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Der Weg zwischen Himmel und Erde

Es war einmal ein alter Oberst, namens Beerencreutz, der hatte viele Jahre auf Ekeby bei der Majorin gelebt und im Kavaliersflügel gewohnt.

Aber als die Majorin tot war und das fröhliche Kavaliersleben ein Ende hatte, da mietete sich der Oberst in einem Bauernhof im Kilser Kirchspiel ein, das am Südende des langen Lövensees liegt. Hier hatte er zwei Stuben im oberen Stockwerk inne, eine große, in die man zuerst kam, und eine kleinere. Die Bauersleute wohnten im Erdgeschoß, und außer Beerencreutz hielt sich niemand im Oberstock auf.

Hier lebte er lange Zeit, bis er sein fünfundsiebzigstes Jahr erreichte. Er war ganz allein, er hatte nicht einmal einen Diener, der für ihn sorgte. Er räumte selbst seine Zimmer auf, kochte sein Essen, so gut es eben ging, und striegelte und fütterte sein Pferd. Er sagte, daß er all dies selbst verrichten wolle, weil er so besser mit all seiner freien Zeit fertig werde, aber es mag wohl eher sein, daß der wirkliche Beweggrund der war, daß er zu arm war, um sich jemand zur Hilfe zu halten. An Beschäftigung schien es ihm nie zu fehlen. Es fiel ihm sogar schwer, mit all den vielfältigen Arbeiten, die er unter den Händen hatte, zu Rande zu kommen.

In dem großen Zimmer hatte der Oberst jenen merkwürdigen Teppich aufgezogen, über den man im ganzen Kilser Kirchspiel sprach und staunte. Der wurde nicht auf einem Webstuhl gewebt, sondern die Fäden waren von Wand zu Wand gespannt, so daß, wer ins Zimmer kam, nicht anders glauben konnte, als daß er in ein riesengroßes Spinnennetz geraten sei. An diesem Gewebe kroch der Oberst ein gut Teil des Tages hin und her, setzte ein Garnende hier ein und eins dort und prüfte und wählte, um die rechten Fäden zu finden. Wenn der Oberst den Teppich fertig gebracht hätte, so würde er sich wohl an Schönheit mit den Teppichen aus Kandahar und Buchara haben messen können, aber die Art der Verfertigung war so langwierig, daß er nicht mehr als ein paar Felder so zustande bringen konnte, wie er sie haben wollte.

In dem inneren Zimmer hatte der Oberst sein Bett stehen. Er lag immer in einem kleinen Feldbett, das er im Kriege benutzt hatte, als er in Deutschland gegen Napoleon gekämpft hatte. Aber sonst hatte er große, ansehnliche Möbel in diesem Zimmer. Da war unter anderem ein mächtiges Mahagonisofa, ein alter Klapptisch auf schwarzen Ebenholzbeinen, ein Sekretär mit Messingbeschlägen und ein großer Spiegel in bauchigem Glasrahmen, mit zierlicher Vergoldung geschmückt. All diese Stücke waren aus dem Elternhause des Obersten, und sie legten Zeugnis dafür ab, daß, wenn er auch jetzt arm war, er doch in einem reichen, vornehmen Hause aufgewachsen war.

Hier in diesem Zimmer lag der Oberst in einer Sommernacht und schlief, als er plötzlich dadurch erwachte, daß jemand mit schweren Schritten die Treppe zum Obergeschoß heraufkam. Der nächtliche Wanderer stampfte so auf, daß es durchs ganze Haus dröhnte, dabei fest und sicher, als wäre es ein alter Soldat.

Als der Oberst die Augen aufschlug, merkte er an der Dämmerung um ihn her, daß es noch mitten in der Nacht sein mußte. Aber so recht dunkel war es nicht in der Stube, denn es war ja die helle Zeit des Jahres, und da der Oberst eine Treppe hoch wohnte und keine Nachbarn hatte, hatte er sich weder Läden noch Rollgardinen angeschafft.

»Das ist doch merkwürdig mit diesen Bauern, nie können sie es lernen, die Haustüre zuzuschließen,« dachte der Oberst. Er war ein Mann der Ordnung und lag beständig im Kriege mit den Hausleuten, weil sie sich meistens zum Schlafen hinlegten, ohne zuzusperren. So hatten sie es wohl auch an diesem Abend gemacht, und nun war richtig ein Unberufener ins Haus eingedrungen.

