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Als ich im Winter 1912 zum ersten Male in meinem Leben das Museum von Helsingfors ansah, erinnere ich mich genau, wie mein finnländischer Begleiter ganz plötzlich vor einem der Bilder stehen blieb.
»Ich glaube, dieses Bild hier,« sagte er, »möchten wir von allem, was hier im Museum ist, am allerwenigsten missen.«
Indem er dies sagte, warf ich einen Blick auf das Bild. Es war das Porträt einer Frau mit glatt gescheiteltem Haar und einfacher dunkler Kleidung. Sie war nicht mehr jung, sie war auch nicht schön, und das ganze Bild war so ausgeführt, daß man merkte, daß der Künstler es vermieden hatte, es in irgendeiner Weise auffällig zu machen.
»Wen stellt das Bild vor?« fragte ich, während ich so davorstand und mir klarzumachen suchte, aus welchem Grunde es ein so warmes Lob erhalten hatte.
»Das ist Mathilda Wrede von Arvid Järnefelt,« sagte der Finne, und man hörte es am Ton, daß er glaubte, nicht mehr sagen zu müssen, damit ich ihn verstehe.
Ich hatte jedoch noch nie von Mathilda Wrede etwas gehört, so daß mir der Name nichts sagte. Aber ehe er noch zu Ende gesprochen, war es mir, als fielen mir die Schuppen von den Augen, so daß ich sehen konnte, wen ich vor mir hatte.
Ich sah es an den mageren, kräftigen Händen und an dem Kleide, das keinen Knopf, keine Falte, kein Häkchen mehr hatte, als streng notwendig war. Das heißt, zu allererst sah ich es doch an dem blanken Glanze der emporblickenden Augen, der nicht von Tränen oder sonst etwas Irdischem herrührte. Ich hatte eine von jenen vor mir, denen Gott befohlen hatte, wider die Arglist und das Elend der Welt zu kämpfen, und die nie und nimmer an sich selbst denken.
»Mathilda Wrede, das ist wohl eine Heilige,« sagte ich, während ich mich bemühte, mit gefaßter Stimme zu sprechen, denn es lag etwas unbeschreiblich Rührendes über dem Bilde dieser einsamen Frau, die ihre Bürde mit Verzückung trug, obgleich man merkte, daß sie sie fast zu Boden drückte.
»Ja, sie ist wohl etwas dieser Art,« sagte der Finnländer. »Sie verbringt ihr Leben damit, Rettungsarbeit unter den Gefangenen zu betreiben. Sie mag heute wohl etwa vierzig Jahre alt sein, und sie hat dies von klein auf immer getan. Sie gehört einem alten vornehmen Geschlecht an, aber für sie gibt es nichts anderes als die armen Verbrecher. Ihnen gibt sie alles, was sie geben kann, Zeit und Geld, Fürsorge und Pflege.«
Noch lange sprachen wir über Mathilda Wrede weiter.
Er erzählte, daß sie die Beziehungen zu ihren Schützlingen auch, nachdem sie aus dem Gefängnis entlassen seien, weiter unterhalte. Aber um die Leute mit dem rechten Nachdruck ermahnen zu können, arbeitsam und ehrlich zu leben, habe sie sich entschlossen, selbst von derselben Summe zu leben, über die ein Arbeiter, der Frau und Kinder hat, für seine eigene Person verfügen kann, das heißt, etwa 35 Öre im Tage.
Sie sei in jeder Weise bestrebt, diesen Armen auch in rein praktischen Dingen zu helfen. Sie dürften bei ihr aus- und eingehen, wie sie wollten. Wenn niemand anders es wage, sie nehme sie als gute Freunde bei sich auf. Sie sei auch ungeheuer populär bei ihnen. Durch die feinen Straßen von Helsingfors könne sie gehen, ohne daß irgend jemand ihr nachsehe, aber wenn sie durch ein Hintergäßchen kommt, dann hört man es von allen Seiten flüstern: Da geht das Fräulein! Da geht das Fräulein! Man kann ja nicht immer so sicher sein, daß das gerade ihr gilt, aber bald hört man auch ein: Da geht Mathilda, und dann ist ja kein Zweifel mehr möglich.
Auf meine Frage sagte er mir auch, wie sie selbst sei. Das Bild hier sei in gewissem Sinne irreführend. Es gebe nur die Hauptrichtung ihres Lebens an. Wenn man sie im Alltagsleben treffe und die schlanke Gestalt und die große, kühne Adlernase sehe, könne man nicht vergessen, daß sie aus einem alten Kriegergeschlechte stamme. Sie sei heiter, freimütig und lebhaft und habe keine andere Sorge, als daß sie nicht genug Geld besitze, um ihren Schützlingen all die Hilfe angedeihen lassen zu können, deren sie bedürfen. Daß sie sich für ihre armen Freunde, die Verbrecher, opfere, scheine ihr etwas ganz Selbstverständliches und keineswegs Rühmenswertes. Es sei ihr Handwerk, und sie habe ihre Freude daran. Sie verstehe es, die besten Eigenschaften dieser Menschen hervorzulocken, sie erzähle auch sehr gerne von ihnen und schildere sie dann mit ebensoviel Liebe wie Humor.
Schließlich fragte ich, ob sie Erfolg gehabt habe.
»Sie sehen es selbst,« sagte der Finnländer und wies auf das Porträt. »Es ist nicht leicht, ihr auf die Dauer zu widerstehen.«
Einige Tage später machte ich die persönliche Bekanntschaft von Mathilda Wrede, aber nicht über dieses Zusammentreffen möchte ich jetzt sprechen. Hier will ich nur einige Ereignisse aus ihrem Leben darstellen, wie sie mir zum Teil von ihr selbst erzählt wurden, zum Teil von ihren Freunden.
