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Anders Fryxell

Zur Enthüllung der Fryxell-Büste vor der Kirche in Sunne,
24. Sept. 1910.

Nun will ich mich einmal an einen schönen Sommersonntag zurückversetzen. Es ist lange her, wohl vierzig Jahre. Ich war damals ein kleines Mädchen von zehn bis zwölf Jahren. Wir waren mit allen Fahrgelegenheiten, die wir nur hatten, ausgezogen; der Landauer, die Chaise, der Karren und der Großmutterwagen, alles war ausgerückt. Aber dafür waren wir auch alle mit, Vater und Mutter und die Geschwister, und unser Sommerbesuch, und das ganze Hausgesinde. Es war etwas Ungewohntes und Festliches um diesen Tag, und das ist wohl der Grund, daß ich mich noch heute an ihn erinnere. Als wir das Dorf hinter uns gelassen hatten und auf die Landstraße gekommen waren, da sahen wir eine lange Reihe von Wagen vor uns, und über alle Wege und Stege kamen Wanderer, die zur Kirche eilten. Und als wir zum Kirchenplatz kamen, da waren die langen Steinmauern ganz von wartenden Menschen verdeckt, und nie zuvor hatte ich so viele abgeschirrte Pferde vor dem Gemeindehaus gesehen.

So klein ich war, wußte ich doch ganz genau, was so viele Leute in die Kirche gelockt hatte. Es war das Gerücht, daß Propst Fryxell oder der Professor, wie wir damals sagten, in unserer Kirche predigen würde. Wir gehörten ja zu seinem Pastorat, wenn wir auch in einer kleinen Nebengemeinde wohnten, und einmal im Jahr pflegte er zu kommen und bei uns zu predigen. Ich hatte ihn noch nie gesehen, denn ich war zu klein, um zu den großen Gesellschaften im Sunner Pfarrhof mitgenommen zu werden, und auch sonst hatte ich ihn nirgends zu Gesicht bekommen. Aber um so mehr hatte ich von ihm gehört. Ich wußte, daß er ein großer und berühmter Mann sei; es gab keinen lebenden Mann in Vermeland, der so berühmt wäre wie er. Er hatte die Geschichte Schwedens in vielen, vielen Teilen geschrieben, und er schrieb sie noch immer weiter. Ich war sehr gespannt, was ich zu sehen bekommen würde. Alle diese Menschen, die um seinetwillen zusammengeströmt waren, stimmten mich sehr erwartungsvoll und feierlich.

Der Wagen des Professors stand auf dem Kirchplatz als wir kamen, aber ihn selbst sah ich nicht. Er war schon in der Sakristei. Ich bekam ihn erst zu sehen, als er die Kanzel bestieg.

Es war nicht ganz derselbe Mann, den wir hier im Bilde sehen. Er war jünger, die Gestalt war ungebeugt und kräftig, das Haar hing nicht so tief auf die Schultern. Aber ein alter Mann war er, mit schneeweißem Haar und einem tiefgefurchten Gesicht. Doch mit diesem Gesicht war es sehr merkwürdig; man konnte nicht müde werden, es zu betrachten. Man hätte nicht sagen können ob es schön sei, aber es fesselte einen ganz und gar. Es waren ja noch andere alte Männer in der Kirche, aber keiner sah so aus, daß man den Blick nicht von ihm verwenden konnte.

Damals konnte ich mir nicht erklären, was es war, das mich so ergriff. Jetzt verstehe ich, daß das ganze Gesicht vergeistigt war, verklärt von all der seelischen Arbeit, die hinter dieser breiten Stirn verrichtet worden war.