Ein Dieb konnte es wohl kaum sein, der mit so schweren Schritten einhertrabte, und wohl auch kein Betrunkener, der sich einen Ort suchte, wo er seinen Rausch ausschlafen konnte. Aber jemand, der da nichts zu suchen hatte, war es auf jeden Fall, denn der Oberst wußte, daß keiner von den Hausleuten in dieser taktfesten Weise auftreten konnte.

Der Oberst lag da und wartete, daß der Nachtwanderer bis auf den Dachboden hinaufgehen würde, aber da hatte er sich verrechnet. Sowie die schweren Schritte die Treppe hinaufgekommen waren, marschierten sie auf seine eigene Türe los, und er glaubte sogar zu hören, wie der Schlüssel sich im Schlosse drehte.

»Ja, damit kannst du dich vergnügen, solange du willst,« dachte der Oberst, »davon wirst du nicht viel haben.«

Denn er wußte natürlich, daß er am Abend vorher seine Türe mit Haken und Riegel versperrt hatte. Gerade weil die Flurtüre unten fast nie verriegelt wurde, achtete der Oberst so genau darauf, daß oben bei ihm alles ordentlich verschlossen war.

Aber jetzt hörte er zu seinem großen Staunen, wie der Fremde die Türe so leicht aufschob, als wäre sie mit einem Wollfaden befestigt gewesen, und ins Arbeitszimmer trat.

Da war das große Teppichgewebe ausgespannt, es war also nicht so leicht, hindurch zu wandern, namentlich jetzt, wo der Raum im Halbdunkel lag.

»Jetzt wird sich der Halunke in meinen Teppich verwickeln und eine schreckliche Wirrnis anrichten,« dachte der Oberst und war schon im Begriffe, aus dem Bette zu springen und den Kerl hinauszuwerfen. Aber da hörte er, wie der Fremde durch das ganze Zimmer zur Schlafzimmertüre ging, mit Schritten, so gleichmäßig, als marschierte er im Takt zu einem Militärmarsch auf dem Troßnäser Felde, und sich in keiner Weise von Kette oder Einschlag behindern ließ.

Die Blicke des Obersten flogen zur Türe. Es war nicht so dunkel, als daß er nicht mit Sicherheit sehen konnte, daß der Riegel vorgeschoben war.

»Ja, jetzt wirst du aber doch nicht weiter kommen, du ver – –«

Er blieb mitten im Fluche stecken, denn die Türe sprang auf und schlug an die Wand, ganz so, als wäre sie unversperrt gewesen, und ein heftiger Windstoß aus einem offenen Fenster hätte sie aufgerissen.

Da setzte sich der Oberst im Bett auf und rief mit seiner alten dröhnenden Kommandostimme: »Wer da?« so daß es von den Wänden widerhallte.

Noch einmal war er drauf und dran, aus dem Bette zu springen, um den Fremdling hinauszuweisen, noch einmal war er so starr vor Staunen, daß er still sitzen blieb. Er sah nämlich den, der ins Zimmer gekommen war, gar nicht. Die Türe stand sperrangelweit offen, der Oberst konnte ins nächste Zimmer sehen, bis zu den gegenüberliegenden Fenstern sogar, hell genug war es, aber er sah nicht einmal den Schatten eines Menschen.

Aber daß jemand in seinem Zimmer war, daran konnte kein Zweifel sein. Er hatte die Schritte gehört, bis sie hinter der Schwelle haltmachten. Und jetzt hörte er, wie der Fremde die Hacken zusammenschlug, den Degen schulterte, so daß das Gehänge klirrte und rasselte, und seinen Werdaruf mit einem »Der Tod, Oberst« beantwortete. Es war eine wunderliche Stimme, die da gesprochen hatte. Gar nicht menschlich, aber dabei weder unheimlich, noch erschreckend. Es dünkte den Oberst, daß die Worte aus einer Orgel oder einem anderen großen Instrument gekommen sein könnten. Sie klangen ernst und streng, aber mit so großem Wohllaut, daß eine Sehnsucht in seiner Seele entzündet wurde, bald in jenes Land hin übergeführt zu werden, dem diese Töne entstammten.

»Dann mach doch gleich ein Ende,« rief der Oberst und riß das Hemd auf, so, als erwartete er einen Degenstich mitten durchs Herz.