Als Mathilda Wrede noch ein junges Mädchen von achtzehn oder neunzehn Jahren war, träumte sie mehrere Nächte hintereinander von einem Manne, der sie um Hilfe anflehte. Sie sah ihn deutlich, sie hörte ihn jammern und klagen, sie wurde von Mitleid ergriffen und wollte ihm beispringen, aber wie es im Traume gewöhnlich geht, konnte sie ihre Absicht nicht ausführen, sondern erwachte erregt und ängstlich, während ihr die Tränen über das Gesicht strömten.
Diesen Mann, den Mathilda Wrede im Traum gesehen hatte, traf sie sehr bald in Wirklichkeit. Ihr Vater, der damals Gouverneur von Vasa war, hatte eines Tages einen Strafgefangenen, der früher einmal Anstreicher gewesen war, in das Haus holen lassen und ihm aufgetragen, dort ein paar alte Möbel zu übermalen. Während der Gefangene damit beschäftigt war, ging sie, die junge Gouverneurstochter, vorbei, und er blickte von der Arbeit auf. Sie blieb stehen, ohne sich vom Fleck rühren zu können. Das war der Mann aus ihrem Traum. Sie erkannte sein Gesicht Zug für Zug. Und sie war ganz erstaunt, daß er, nachdem er einen gleichgültigen Blick auf sie geworfen hatte, sich niederbeugte und weiter arbeitete, ohne etwas zu sagen. In der ersten Verblüffung hatte sie erwartet, daß auch er sie erkennen und die Gelegenheit wahrnehmen würde, sie noch einmal um Hilfe anzuflehen.
Obgleich der Mann nichts sagte, konnte sie sich doch nicht von der Vorstellung befreien, daß er in großer Angst lebte, und etwas für ihn geschehen müsse. Zwar stand er da ganz gelassen bei seiner Arbeit, und nichts verriet, daß sein Inneres in Aufruhr war, aber sie war doch fest überzeugt, daß es sich so verhalten müsse.
Der Traum und die Traumstimmung kamen mit solcher Macht zurück, daß sie sich nicht klarmachen konnte, daß sie keine volle Wirklichkeit vor sich hatte. Das einzig Wichtige schien ihr, jetzt, wo sie es konnte, etwas für den Gefangenen zu tun, um sich nicht in der nächsten Nacht wieder im Schlafe um seinetwillen ängstigen zu müssen.
Fast ohne daß sie wußte, wie es zuging, begann sie mit ihm von seiner Seelenverfassung zu sprechen, von Sündennot und Erlösung. Sie war wohl schon damals warm religiös, Leserin oder Pietistin, wie man es nun nennen will, aber sie war auch scheu und ängstlich, und an einem anderen Tage hätte sie etwas derartiges nicht zu tun vermocht. Als sie ganz zum Bewußtsein kam, worauf sie sich eingelassen hatte, hatte sie ein Gefühl, als wenn sie auf gefährliches Eis hinausgewandert wäre, ohne daran zu denken, daß es jeden Augenblick unter ihr einbrechen könnte.
Sie beeilte sich, das, was sie zu sagen hatte, mit ein paar kurzen Sätzen abzuschließen. Dann blieb sie schweigend stehen, und es war ihr recht peinlich zumute. Sie wußte selbst nicht recht, was sie gesagt hatte. Es war ihr ein schmerzliches Gefühl, daß sie sich hatte hinreißen lassen, jene Liebe zu Christus zu offenbaren, die das süßeste Geheimnis ihres jungen Herzens war. Der Mann dort drüben machte sich vielleicht über sie lustig, oder er war vielleicht zornig, daß ein Kind wie sie sich vermessen wollte, ihm, der ein erfahrener und reifer Mann war, Trost zu bringen.
Am liebsten wäre sie davongelaufen, aber dann sagte sie sich, daß dies feig wäre. Was sie nun auch gesagt haben mochte, sie wollte dafür einstehen.
Der Gefangene, mit dem sie gesprochen hatte, verhielt sich ganz still. Er arbeitete langsam und sorgfältig weiter, wie um Zeit zu gewinnen. Doch es dauerte nicht lange, so war er fertig. Aber dann beschäftigte er sich mindestens ein paar Minuten damit, die Pinsel abzustreichen. Erst als auch dies geschehen war, wendete er sich ihr zu.
Da sah sie, daß der Mann gerührt war. Er hatte sie keineswegs ausgelacht. Während er so über die Arbeit gebeugt dastand, hatte er geweint.
Er sah aus, als müßte er große Dinge durchlebt haben, aber er erzählte ihr nichts davon. Zu ihr sagte er nur ein paar Worte:
»Es ist schade,« sagte er mit starker Betonung, »daß das Fräulein nicht ins Gefängnis hinunterkommen und auch mit den anderen sprechen kann.«
Damit ging er. Aber seine Worte wirkten aus das junge Mädchen wie eine Erleuchtung.
Alles, was ihr an diesem Tage widerfahren war, schien ihr eine Offenbarung der Absichten des Höchsten mit ihr zu sein. In ihrem Herzen fühlte sie die Gegenwart ihres Gottes, den sie liebte, und voll Hingebung und Gehorsam faltete sie ihre Hände.
»Wenn Du willst, daß ich zu all jenen gehe, die in Ketten und Gefängnissen schmachten und mit ihnen von Dir spreche, warum sollte ich es nicht tun?«
Einige Jahre später saß Mathilda Wrede eines Tages im Salon des Generalgouverneurs in Helsingfors und wartete daraus, vorgelassen zu werden.
Sie war sehr bleich und hielt die Hände eng verschlungen, damit niemand merkte, wie sie zitterten. Es war auch nicht zu verwundern, daß sie sich in großer Spannung und Unruhe befand. Wenn sie den mächtigen Mann dort drinnen nicht bewegen konnte, Barmherzigkeit mit ihr zu haben, dann war sie nicht imstande, ihr Lebenswerk zu vollbringen.