Aber außer dem Gesicht setzte mich noch etwas anderes in Erstaunen. Nämlich, daß ich alles, was dieser Prediger sagte, hören und begreifen konnte. Ich war ja schon öfter in der Kirche gewesen; aber die anderen Prediger bedienten sich so seltsamer Worte, daß ich unmöglich verstehen konnte, wovon sie sprachen. Aber dieser gelehrte alte Mann sprach so, daß ich jedes Wort begriff. Es war wunderbar, das verstehen zu können, was in der Kirche gesagt wurde. Und die Predigt schien mir weder lang noch ermüdend, wie sie es sonst zu sein pflegte.

Ja, so weit war alles gut gegangen, aber dann war der Gottesdienst zu Ende, und wir verließen die Kirche.

Vater und Mutter waren ja seit altersher mit dem Propst und seiner Familie befreundet. Sie standen lange da und plauderten mit ihm und seinen zwei Töchtern, und schließlich riefen sie uns Kinder, und wir mußten herankommen. »Wer ist denn dieser kleine Junge? Und wer ist dieses kleine Mädchen?« fragte der Professor, während er uns die Hand reichte, und nun sollten wir laut und deutlich sagen, wie wir hießen, denn der Professor war ein klein wenig schwerhörig.

Ich glaube, die anderen machten ihre Sache gut, sie antworteten deutlich und freimütig, aber mir ging es schlimm. Vor diesem großen und merkwürdigen Mann mit den Silbersternen an der Brust zu stehen, vor ihm, der mehr Bücher geschrieben, als ich noch gelesen, ihm, der so ganz anders war als irgend jemand, den ich bisher gesehen – und laut und deutlich antworten. Das war unmöglich. Ich konnte kein Wort herausbringen.

Auf dem Heimweg saß ich da und schämte mich, weil ich so dumm und scheu gewesen war.

Aber heute bin ich gar nicht so gekränkt darüber, daß es so ging, wie es eben ging. Es war eine überwältigende Persönlichkeit, die mir die Kraft raubte, etwas zu sagen. Und diesen Eindruck von etwas Großartigem und geistig Mächtigem, den habe ich noch. Er überkommt mich jedesmal, wenn ich an den alten Geschichtsschreiber denke. Ich empfinde nur selten etwas Derartiges, wenn ich vor den großen Männern von heute stehe. Ich weiß nicht, ob das daher kommt, daß ich ihn mit den vergrößernden Augen eines Kindes sah, oder ob die Menschen jener Zeit nach größerem Maßstabe geschaffen waren.

Dies war das erstemal, daß ich Anders Fryxell sah. Jetzt möchte ich auch etwas von der letzten Erinnerung erzählen, die ich von ihm habe.

Es war im Sunner Pfarrhof an einem Septemberabend. Da war Gesellschaft, aber nur für einige wenige Menschen aus dem engsten Kreis. Der Pfarrhof war eben umgebaut worden. Und ich glaube, der Zweck der Gesellschaft war, daß wir uns die neue Wohnung ansehen sollten.

Und wir gingen durch die Räume und sahen uns um, und so mancher Vergleich wurde gezogen. Die Älteren waren wohl ein wenig wehmütig über alle die Veränderungen.

Sie sprachen von den großen Festen, die sie im Pfarrhof miterlebt hatten, und fragten sich, ob wohl Freude und Gastfreundschaft in den neuen Räumen ebenso heimisch sein würden wie in den alten.

Ich glaube, daß sie sich im Arbeitszimmer des Propstes am wohlsten fühlten. Da konnte man am ehesten vergessen, daß man in einem neuen Hause war. Die großen Bücherregale bekleideten das ganze Zimmer wie zuvor. Da stand der gewaltige Schreibtisch in Hufeisenform, den alle kannten. Auf diesem Schreibtisch hatten zuweilen bis zu zwanzig Kerzen gestanden, um alle Folianten und Notizen zu beleuchten, die ihn bedeckten. Und in der Ecke stand ein alter knorriger Stock, der auch eine Merkwürdigkeit war. Diesen Stock pflegte der Professor immer in der Hand zu halten, wenn er seinem Sekretär diktierte. Zum Spazierengehen benützte er ihn nie, aber er konnte keinen Satz diktieren, ohne ihn in der Hand zu halten.