Aber der Fremde kehrte sich nicht an die Aufforderung.

»Komme vor nächster Mitternacht wieder, Oberst,« erklang die Stimme.

Dann klappten die Hacken zusammen, der Degen wurde mit starkem Klirren geschultert, und es wurde rechtsum kehrt gemacht. Die schweren Schritte entfernten sich, die Türe schlug zu, der Riegel schnappte von selbst ein, und alles war wieder wie zuvor.

Der Oberst war in seiner Bestürzung in die Kissen zurückgesunken. Er lag still da und horchte den schweren Schritten, folgte ihnen die Treppe hinunter, über den unteren Flur und hinaus durch die Flurtüre.

In dem Augenblick, wo der Fremde das Haus verlassen und in den Hof treten mußte, wo es so viel heller war als in den Zimmern, sprang der Oberst aus dem Bett und eilte an ein Fenster. Jetzt mußte er den Fremden sehen können, wenn er überhaupt zu unterscheiden war. Er drückte das Gesicht an die Scheibe und spähte. Alles auf dem Hofe, die Gehpfade zwischen den Häusern, den Brunnen und den Brunneneimer, die Karren und die Holzhaufen konnte er sehen, aber niemanden, der sich dazwischen bewegte. Der Fuß des nächtlichen Wanderers trat den Boden mit solcher Kraft, daß der Oberst auf die Stelle weisen zu können vermeinte, wo er sich befinden mußte, aber sehen konnte er ihn nicht.

Der Oberst zuckte die Achseln. Er hatte die ganze Zeit über gewußt, daß es so sein würde. Er hatte versucht, sich einzubilden, daß das Ganze nur der Streich eines übermütigen Jungen sei, der sich den Spaß machen wollte, ihn zu erschrecken, aber im tiefsten Inneren wußte er es besser. Es war ja nichts Menschliches in der Stimme gelegen, die er eben gehört hatte.

Er war sich also ganz klar darüber, was der nächste Tag bringen würde, und obgleich er es mit großer Ruhe aufnahm, wie es einem alten Krieger ziemt, verspürte er doch keine Lust mehr, diese Nacht weiter zu schlafen. Er kleidete sich darum an und verwendete darauf ebenso große Sorgfalt, als wäre er zur Musterung einberufen worden: weißes Stärkhemd, Vatermörder und seine besten schwarzen Kleider. Das weiße Haar kämmte er, bis es wie Silber glänzte und kratzte die Bartstoppeln von Wangen und Kinn. Er dachte daran, daß gar bald nicht mehr er selbst, sondern ein anderer sich seiner irdischen Hülle annehmen würde, und da wollte er, daß sie sich in guter Verfassung befände.

Dann rückte der Oberst einen Lehnstuhl an ein Fenster, suchte die alte Bibel seiner Mutter hervor, und setzte sich mit ihr auf den Knien nieder, um zu warten, bis es so hell wurde, daß er zum Lesen sehen konnte. Es währte auch nicht allzulange, da kamen ein paar rote Wölkchen im Osten zum Vorschein, und bald war die Finsternis verjagt, wenn es auch noch eine geraume Meile dauern mußte, bis man die Sonne selbst zu Gesicht bekam.

Nun setzte der Oberst die Brille auf die Nase und las ein paar Seiten. Dann sah er vom Buche auf und grübelte nach. Es war ja kein Geistlicher zur Hand, der ihm zurechthelfen konnte, er saß ganz allein da und versuchte mit unserem Herrgott irgendwie ins reine zu kommen.

In seinem langen Leben hatte der Oberst eine ganze Reihe von Dingen mitgemacht, die nicht gerade so beschaffen waren, daß er in einer solchen Stunde gerne daran zurückdachte. Wie er so in dem Buche las, vernahm er starke, drohende Worte von jenem Gotte, der die Sünde haßt; und dabei stieg eine drückende Erinnerung nach der anderen in ihm auf. Es waren große Dinge und kleine. Manche konnte er ohne weiteres herausgreifen und sagen, was daran war, aber da waren auch andere, mit denen er nicht so rasch fertig werden konnte. Auf welche Seite des Rechenschaftsbuches sollte er solches aufschreiben, das übel ausgegangen war, obwohl er es ursprünglich nicht böse gemeint hatte, oder solches, das er auf Befehl ausgeführt hatte, oder solches, das er sich selbst nie als Sünde angerechnet hatte, aber das nach diesem Buche hier wohl so genannt werden mußte?