Ihr Lebenswerk zu vollbringen – – – ach, man kann sich schon denken, was es war, das sich ihr in den Weg gestellt hatte. Ein junges, schwärmerisches Herz kann sich wohl in einem Augenblick der Bewegung entschließen, seinen Wirkungskreis unter jenen zu suchen, die in den Gefängnissen des Landes schmachten. Aber damit ist ja die Frage nicht gelöst. Man muß auch Gelegenheit haben, seine Mission durchzuführen. Es kann zuweilen leichter sein, mit den Heiden, die auf der anderen Seite des Weltmeeres wohnen, in Berührung zu kommen, als mit Verbrechern, die der Staat hinter Schloß und Riegel verwahrt hält.
Bis vor ganz kurzem war es ihr jedoch gar nicht schwer geworden, die Aufgabe durchzuführen, die Gott ihr anvertraut hatte. Ihr Vater hatte ihr alle Freiheit gelassen, das Gefängnis in Vasa zu besuchen, und da hatte sie ihre ersten Erfahrungen gesammelt. Wohl war ihr manches mißlungen, aber im großen ganzen hatte sie doch den Eindruck gehabt, daß ihre Arbeit zum Segen gereiche.
Es hatte sie auch verwundert, ja, es war ihr fast unbegreiflich erschienen, daß sie nicht damit fortfahren dürfe. Aber nun hatte ihr Vater seine Stellung aufgegeben, die Familie war nach Helsingfors übergesiedelt, und da hatten die Behörden sich geweigert, ihr die Gefängnispforten zu öffnen.
Sie hatte an vielen Türen angeklopft, aber nirgends hatte sie Gehör gefunden. Und jetzt hatte sie sich nach vielen vergeblichen Versuchen entschlossen, ihr Ansuchen dem Generalgouverneur selbst vorzutragen.
Man muß versuchen, sich hineinzudenken, was das gerade für sie bedeutete. Sie mußte zu einem russischen Beamten gehen, der ihrer Religion fremd war, und ihr wichtigstes Interesse in seine Hand legen.
Sie hatte genau darüber nachgedacht, was sie sagen wollte, um ihn zu bewegen, um ihn zu der Erkenntnis zu bringen, daß sie von Gott berufen war, daß sie nicht aus kindlicher Laune handelte, daß sie wirklich die Macht hatte, auf die Verbrecher einzuwirken und ihre Seelenrichtung zu ändern.
Aber trotz alledem war sie mit jedem Augenblick, der verstrich, immer überzeugter, daß sie nicht die geringste Aussicht hatte, damit durchzudringen. Sie quälte sich selbst, wie man es zu tun pflegt, wenn man sitzt und wartet. Gott hätte ihr wohl schon geholfen, wenn sie Hilfe verdiente, aber das war sicherlich nicht der Fall. Er hatte sie geprüft. Dies war seine Art, ihr zu zeigen, daß sie nicht würdig sei, für ihn zu arbeiten.
Plötzlich zuckte sie zusammen und errötete heiß. Sie sah aus wie ein Verbrecher, der auf frischer Tat ertappt wird.
Sie hatte eine plötzliche Entdeckung gemacht. Sie fühlte in diesem Augenblick, daß ihre Arbeit unter den Gefangenen von größter Bedeutung für ihr eigenes Glück war. Gefangene, denen sie hatte helfen können, pflegten ihr zu danken. Aber sie verdiente diesen Dank nicht, weil sie ihnen um ihres eigenen Glückes willen zu helfen versuchte. Sie liebte diese Arbeit, und es würde ein furchtbarer Schmerz für sie sein, sich ihr nicht widmen zu können.
Bisher hatte sie, wenn sie in die dunklen Zellen ging und sich stundenlang anstrengte, um einen Verbrecher zum Gefühl seiner Schuld zu erwecken, geglaubt, daß sie dies aus Liebe zu Gott tat. Aber Gott wußte, daß sie nur so handelte, weil es ihr selber Befriedigung gewährte. Und darum sollte ihr die Arbeit genommen werden.
Wieder und wieder durchforschte sie ihr Herz. Warum hatte sie die Arbeit unter den Gefangenen gewählt? Nur weil es sie mehr als irgend etwas anderes gefesselt hatte. Jetzt, wo es damit zu Ende war, würde ihrem Leben jeder Inhalt fehlen. Sie war es, die diese armen Menschen viel nötiger brauchte, als diese ihrer bedurften. Für die konnte Gott in seiner großen Macht jederzeit einen anderen Helfer erwecken.
Diese Überzeugung senkte sich mit zermalmender Schwere auf sie herab. Sie dachte schon daran, ihrer Wege zu gehen und die ganze Sache auf sich beruhen zu lassen, aber ehe sie noch mit diesem Entschluß ganz fertig war, gab ihr der Türhüter ein Zeichen, daß nun sie an der Reihe war.
Da glaubte sie, nicht mehr zurück zu können, aber während sie die wenigen Schritte in das nächste Zimmer ging, dachte sie:
Das ist doch ganz unnötig. Nicht dieser Mann hat die Entscheidung in der Hand. Ich bin schon gerichtet. Ich weiß schon, daß alles vergeblich ist.
Als sie nach etwa zehn Minuten zurückkam, hatte sie die bestimmte Zusage des Generalgouverneurs. Es sollte eine Verordnung erlassen werden, die ihr gestattete, alle Gefängnisse Finnlands zu besuchen. Alle Hindernisse waren beseitigt. Der Weg lag offen vor ihr.
Sie war furchtbar erschüttert. Sie verließ das Audienzzimmer mit einem so erregten Gesicht, daß die anderen, die noch warteten, ihr mitleidige Blicke zuwarfen. Als sie endlich auf die Straße hinunterkam, fing sie zu weinen an.
