anita verschämt und schelmisch, »ich glaube, Albert und ich, wir haben uns heute abend verlobt.« »So geht denn alles nach Wunsch,« rief Doktor Kinowa, »Kinder, dies freudige Ereignis muß aber begossen werden«. Er klatschte in die Hände, galonierte Diener brachten einen Tisch und Stühle und Sektflaschen im Kühler, und die drei setzten sich in die Ecke. Sektpfropfen knallten, Gläser schäumten und perlten, Anita lag in Alberts Armen, der Tanz brauste durch den Saal, und Albert trank und rief: »Es lebe der Film! Ihm weihe ich mein Leben, ihm und seiner zarten Muse«, und er gab Anita einen kräftigen Kuß, und dann umschlang er Doktor Kinowa und schluchzte selig an seiner Brust: »Mein Vater, mein Meister! Endlich habe ich dich gefunden.« Und Albert trank Glas auf Glas, die Freudenfluten überschwemmten ihn, die herrlichsten Reden entströmten wie Feuergluten seinem Munde, der Tanz im Saal wurde immer turbulenter und bachantischer, und Saal, Lichter und Menschen begannen sich zu drehen und zu feurigen Kreisen und Wirbeln zusammenzuschmelzen . . .
Der Sipo, der Albert im Morgendämmer auf einer Bank in den Anlagen fand, konnte ihn kaum wachrütteln. Betäubt wankte Albert nach Hause. Hubert Wanderer, der Regisseur, wartete am Morgen vergeblich auf ihn. Albert schlief bis in den späten 158 Nachmittag hinein, aber am Abend erschien er frisch und strahlend im »Schwarzen Walfisch«. Die Filmleute guckten ihn erstaunt an. Was war denn mit Albert los? Warum griente er denn so blöde und aufgeblasen, als wenn er das große Los gewonnen hätte? Albert grüßte die Anwesenden kaum, nur so von oben herab, was hatte er noch mit diesen Leuten zu tun, wo er jetzt doch bei Kinowa arbeitete? Er zog Hubert Wanderer, der ihm gerade ordentlich die Leviten lesen wollte, hastig beiseite: »Herr Wanderer, schimpfen Sie nicht, ich weiß, es war nicht richtig, daß ich Sie heute morgen habe aufsitzen lassen, aber wenn sie meine Gründe hören, werden Sie begreifen. Ich habe gestern abend den schönsten Film meines Lebens gesehen. Sie müssen ihn auch sehen. Dann werden Sie mich endlich verstehen. Kennen Sie die ›Laterna magica‹? Nein? Und kennen Sie den großen Regisseur Doktor Kinowa? Auch nicht? Kommen Sie mit, Sie werden sehen und staunen!« Hubert Wanderer, durch Alberts auffälliges, sonderbares Gebaren nun doch etwas neugierig gemacht, folgte ihm. Endlich fanden sie im Dunkeln das Haus Fasanenstraße 5. »Hier war doch ein bläulich schimmerndes Transparent: ›Laterna magica‹«, sagte Albert. Sie standen vor einem Kellereingang, unten lag ein kleiner Laden: »Gemüse und Obst, Witwe Bunke.« »Vielleicht haben Sie sich in der Hausnummer geirrt«, meinte Hubert Wanderer. »Nein, nein, Fasanenstraße 5.« »Also klingeln wir mal«, sagte Hubert Wanderer. Eine Frau erschien schattenhaft im Kellereingang. »Kommt man hier zu dem Kino ›Laterna magica‹?« fragte Albert. »Kino,« sagte die Frau, »Kino is hier nich.« »Ich meine das Theater von Doktor Kinowa«, sagte Albert. »Kinowa?« sagte die Frau, 159 »kenn ich nich. Ach, vielleicht meinen Sie das Eisgeschäft von Panova drei Häuser weiter?« »Nein, nein,« rief Albert verzweifelt, »hier ist doch 'n Kino im Hause.« »Tja, mein Herr, dann wissen Sie mehr als ich,« sagte die Frau, »wie soll denn hier 'n Kino sein, sind ja man alles ganz kleine Zimmer. Und dann 'n Kino im Keller, haben Sie so was schon mal gehört? Bei Ihnen piept's wohl. Hier in der ganzen Straße ist kein Kino. Möchte ganz gern, daß eins da wäre, dann braucht' ich nicht immer bis zum Splendid zu laufen, is aber nich.«
»Kommen Sie«, sagte Hubert Wanderer sanft und faßte Albert weich und nachsichtig unterm Arm wie einen Kranken. »Und nun erzählen Sie mir mal ganz ruhig und vernünftig, was für einen Film Sie da eigentlich gesehen haben.« »Oh, es war ein wunderbarer Film, ein idealer Film«, sagte Albert mit belegter Stimme. »Ja, wie soll ich Ihnen das schildern? Wie soll ich anfangen? Ja, also da war – da war zuerst – da sah man zuerst – Gott, wie war das denn noch?« Und Albert sann und sann, aber er konnte sich an nichts mehr erinnern. »Na ja,« sagte Hubert Wanderer, »ich wußt es ja, Schwamm darüber. Kommen Sie, wir gehen zum ›Schwarzen Walfisch‹ zurück.« »Zum ›Schwarzen Walfisch‹ zurück«, sagte Albert tonlos. »Ja, und wenn Sie geruhen, sprechen wir mal über den ›Letzten Walzer‹,« sagte Hubert Wanderer, »ich weiß jetzt, wie wir den Schluß machen. Eigentlich hätten Sie das ja finden müssen, aber Sie schlafen ja und träumen.« »Der letze Walzer«, murmelte Albert dumpf, »da wären wir also glücklich wieder beim ›Letzten Walzer‹!« 160