Er hatte wohl auch allerlei auf der Haben-Seite zu buchen, aber auch damit ging es ihm nicht anders. Je länger er an die Sache dachte, desto unsicherer wurde er, was er sich zugute schreiben durfte. Er sah keine Möglichkeit, mit klarer, geordneter Rechnung vortreten zu können. Und da der Oberst ein stolzer und ehrlicher Mann war, litt er unter der Schmach, sich vor seinem Schöpfer als ungetreuer Hausvogt zeigen zu müssen und nicht vor ihm bestehen zu können.

Er wurde immer düsterer und mißmutiger, je längerer in seiner Seelenprüfung fortfuhr. Ein eiskalter, pechschwarzer Strom der Sünde und Erbärmlichkeit wälzte sich heran und überflutete ihn. Er war schon drauf und dran, den Humor zu verlieren, und das war das letzte, das er an einem solchen Tage einbüßen wollte.

Unterdessen hatte sich der Himmel immer mehr erhellt, und plötzlich kamen die ersten Sonnenstrahlen herangeeilt und vergoldeten die schwarzen Buchstaben in der Bibel des Obersten.

Da hob der Alte den Kopf und blickte nach Osten, wo der große Sonnenball den Himmel hinanrollte, glänzend und majestätisch, und von der Welt Besitz ergriff.

Und vor diesem Schauspiel mußte er wohl irgendwie zu der Erkenntnis gekommen sein, daß er bald einem Wesen entgegentreten würde, von so wunderbarer Herrlichkeit, daß es ihm nicht möglich war, es zu erfassen oder zu begreifen. Er, der der Sonne ihre Bahn vorschrieb, er war einer, der nicht rechnete, wie wir rechnen, nicht maß, wie wir messen. Es lohnte nicht, hier zu sitzen und sich zu ängstigen und zu bangen. Vor ihm kam doch alles zu kurz vor ihm, der die Kraft und das Licht war, die Freude und das Wunder.

Der Oberst klappte das Buch zusammen, erhob sich und legte die geballte Faust darauf. »Mit dir kann ich nicht zurechtkommen,« sagte er. »Aber vielleicht ist es leichter die Sache in Ordnung zu bringen, wenn ich zum König komme, als wenn ich's beim Untergericht versuche.«

Damit begab sich der Oberst mit wiedergewonnener Seelenruhe zum Schreibtisch, nahm Feder und Papier zur Hand und zeichnete auf, wie er sein Begräbnis angeordnet haben wollte. Auch verfügte er, daß sein altes Pferd erschossen werden sollte, und der, der den Schuß abgab, sollte einen kleinen Silberbecher für die Mühe haben.

Er schloß auch seine Rechnungen ab, zeichnete auf, was er besaß und was er schuldig war und bestimmte, wem seine Möbel und Hausgeräte zufallen sollten. Das Meiste schenkte er einem kleinen Mädchen, dem jüngsten Kind des Hauses, in dem er wohnte. Dieses Kind hatte dem Obersten immer große Liebe bewiesen und hatte stets bei ihm in der Stube sitzen wollen, wenn er arbeitete. Dies wollte er nun vergelten, so gut er es konnte.

Bis alles niedergeschrieben und geordnet war, zeigte die Uhr schon acht, und dann hatte der Oberst seine gewöhnlichen Morgenarbeiten zu verrichten. Er fegte die Zimmer, sah nach dem Pferde und bereitete seinen Morgenimbiß. Aber als es gegen zehn ging, war er mit allem fertig, und nun stand es ihm frei, diesen seinen letzten Tag so anzuwenden, wie es ihn gut dünkte.

Er sagte sich selbst, daß er den Tag in irgendeiner besonders festlichen Weise verleben müsse. Er konnte ihn doch nicht so hingehen lassen wie alle anderen.

Lange saß er auf einem Schaukelbrett vor dem Bauernhof und grübelte nach. »Nein, heute habe ich keine Lust, mich hinzusetzen, und Fäden in mein Gewebe zu knüpfen,« dachte er. »Der Teppich wird ja doch auf keinen Fall fertig. Ich will das Karriol anspannen und irgendwohin fahren. Mein letzter Tag! Es schickt sich nicht für jemanden, der so Großes erlebt hat wie ich, ihn in einem Bauernhof zu verbringen, unter Leuten, die nicht einmal wissen, wer ich gewesen bin.«

Die Lebenslust flammte mit der ganzen einstigen Kraft in dem Obersten auf. Er sagte sich, er wolle diesen Tag reich und glänzend machen.