Der Weg offen, freier Zutritt zu allen Gefängnissen. Wie war dies nur möglich? Wie hatte sie dies zustande gebracht?
Das war das Seltsamste. Dort drinnen beim Generalgouverneur hatte sie nicht ein Wort von dem gesagt, was sie sich daheim am Morgen vorgenommen hatte. Die Worte, die ihn überzeugen sollten, daß sie berufen und auserwählt war, waren ihr in demselben Augenblick genommen, in dem sie sich eingestehen mußte, daß sie nur für ihr eigenes Glück, ihre eigene Befriedigung arbeitete.
Was sie nun gesagt hatte, das hatte sehr matt und bleich geklungen. Sie war selbst über ihre Kälte erschrocken und war in einige Ausrufe ausgebrochen, die nicht aus der Tiefe ihres Herzens kamen, sondern einen unwahren Eindruck machten. Sie merkte auch gleich, daß er sie nicht ernst nahm, und sie konnte ihn nicht umstimmen. Denn sie konnte nicht vergessen, daß sie nur für sich selbst kämpfte. Das raubte ihr den Mut.
Als der Gouverneur ihr gegen Ende der Audienz ganz plötzlich gesagt hatte, ihr Ansuchen sei bewilligt, da hatte sie ihm kaum glauben wollen.
Sie begriff nichts. Noch während sie jetzt über die Straße ging, begriff sie nichts. Aber dann erinnerte sie sich an den Ausdruck im Gesichte des Generalgouverneurs, als er mit ihr gesprochen hatte, und plötzlich konnte sie das deuten, was in seiner Seele vorgegangen war.
Wie er so dasaß, hatte er gedacht, daß es zwei Arten von Enthusiasten in der Welt gibt, die echten, die, so lange das Leben währt, an einer einzigen Schwärmerei festhalten. Das sind unbequeme und gefährliche Menschen, denen muß man von Anfang an alle möglichen Hindernisse in den Weg legen. Die Anderen wiederum sind solche, die eine Zeit lang heftig brennen, aber gar bald müde werden und sich nach Abwechslung sehnen. Diese soll man gewiß nicht hindern. Im Gegenteil, man soll sie ermuntern und sie gewähren lassen, ohne sie durch Widerstand anzuspornen. Sie werden ja ohnehin unfehlbar von selber müde.
Und nun begriff sie, daß sie zu der letzteren Art gerechnet worden war, und darum hatte man ihren Wunsch bewilligt. Sie hatte es erreicht, weil sie ihn nicht hatte dazu bringen können, an ihre Berufung zu glauben.
»Ach mein Gott,« sagte sie, »hast du nur mit mir gespielt?«
Sie wunderte sich über sich selbst. Warum hatte es sie vorhin so sehr erschreckt, daß sie an ihren Beruf als an ein Glück gedacht hatte? Was lag darin Böses? War es nicht ein Zeichen, daß sie von Gott eben für dieses Werk geschaffen war?
Er brauchte sie, und er hatte sie zu seinem Werkzeug geformt.
Da war ein alter Mann, der hieß Lauri. Er saß im Zellengefängnis Åbo, und eines Vormittags war Mathilda Wrede eine ganze Stunde lang bei ihm in der Zelle gewesen. Sie hatte ihm geholfen, einen Brief nach Hause zu schreiben, und da war so viel, was sie sagen sollte, und so vieles, das sie nicht sagen sollte. Der Alte redete hin und her und kam nie zu einem Ende. Sie gab sich alle Mühe, geduldig zu sein, aber er war ganz unerhört weitschweifig und schwerfällig, und sie war ganz erschöpft, als er endlich gesagt hatte, was er wollte.
An diesem selben Tage wurde sie zum Gefängnisdirektor gerufen und bei ihm bis gegen halb drei Uhr aufgehalten. Sie pflegte sonst zwischen zwei und drei in die Stadt zu gehen und dort zu Mittag zu essen, aber nun sagte sie sich, daß es besser sei, ihr Mittagmahl aufzuschieben, denn um drei mußte sie ja wieder im Gefängnis sein. Sie hatte dann, was man einen allgemeinen Empfang nennen konnte. Der Direktor hatte ihr nämlich ein Zimmer eingeräumt, wo sie um diese Zeit die Gefangenen, die ihre Hilfe wünschten, empfangen durfte.
Nachdem sie den ganzen Tag so beschäftigt gewesen war, fühlte sie sich sehr ermüdet und war recht ärgerlich, als sie das Empfangszimmer betrat und sah, daß der alte Lauri da stand und auf sie wartete.
»Nein, aber Lauri,« sagte sie, denn sie glaubte, es nicht überstehen zu können, seine langatmigen Geschichten noch einmal anzuhören. – »Ich habe doch heute schon eine ganze Stunde mit Ihnen gesprochen. Sie dürfen den anderen die Zeit nicht wegnehmen, Lauri.«
Aber Lauri beachtete die Zurechtweisung gar nicht.
»Sie brauchen keine Angst zu haben, Fräulein,« sagte er. »Diesmal werde ich schon nicht so langsam sein. Aber sehen Sie, Fräulein, es war nämlich so, ich hatte heute draußen auf dem Hofe zu tun, ich sollte einen Wagen ausbessern, und da habe ich das Fräulein nicht nach Hause gehen sehen, und drum denke ich mir, daß das Fräulein heute kein Mittagessen gehabt hat und –«
»Nein, allerdings nicht, Lauri, aber gerade deshalb – –«
Der Alte strahlte vor Zufriedenheit, als er hörte, daß er richtig geraten hatte.