Als die Hausbesichtigung beendet war, versammelten wir uns im Salon. Es war recht still und gedrückt da drinnen. Man sprach leise, so, als hätte man Angst, jemanden zu stören.

Denn der Professor saß mitten unter uns, und er war jetzt sehr alt. Nun sah er aus wie hier auf der Büste, ein müder Arbeiter, der nicht mehr Kraft für des Tages Mühen hatte, sondern sich nur nach Ruhe sehnte. Man wußte nicht recht, ob er mit seinen Gedanken bei uns war, und etwas Ängstliches und Gedämpftes legte sich auf die kleine Versammlung.

Und so nahm man seine Zuflucht dazu, laut zu lesen. Der Vizepastor las Verse von Snoilsky, Wirsén und anderen, die man damals zu lesen pflegte.

Zum Schlusse las er auch Snoilskys Gedicht Benvenuto Cellini, und in seiner Stimme war ein warmer Klang, als er die Schlußzeilen las:

Die schönsten Werke seiner eignen Hand
Warf in den Ofen er, – ein Feuergrab,
Draus makellos der hohe Gott erstand.
Manch junger Traum war's, den er dafür gab.
So mußt du auch im Leben Opfer bringen,
Soll dir sein Bau aus einem Guß gelingen.

Als er zu Ende gelesen hatte, sah er zu dem Alten auf.

»Das haben Sie auch getan, Herr Professor,« sagte er. »Sie haben sich immer nur an eines gehalten. Darum haben Sie auch ein großes Werk vollbringen können.«

Der Alte richtete sich ein wenig empor und nickte ein paarmal bekräftigend. Dabei flog ein feines Lächeln über sein Gesicht.

»Ja, das ist wahr, ich habe mich all mein Lebtag an die Geschichte gehalten. Haben Sie schon gehört, Herr Pastor, wie ich's anfing, Geschichte zu studieren?«

Und damit begann er zu erzählen. Ich glaube nicht, daß er daran dachte, daß wir anderen auch zuhörten, aber wir lauschten darum nicht weniger aufmerksam. Von dem Augenblick an, wo er in seinen Erinnerungen zu leben begann, war er nicht mehr ein hinfälliger Greis, sondern jetzt war er der Starke. Er war der, der uns führte, wohin er wollte.

Zuerst geleitete er uns in sein Kindheitsheim, in den Heßleskoger Pfarrhof, unten in Dalsland an einem dunklen Herbstabend anno 1803 oder 4. Draußen war es dunkel und kalt, tiefe Stille auf Wegen und Stegen, die ganze Gegend schlummerte, nur aus einem einzigen Fenster glänzte ein Lichtschimmer. Der kam aus dem Pfarrhof, aus dem Schlafzimmer des Propstes.

Da lag der Propst Mathias Fryxell und las beim Scheine einer Talgkerze, die auf einem Stuhl neben dem Bett stand. Daran war nichts Ungewöhnliches, denn der Propst pflegte immer bis tief in die Nacht dazuliegen und zu lesen. Er war ein gelehrter Mann und konnte sich nie genug Wissen erwerben.

Aber wenn ein Vorübergehender sich zum Fenster geschlichen und hineingeschaut hätte, dann wäre es ihm wohl recht drollig und seltsam vorgekommen, einen kleinen Jungen, ein Knirpschen von sieben Jahren, dasitzen und bei derselben Kerze wie der Vater lesen zu sehen. Der Kleine hatte ein paar große Bücher zum Stuhl geschleppt, und auf diesem saß er im bloßen Hemdchen und las in einem ehrwürdigen Folianten.

Es war kalt im Zimmer, das konnte man sich denken, denn Doppelfenster gönnten sie sich im Pfarrhof nicht, und ein Kachelofen, der die Wärme bewahrt hätte, war auch nicht da, nur ein offener Herd.