Er wollte in die Welt hinausfahren, wollte noch einmal die früheren Freuden genießen. Von allen konnte er ja nicht mehr kosten, aber eine oder einige, die besten, die süßesten.

Der Oberst sprang eilig auf, ging in den Stall, spannte das Pferd ein und holte seinen alten Uniformmantel, der trotz lebenslänglichen Dienstes noch nicht abgetragen war, legte ihn hinter sich in das Karriol und fuhr vom Hofe weg. Er fuhr geradeaus, bis zu einer Stelle, wo nicht weniger als fünf Wege sich begegneten.

Hier hielt der Oberst das Pferd an, denn gerade hier mußte es sich entscheiden, von welcher Art die Freude sein sollte, die er an seinem letzten Tag genießen wollte. Diese fünf Wege konnten ihn zu all dem führen, was für ihn noch irgendwelche Lockung barg.

Gerade vor ihm lag die große Landstraße, die nach Karlstad ging. Er konnte sie einschlagen und in ein paar Stunden dort sein. Ein paar gute Freunde aus alter Zeit hatte er noch in der Stadt. Er konnte sie im Gasthof versammeln und ein Fest feiern. Sie würden miteinander scherzen und sich tolle Geschichten erzählen, sie würden edlen Wein trinken und Bellman singen. Und zuletzt würden sie auch ein Spielchen machen. Zitterte der Oberst nicht vor Sehnsucht, noch einmal die blanken Karten zwischen seinen Fingern zu halten? Er war ja einmal der wilde Beerencreutz gewesen, der unverbesserliche Spieler, der ein ganzes Vermögen auf eine Karte setzen konnte! Sehnte er sich nicht nach dem Anreiz des Spiels mehr als nach irgend etwas anderem von all dem, was er in den Jahren seiner Armut hatte entbehren müssen?

Aber der Oberst saß still im Karriol, ohne das Pferd zu mahnen, auf den Weg zur Stadt einzubiegen. Es war solch ein wunderlicher Wunsch in ihm, an diesem Tage. Er hätte einen Weg einschlagen mögen, der nicht bei irgendeinem Ziel aufhörte, das er schon kannte. Er wollte zu etwas Unbekanntem kommen. Er wollte einem Wege folgen, der ihn weit fort in das Unendliche führte. Das war ein ungereimter Wunsch vom Obersten, aber er bewirkte es doch, daß er sich von dem Wege nach Karlstad ab- und einem anderen zuwandte.

Rechts vom Karlstader Weg lief ein anderer der ihn nach Troßnäs führen würde, dem großen Exerzierfeld, wo die Värmländerjäger in diesen Tagen zu Waffenübungen versammelt waren. Der Oberst wußte, wenn er, der alte Kommandant, hinkäme, das Regiment ihn, zur Parade aufgestellt, empfangen würde. Die Gesichter der jungen grünen Jäger würden ihm entgegenstrahlen, denn sie kannten sehr wohl den Ruf der Tapferkeit, der ihn umschwebte. Die Regimentsmusik würde schmettern, die Trommeln wirbeln und die liebe Fahne in der Luft über seinem Haupte wehen. Er würde alte Offiziere treffen, die noch zu seiner Zeit in den Dienst getreten waren, und mit ihnen würde er die Tage seines Ruhms wieder durchleben und seine alten Heldentaten wieder erzählen und preisen hören. Wollte der Oberst nicht an seinem letzten Tage die Zeiten wieder leben, wo er vor Lust glühte, sich fürs Vaterland zu opfern? Wollte er nicht noch einmal in diesen Reihen stehen, die er einst zu blutigem Kampf und ruhmvollem Sieg geführt? Gab es eine stattlichere Art für ihn, dem Tode zu begegnen als dort drüben, wo noch Menschen lebten, die von der Zeit seiner Größe und seines Ruhms Zeugnis ablegen konnten?