»Und als ich nun mein Mittagbrot bekam,« sagte er, »da hab ich an das Fräulein gedacht. »Und Gott sei Dank hatten wir heute Fleischsuppe mit Kartoffeln. Denn wenn es Erbsen gewesen wären, da hätte ich ja nichts aufheben können. Aber so habe ich Kartoffeln und Brot für das Fräulein eingesteckt.«
Damit versenkte Lauri seine Hand in die Tasche und zog zwei kleine Kartoffeln und ein Stück schmutziges Brot heraus, das er ihr in seiner feuchten, verschmierten Hand reichte.
»Denn sehen Sie, Fräulein, was Sonne und Blumen für die sind, die draußen in der Welt frei herumgehen, das sind Fräulein für uns, die wir hier eingesperrt sitzen,« sagte der Alte, »und darum – –«
Sie wußte selbst nicht, als sie die Gabe empfing, ob sie mehr Rührung empfand oder mehr Angst davor, daß er nun auch vielleicht noch den Genuß haben wollte, zu sehen, wie sie ihren Hunger stillte. Aber zu allem Glück ging er gleich seiner Wege, ohne auch nur ihren Dank abzuwarten.
Aber da eilte sie ihm nach. »Lauri,« rief sie, »Sie können das nächste Mal reden, so lange Sie wollen. Sie haben mir mehr als Brot gegeben, Sie haben mir etwas gegeben, woran ich mein ganzes Leben lang mit Freude denken kann.«
Juho Jokkinen und sein Kamerad Eino Illonen sitzen an einem Samstagabend im Brunnenpark in Helsingfors. Es ist gerade kein angenehmes Wetter, es stürmt und regnet, aber Jokkinen und Illonen, die auf Wetter und Wind nicht viel zu achten pflegen, sind in bester Laune. Wie sollte es auch anders sein? Sitzen sie nicht da, in einer abgelegenen Ecke des Parkes, die Taschen voll Bierflaschen, im Begriff, sich einen recht vergnügten Abend zu machen.
Jokkinen ist ein alter Helsingforser, während Illonen erst kürzlich in die Hauptstadt gekommen und mit den Verhältnissen noch nicht ganz vertraut ist.
Er ist vom Lande hereingekommen, um Droschkenkutscher zu werden und hält sich eigentlich für zu gut, um mit Jokkinen umzugehen, der ein abgestrafter Zuchthäusler ist, aber er konnte der Lockung der Flaschenhälse nicht widerstehen, die aus Jokkinens Tasche hervorgucken.
Während Jokkinen einen Korkzieher hervorzieht und in den Kork der ersten Flasche dreht, lobt er eifrig den Punkt, an dem sie sich befinden. »Sag' mal, mein Junge, hast du je eine bessere Lage gesehen? Da ist nichts dran auszusetzen? Feine Aussicht übers Meer, was? Und in den letzten zehn Jahren ist hier kein Polyp vorübergekommen.«
Jokkinen macht, während er dies sagt, eine kleine erläuternde Handbewegung und wirft einen Rundblick auf die Umgebung. Der ganze Park liegt so gut wie menschenleer da. Nur eine Frauengestalt taucht in der Ferne zwischen den Bäumen auf.
Illonen kann sich kaum jemand Harmloseren vorstellen, aber Jokkinen hört nicht auf zu fluchen, daß es gerade ihr einfallen muß, heute in den Brunnenpark zu kommen, wo ein armer Teufel gehofft hat, nach aller Plage und Rackerei der Woche einmal eine vergnügte Stunde zu haben.
»Vor wem hast du denn solche Angst?« fragt Illonen.
»Kennst du sie nicht?« ruft Jokkinen. »Na ja, richtig, du hast noch nichts mit ihr zu tun gehabt. Das ist ein Fräulein, die uns im Gefängnis zu besuchen pflegte.«
Illonen lacht voll Verachtung. »Ach so, so eine, die zu denen, die eingekastelt sind, kommen und ihnen ›Gottes Wort‹ verkünden. Aber Mensch, du wirst doch kein solcher Waschlappen sein? Du bist doch jetzt ein freier Mann.«
Jokkinen sieht sich ganz ratlos um und versteckt die Flasche hinter seinen Rücken. »Siehst du nicht, ob sie herkommt?«
»Ja, ich glaube schon. Aber sei doch nicht so feig,« sagt Illonen und lacht laut. »Laß sie nur rankommen und predigen. Ich werde ihr schon die Antwort nicht schuldig bleiben.«
Er bringt Jokkinen zur Besinnung. Der ehemalige Zuchthäusler richtet sich wieder auf und beginnt den Korkzieher einzuschrauben.
»Ja, siehst du,« sagt er entschuldigend, »sie predigt nämlich nicht. Sie ist nicht wie die anderen. Im Zuchthaus haben wir immer die Tage gezählt, bis sie gekommen ist. Während ich dort war, ist sie auch zu meiner Frau gegangen und hat sich erkundigt, wie es ihr ging. Ich hatte damals keinen anderen Freund in der Welt als nur sie. Es ist doch ein verteufeltes Pech, daß sie gerade heute abend hier vorbeikommen muß.«
»Ach was,« sagt Illonen, »scher dich doch nicht um sie! Das sind lauter Finten, um euch windelweich zu kriegen. Solche Leute wollen die Armen immer bekehren, damit sie selbst ruhig und sicher in ihren feinen Häusern wohnen können.«
»Bei manchen mag es so sein,« sagt Jokkinen, »aber bei der hier nicht. Sie ist die Tochter eines Gouverneurs, aber sie wohnt in einem einzigen Zimmer, und sie hat es nicht feiner, als daß wir beide jederzeit ganz ruhig zu ihr zu Besuch kommen können.«
»Na, wenn du solche Angst hast,« meint Illonen, »dann werfen wir eben die Flaschen ins Wasser und gehen nach Hause.«
»Hab' ich etwas anderes gesagt, als daß es ein verdammtes Pech ist, daß sie gerade heute da sein muß? Aber Angst habe ich keine. Sieh mal her!«
Mit einem herausfordernden Knall fährt der Pfropfen aus der Flasche, gerade als die einsame Frau an ihnen vorbeigeht. Sie geht mit gesenktem Kopfe und hat die Saufbrüder am Wegesrand noch nicht bemerkt. Doch jetzt wirft sie ihnen einen langen Blick zu, bleibt sogar einen Moment stehen; aber sie geht dann gleich weiter, den Hügel hinauf.
Als sie vorbei ist, stößt Jokkinen Illonen mit dem Ellbogen an.
»Hast du die Augen gesehen?« fragt er mit einem beinahe entsetzten Klang in seiner heiseren Schnapsstimme.
Er hat so laut gesprochen, daß die Vorübergehende ihn sehr wohl gehört hat, aber sie setzt ihre Wanderung fort.
Jokkinen umklammert den Hals der Flasche. Er will sie heben und daraus trinken, aber plötzlich stellt er sie wieder hin.
»Nanu, Jokkinen?« sagt Illonen und will die Hand auf die Flasche legen, aber der Kamerad stößt ihn fort.
»Fräulein!« ruft er.
Die Angesprochene dreht sich um und bleibt zögernd stehen.
»Sehen Sie her!« ruft er und hebt die Flasche hoch.
»Mathilda Wredes Wohl,« ruft er in einem Tonfall, der sich nicht beschreiben läßt, und im selben Augenblick dreht er die Flasche um und läßt ihren ganzen Inhalt auf den Boden rinnen.
Und Illonen, der wider Willen von diesem Schauspiel gepackt ist, sieht zu, wie all das Bier ausfließt, ohne eine Bewegung zu machen.
Im nächsten Augenblick ist Mathilda Wrede bei ihnen.
»Ach, Jokkinen,« sagt sie, »wie haben Sie mich froh gemacht! Wissen Sie, ich war gerade heut abend so traurig. Ich hatte das Gefühl, daß all meine Mühe ganz umsonst ist. Schließlich ging ich aus, weil ich dachte, ich würde in der frischen Lust ein bißchen besseren Mutes werden. Aber als ich euch hier sitzen sah, da wurde ich noch trauriger. Und ich war so müde, daß ich euch gar nichts zu sagen vermochte. Es ist ja doch so zwecklos, dachte ich mir. Aber jetzt habt ihr mich wieder ganz frisch und munter gemacht, jetzt bin ich gar nicht mehr traurig. Und jetzt sollt ihr alle beide mit mir in die Stadt kommen und bei mir Kaffee trinken.«
»Ach, das Fräulein kann doch nicht mit uns gehen.«
»Und ob ich kann.«
Und sie wanderte der Stadt zu, mit Jokkinen und Illonen, den zwei stolzesten Kerlen von Helsingfors.
Es ist in einer Zelle im Helsingforser Gefängnis. Eine große, hagere Dame, in sehr einfachem, anliegenden grauen Kleide ist eben eingelassen worden, und die Türe hat sich hinter ihr geschlossen. Vor ihr auf dem Boden liegt ein Mann in Gefängniskleidern ausgestreckt. Er hat nicht die leiseste Bewegung gemacht, als die Türe sich öffnete, und liegt noch immer regungslos da, den rechten Arm über den Augen.
Die Besucherin tut eine Weile gar nichts, sondern begnügt sich damit, den Liegenden zu betrachten. Das ist ein Mann, von dem sie schon viel gehört hat, kein gewöhnlicher kleiner Dieb oder Fälscher, sondern ein großer Verbrecher, ein Waldräuber, der ein halbes Dutzend Menschen ermordet, Reisende ausgeplündert und mehrere Sprengel dort oben an der russischen Grenze unsicher gemacht hat. Als er nun endlich eingefangen und zu lebenslänglicher Strafarbeit verurteilt wurde, hat er sich so stark und wild gezeigt, daß das Gefängnispersonal sich gar nicht zu helfen weiß und es für lebensgefährlich ansieht, seine Zelle zu betreten. Sie, die nun ganz einsam und wehrlos da drinnen steht, mußte einen förmlichen Kampf mit dem Gefängnisdirektor bestehen, bis sie die Erlaubnis erwirken konnte, diesen Gefangenen zu besuchen.
»Hallonen,« sagt sie schließlich mit leiser, aber ganz sicherer Stimme. »Ich bringe Ihnen Grüße von Ihren Verwandten in der Wasagegend.«
Der liegende Mann antwortet nichts auf diese Anrede. Er schläft oder stellt sich schlafend. Sie weiß es nicht recht.
Sie wartet eine Weile, dann beginnt sie wie zuvor: »Ich habe Grüße für Sie, Hallonen, von Ihren Verwandten.«
Der Mann beharrt dabei, ihr nicht zu antworten. Da beugt sie sich hinab und zupft ein wenig an seinem Rockärmel.
Im selben Augenblick, in dem sie ihn berührt, schnellt der Mann, der da mit Fesseln an Händen und Füßen liegt, vom Boden auf und steht wie durch ein Wunder aufrecht vor ihr. Sie staunt über seine außerordentliche Geschmeidigkeit und Behendigkeit, und noch mehr staunt sie über ihn selbst, wie er jetzt vor ihr steht. Er ist der größte Mensch, den sie je gesehen hat, ein richtiger Riese, aber so gut gewachsen, daß er ihr geradezu als das Urbild eines Menschen erscheint. Sein Gesicht ist ebenso schön wie alles andere an ihm, und seine Haltung ist die eines Fürsten.