Einen Augenblick sah es aus, als wollte der Oberst das Pferd in der Richtung nach Troßnäs lenken, aber nur einen Augenblick. Diese seltsame Sehnsucht, die sich seiner bemächtigt hatte, nach einem Wege, der kein Ende hatte, der zu etwas unsäglich Fernem führte, zwang ihn, sich nach einer anderen Seite zu wenden.

Links von dem Wege nach Karlstad stand eine Allee mit schönen Bäumen, die konnte Beerencreutz in kürzester Frist zu dem größten Herrenhof der Gegend führen, wenn er es nur wollte. Und in diesem Herrenhof regierte noch heute die schöne, die gefährliche, die unwiderstehliche hohe Dame, die Beerencreutz einmal geliebt hatte. Sie war jetzt alt, auch sie, aber sie war doch viele Jahre jünger als er, und überdies konnte eine Frau wie sie nie aufhören, reizend zu sein.

Beerencreutz wußte, daß, wenn er sie nach all den langen Jahren der freiwilligen Trennung an diesem letzten Tage seines Lebens aufsuchte, sie ihn zu einem Tage im Paradiese gestalten würde. Wie in seiner Jugend würde er mit ihr durch hohe Säle über spiegelblankes Parkett gehen. Reichtum und Überfluß würde ihn umgeben, wie sie sie umgaben. Er würde einmal wieder aus der Armut und dem Elend seines einsamen Alters herauskommen. Wollte er nicht noch einmal Menschen sehen, mit seinen Sitten, mit weich klingenden Stimmen, mit schönen Gewändern, mit verbindlichen Redewendungen? Wollte er nicht noch einmal unter seinesgleichen leben? Wollte er nicht den einzigen kurzen Liebestraum seines Lebens noch einmal träumen?

Beerencreutz wandte das Pferd nach dieser Seite, aber er zog auch diesmal die Zügel wieder an. Auch dieser Weg führte zu einem bestimmten Ziel. Er konnte sehen, wo er aufhörte. Er führte nicht weit fort zu dem Unbekannten, zu dem, wovon er einen süßen Vorgeschmack auf den Lippen fühlte, obgleich er nicht wußte, was es war, oder wie er es finden sollte.

Da war ein anderer Weg, der ging nach Nordwesten, und wenn Beerencreutz ihn einschlug, dann kam er zu dem Hause, das er geliebt hatte, zu dem größten Eisenwerk im Värmland, zu dem Ekeby der Majorin und der Kavaliere. Da wohnte heute wohl niemand, den er kannte, aber er wußte, daß alle Türen weit aufspringen würden, wenn der berühmte Kavalier käme, einer der letzten aus der Schar, die den Hof zu einem Heim der Freude und des Gesanges gemacht hatten, zu einem Reich des Tanzes und der Abenteuer. Der Kavaliersflügel würde ihn mit einer ganzen Welt von Erinnerungen empfangen. Der stolze Gießbach donnerte noch drohend an einer Schmiede vorbei, die Beerencreutz miterbaut hatte. Wollte der Oberst nicht noch einmal Ekebys Schönheit und die Herrlichkeit der Natur am langen Lövensee schauen? Wollte er nicht fühlen, wie seine Augen feucht bei der Erinnerung an die Menschen wurden, die sein Leben reich und seine Tage kurz gemacht hatten? Wollte er sie nicht aufs neue vor die Augen seiner Seele treten sehen, die stolze Majorin, die schöne Marianne, den bösen Sintram, den großen Bezauberer, Gösta Berling?

Noch einmal schüttelte Beerencreutz den Kopf. »Ich hätte einmal hingehen sollen,« dachte er, »aber nicht heute. Jetzt muß ich dahin fahren, wo ich jenen Durst stillen kann, den ich in mir fühle, jenen Durst nach etwas, das unmöglich zu erreichen ist.«

Er wandte die Augen dem letzten Wege zu. Wenn er diesen wählte, so kam er, wenn der Tag sich neigte, zu einem kleinen Häuschen, das Lövdala hieß und Liljecrona, dem großen Geiger gehörte. Es war ein kleines, unscheinbares Gehöft. Das einzige, was er da genießen konnte, war ein bißchen Musik.

Aber als der Oberst diesen Weg sah, fühlte er, daß er nach dieser Richtung fahren mußte. Diese Sehnsucht, die den ganzen Tag in ihm gelebt hatte, zog ihn dorthin.