Die Besucherin war unwillkürlich einen Schritt zurückgewichen, als er so plötzlich vom Boden in die Höhe schnellte. Und sie hat auch allen Grund, sich zu fürchten, denn der Gesichtsausdruck des Räubers ist im höchsten Maße drohend. Er sieht aus wie ein Mann, dessen Geduld aufs äußerste gereizt ist, und der nun beim geringsten Anlaß bereit sein kann, seine gefesselten Hände zu einem Schlage zu erheben, der schwer genug fallen kann, um jeden zu töten, den er trifft.
Er hat es gleich gemerkt, daß er sie erschreckt hat, und er lächelt ein hämisches Lächeln.
»Wer sind denn Sie?« fragt er mit einem Ausdruck, als spräche er zu einer kriechenden Ameise auf einem Waldwege.
Sie nennt ihren Namen und wiederholt, daß sie ihm Grüße bringe. Sie ärgert sich über sich selbst, daß sie in bedrücktem Tone spricht. Nun hat sie jedoch den ersten augenblicklichen Eindruck der Angst überwunden. Was sie jetzt empfindet, ist eine niederdrückende Hoffnungslosigkeit. Sie hat das Gefühl, daß sie in den Käfig eines schönen Tieres des Waldes gekommen ist, das zu zähmen und zu beherrschen sie sich nicht imstande fühlt.
Der Räuber kümmert sich noch immer nicht um ihre Grüße, aber ihr Name fällt ihm auf.
»Mathilda Wrede,« sagt er. »Da sind Sie vielleicht mit dem General in Wasa verwandt?«
»Mein Vater war General und Gouverneur in Wasa. Kannten Sie ihn, Hallonen? Er ist jetzt tot.«
Der große, stattliche Gefangene mißt sie mit einem geringschätzigen Blick.
»Der General war ein schmucker Mann. Schade, daß Sie ihm nicht nachgeraten sind!« –
Als er das gesagt hat, zieht sich sein Körper wie zu einem Sprung zusammen und seine Augen glitzern boshaft. Man könnte glauben, daß er versucht, die Besucherin zu reizen, ihm eine unfreundliche oder strafende Antwort zu geben, um einen Vorwand zu finden, sie anzugreifen. Während Mathilda Wrede noch zögert, ob sie etwas auf die letzte Bemerkung erwidern soll, begegnen ihre Augen den seinen, und sie sieht rasch den mordlustigen Funken, der im Augenwinkel lauert. Sie sieht, daß ihr Leben in Gefahr ist, aber dies erweckt ganz plötzlich ihre besondere Begabung, jene Intuition, die sie lehrt, wie sie verbrecherische und verirrte Menschen behandeln muß. Damit kehrt ihre ganze Sicherheit wieder und es belustigt sie sogar, zu sehen, wie durchdrungen dieser ungezähmte Waldmensch von seiner Überlegenheit ist, trotz des Elends, in das er geraten ist.
»Alle können nicht so schön sein wie Sie, Hallonen, und mein Vater,« antwortet sie keck. »Aber wir müssen ja doch auch versuchen, zu leben.«
Die Spannung in der Haltung des Räubers läßt nach und er richtet sich wieder auf. Das ist nicht die rechte Gelegenheit zuzuschlagen. Ihre Antwort hat ihn entwaffnet.
»Sie sind ja eine ganz verständige Person,« sagt er und lacht. »Ich habe geglaubt, Sie sind nur hergekommen, um zu predigen.«
Wieder der böse Blitz im Auge. In allem, was er sagt, liegt eine Falle. Er will sie reizen, ihm jene scharfe Antwort zu geben, die ihm den Anlaß bieten soll, sich auf sie zu stürzen.
Doch ihre Antwort kommt würdig und mit untrüglicher Sicherheit:
»Wenn Gott Ihnen eines Tages gestattet, Hallonen, sich ihm zu nähern, werde ich sehr froh sein, Ihnen den Weg zu seinem Throne zeigen zu dürfen. Bis dahin ist es besser, wenn wir von etwas anderem sprechen.«
Der Räuber scheint sie nicht verstehen zu wollen.
»Warum sind Sie dann hergekommen, wenn Sie nicht predigen wollen?« fragt er streng.
»Ich komme zu Ihnen, Hallonen, wie zu den anderen hier im Gefängnis, um Ihnen all die Hilfe zu bringen, die in meiner Macht steht. Ich kann Ihnen Briefe schreiben, ich kann Ihnen Nachrichten von Ihren Nächsten verschaffen, und wenn es irgendwo im Walde eine Frau oder ein Kind gibt, die jetzt Not leiden, weil Sie gefangen sind, so kann ich auch ihnen Hilfe bringen.«
»Das sind lauter Ausflüchte,« ruft der Räuber.
»Es kommt doch auf nichts anderes heraus, als auf Buße und Bekehrung. Sie sind nur hergekommen, damit ich meine Sünden bereue. Aber ich will nicht. Ich habe viel zu viel Böses getan, um noch bereuen zu können.«
Er hat sich selbst in Zorn gesprochen, er ist ganz rot vor Wut, und er rutscht dicht zu ihr hin und schüttelt seine geballten Fäuste vor ihrem Gesicht.
Sie versteht, daß er mit ihr Händel sucht, aber während sie mit jedem Augenblick, der vergeht, ihr Leben in immer größerer Gefahr sieht, stellt sie sich vor, in welchem Zustande der Erregung dieser Sohn der Wildnis sich befinden muß. Sie begreift, daß dieser Mann, der sich mit seiner Kraft und Schönheit gebrüstet, der sich in seinem Ort als Großmacht gefühlt hat, furchtbar darunter leiden muß, ein verachteter Gefangener zu sein. Sie fühlt das instinktive Mitleid mit dem gefangenen Königsadler.
Das macht es, daß sie sich weder reizen noch einschüchtern läßt. Sie antwortet noch immer mit derselben Sanftmut:
»Ich bin nicht hier, um Ihnen zu schaden, Hallonen.«
Vielleicht wird er von einem Zittern des Mitgefühls in ihrer Stimme angenehm berührt. So etwas ist ihm nicht mehr begegnet, seit sein Elend begann. Er läßt die Hände wieder sinken, schlurft ein paarmal in der Zelle hin und her und setzt sich dann auf eine schmale Pritsche, die einzige Sitzgelegenheit der Zelle.
»Trauen Sie sich herzukommen und sich neben mich zu setzen?«
Das ist natürlich eine neue Falle. Er späht gierig nach einem Zögern bei ihr. Mit Absicht hat er sich so gesetzt, daß er zwischen sie und die Türe kommt.
Sie weiß augenblicklich, was weniger gefährlich ist, und sie geht hin und setzt sich neben ihn.
»Ich möchte Ihnen etwas sagen,« beginnt er. »Aber Sie erzählen wohl alles denen da draußen?«
Sie macht eine erzürnte Bewegung. »Glauben Sie, ich erzähle etwas weiter, was mir ein Gefangener anvertraut hat?«
Er schweigt jetzt einen Augenblick, dann beginnt er ganz unvermittelt mit ihr vom Walde und der Wildnis zu sprechen. Er beschreibt ihr Sonnenaufgänge und Sturmnächte, große, schöne Bäume, die er liebt, geheimnisvolle Waldseen, starke, listige Tiere, deren Lebensweise er nachahmen zu wollen scheint. Er spricht von all diesem schöner als irgend ein Dichter und dazu mit der eingehendsten Kenntnis. Sie hört ihm mit solchem Interesse zu, daß sie beinahe vergißt, wem sie lauscht.
Plötzlich springt er so heftig auf, daß die Fesseln klirren, und er sagt mit leidenschaftlicher Sehnsucht:
»Können Sie nicht verstehen, daß einer, der dort draußen gelebt hat, es in einem solchen Loch nicht aushalten kann? Man muß sich in irgend einer Weise befreien.«
»Ich verstehe schon, daß Sie sich hinaus sehnen, Hallonen,« sagt sie.
Er steht jetzt drüben an die Wand gelehnt. Sein Gesicht ist ganz kalt und unerschütterlich geworden und mit unheilverkündender Ruhe sagt er:
»Ich will Ihnen jetzt sagen, woran ich dachte, als ich vorhin dalag, und Sie hereinkamen. Ja, ich schwor mir selbst mit allen Eiden zu, den ersten Menschen der in meine Zelle kommen würde, zu erschlagen.«
Er verstummt für einen Augenblick, aber da sie ganz still sitzen bleibt und nichts erwidert, fährt er fort:
»Ich muß mich in der einen oder anderen Weise frei machen, das können Sie doch verstehen. Ich glaubte, ich hätte schon so viele ermordet, daß es für die Todesstrafe reichte. Aber nein! Darum bin ich gezwungen, noch einen oder zwei oder drei totzuschlagen, so viele eben nötig sind, um ein Ende zu machen. Ich habe es gestern versucht, aber es ist nicht gelungen.«
»Sie wollen mir also sagen, Hallonen,« sagt sie, immer noch ohne von der Pritsche aufzustehen oder dem Gefängniswächter, der zweifellos vor der Türe steht und das Betragen des gefährlichen Gefangenen beobachtet, ein Zeichen zu geben, »daß Sie mich erschlagen wollen.«
»Das war die ganze Zeit meine Absicht,« sagt er. »Aber ich denke mir nun, daß ich doch eigentlich einen Mann gemeint habe, als ich mir das zuschwor. Darum können Sie meinethalben Ihrer Wege gehen, aber gleich.«
»Und wenn ich nicht gehen will, Hallonen?«
»Es ist jetzt nicht die Zeit zu Späßen, Fräulein. Ich habe mein letztes Wort gesagt. Wenn Sie gleich gehen wollen, dann sollen Sie verschont bleiben.«
Er wartet darauf, daß sie sich entfernt, aber sie rührt sich nicht.
»Sie sollen rasch Ihrer Wege gehen, sonst – –«
Sie richtet einen ruhig fragenden Blick auf ihn.
»Sie wollen also den ersten totschlagen, Hallonen, der hereinkommt, wenn ich fortgegangen bin?«
»Das habe ich gesagt.«
»Da verstehen Sie doch, Hallonen, daß ich bleiben muß.«
»Sie müssen bleiben?«
»Ich kann mich nicht auf Kosten eines anderen retten, Hallonen, wenn jemand sterben muß, warum sollte ich es nicht sein?«
Sie wendet sich ein wenig von ihm ab, faltet die Hände und vertieft sich in ihr Gebet, ohne zu ihm hinzusehen. Und im selben Augenblick nimmt ihr Gesicht einen Ausdruck der Sehnsucht und der strahlenden Hoffnung an. Nun ist der Augenblick der Befreiung gekommen. Endlich ist sie vorbei, diese Wanderung durch Bosheit und Elend, vorbei ist alle Müdigkeit, alles Mißlingen, vorbei der Kampf, der doch nie zu dauerndem Siege führen kann. Jetzt harrt ihrer nur Frieden, Freiheit, Erlösung von allem Übel.
Sie hört den Mann drüben an der Wand ein paar Mal mit seinen Ketten rasseln. Sie hört ihn schwer nach Atem ringen. Endlich kommt er ihr näher. Sie hört einen rohen, wilden Schrei aus qualvoll zusammengepreßter Kehle.
Aber es folgt kein tödlicher Schlag, wie sie es erwartet hat, sondern der Räuber stürzt plötzlich zu Boden und liegt ihr zu Füßen, weinend, fassungslos, schmerzlich, ohne die Kraft, seine Bewegung zu beherrschen.
Mit einem Seufzer beugt sie sich über ihn. Gerettet also, gerettet, um weiterzuwandern auf mühseligen Pfaden durch stechende Dornen und Giftschlangen.
* * *