Der Oberst wunderte sich beinahe selbst darüber, daß er so wählte, aber er fuhr doch auf jeden Fall den Weg weiter. Ziemlich spät am Tage kam er nach Lövdala, und wurde dort wohl aufgenommen und bewirtet. Liljecrona freute sich, einen Mann aus jenen denkwürdigen Ekebyer Tagen zu treffen, und wie immer, wenn er sich irgendwie bewegt fühlte, nahm er die Geige hervor und fing an zu spielen.

Aber Liljecrona war jetzt alt, auch er, und er spielte nicht mehr wie einstmals in der Welt. Es klang jetzt, als wäre sein Spiel suchend und zögernd. Man hätte sagen können, daß er zu etwas Neuem hintasten wollte, daß er sich in irgend etwas zur Klarheit spielen wollte, worüber er nachgrübelte und das auszusprechen Worte nicht hinreichten.

Es gab Leute, die sagten, Liljecronas Musik tauge jetzt nicht so viel wie ehedem, und auch der Oberst hatte das Gerücht gehört, daß er zurückgegangen sei. Aber wie er nun da saß und ihm lauschte, fühlte er mit einemmal auf seinen Lippen einen Vorgeschmack von etwas unbeschreiblich Süßem und Lockendem. Er, der in wenigen Stunden sterben sollte, begriff, daß Liljecrona daran war, einen Weg zu bahnen, der nie zu einem Ziele kommen konnte, einen Weg, den er weiter bauen wollte, immer weiter, bis in die Unendlichkeit.

Und während er lauschte, wie die Musik sich durch Zweifel und Hindernisse hindurchkämpfte, um weiter zu dringen, als Gedanke und Ahnung, wurde ihm so weich ums Herz, daß er anfing, seinem Gastfreund zu erzählen, was für einen Besuch er in dieser Nacht gehabt hatte, und wie er nun sicher wüßte, daß dieser Tag sein letzter sei.

Das rührte Liljecrona.

»Und weil du das wußtest, Bruderherz, darum bist du heute zu mir gekommen?« fragte er.

»Ich fuhr nicht deinethalben hierher, Bruderherz,« sagte Beerencreutz, und seine Augen starrten mit einem wunderlich leeren Blicke vor sich hin. »Es wird wohl so sein, daß ich nach Lövdala gefahren bin, um dein Spiel zu hören, Bruder. Jetzt, wie ich so hier saß und dir zuhörte, dachte ich mir, daß es dies und nichts anderes gewesen sein kann, was ich an einem solchen Tage hören wollte. Siehst du, Bruderherz, es ist etwas Eigenes um die Musik.«

»Ja, gewiß,« sagte Liljecrona, »da hast du recht, Bruder. Es ist etwas Eigenes um die Musik.«

»Ja,« sagte der Oberst, »vielleicht ist es das, daß sie nicht recht auf der Erde daheim ist. Herrgott, Bruder, wenn man es so recht bedenkt, so ist sie doch rein nichts. Man kann sie nicht zu fassen kriegen, und sie kann einem nichts sagen, was man versteht und begreift. Glaubst du nicht, Bruderherz, daß die Musik die Sprache ist, die dort droben gesprochen wird,« fuhr er fort und wies mit der Hand nach oben, »wenn auch nur ein schwacher Widerhall zu uns hinunter dringt?«

»Du meinst, Bruderherz – – –,« sagte Liljecrona, dem es nicht leicht fiel, die Worte zu finden, wenn es sich um Dinge handelte, die besser gespielt wurden.

»Ich meine, daß sie der Erde und dem Himmel angehört,« sagte Beerencreutz. »Sie ist wohl als ein Weg für uns zu jenem anderen hinüber gedacht. Und nun sollst du weiter an diesem Wege bauen, so daß ich noch ein Weilchen dem zuwandern kann, das kein Ende hat.«

Das tat Liljecrona. Er spielte sein eigenes Suchen und sein eigenes bebendes Wundern, und der alte Oberst saß an dem stillen Sommerabend da und lauschte. Plötzlich sank er zusammen und fiel zu Boden.

Liljecrona eilte zu ihm hin. Er wurde aufgehoben und auf ein Bett gelegt.

»Mir ist gut,« sagte er, »ich gehe auf dem Wege zwischen Himmel und Erde. Dank sei dir, Dank, Bruderherz.«

Mehr sagte er nicht. Und ein paar Stunden darauf war er tot.


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