Drum sagte der Vater, als sie eine Weile gelesen hatten:

»Geh Er und leg Er sich nieder, Anders. Er erfriert mir ja.«

Aber der Kleine gehorchte nicht. Er war so abgehärtet, daß er gar nicht wußte, was das heißt, frieren. Jeden Tag lief er mit dem Hirtenbuben durch Wald und Feld, barfüßig, nur mit einem kurzen kleinen Kittelchen bekleidet. Er wollte nämlich ein starker, gewaltiger Recke werden. Er, der kletterte und ritt und schwamm, und sich in allen Leibeskünsten übte, wollte nichts davon hören, daß er der Kälte wegen ins Bett kriechen solle.

Der Vater ließ ihn auch noch ein Weilchen sitzen, aber bald kamen ihm neue Bedenken. Es ging auf Mitternacht, und das Kind mußte schlafen.

»Geh Er und leg Er sich nieder, Anders. Er schläft mir ja beim Buch ein.«

Aber auch jetzt rührte sich der Knabe nicht. Das dicke Buch, in dem er las, hieß »Björners Heldensagen«, und es erzählte Sagen von alten Recken und Wikingern, von Frithjof dem Starken und Rolf Krake und wie sie nun alle hießen. Ein herrlicheres Buch gab es nicht. Das wußte der Vater auch. Er liebte ja selbst Sagen und Abenteuer. Es konnte nicht sein Ernst sein, daß der Sohn schon jetzt schlafen gehen solle.

Und es wurde weitergelesen. Aber nach einer Weile hieß es:

»Geh Er und leg Er sich nieder, Anders. Ich muß jetzt auslöschen. Es geht nicht, daß wir Mutter noch mehr Lichte verbrennen.«

Da schlug der Knabe gleich das Buch zu und hüpfte ins Bett, denn wenn es sich um Mutter handelte, da konnte er auf alles verzichten, was es auch sein mochte.

Mutter war das Beste und Herrlichste auf der Welt. Mutter regierte und lenkte alles, während Vater nur an seine Bücher und Predigten dachte. Aber sie hatte es recht schwer, Mutter, weil sie so viel Geld schuldig waren, das sie sich zu bezahlen mühte. Mutter sparte und rackerte sich ab, sie nähte und spann; sie war immer beschäftigt; sie fuhr nach Åmal und verkaufte Butter auf dem Markt; sie hielt das Gesinde zur Arbeit an und fand noch immer Zeit, an alle Armen im Kirchspiel zu denken. Und wenn Mutter wollte, daß sie die Talglichte sparten, dann mußte es geschehen, da gab es keine Widerrede. – – –

Ich kann mich heute nicht an alles erinnern, was der Alte erzählte. Eine Geschichte aus seiner Kindheit folgte auf die andere. Der junge Pastor, zu dem er sprach, hatte sicherlich manche Dämmerstunde so mit ihm gesessen. Er kannte die Wege, die die Gedanken des Alten zu wandern pflegten. Hie und da machte er eine Bemerkung, um ihn auf eine neue Geschichte zu bringen.

»Sie sind auch darin aus einem Guß, Herr Professor, daß Sie dieselben Ansichten über Recht und Unrecht ein ganzes Leben lang bewahrt haben, ohne je zu schwanken,« sagte er.

»Das ist zuviel gesagt,« antwortete der Alte. »Aber nun will ich Ihnen etwas erzählen, Herr Pastor, was mir eine gute Stütze war, als mein Charakter sich bildete.« Und er begann wieder. –

Es war im Winter 1812. Er studierte damals auf dem Gymnasium in Karlstad und war nun auf dem Wege nach Hause, um Weihnachten zu feiern. Dieses Heimfahren von der Schule war das Herrlichste und Beste, was das Leben damals bot. Aber als er sich dem Hause näherte, da wurde ihm ängstlich zumute, und er fragte sich, was ihm da wohl begegnen würde.

Es hatte in letzter Zeit um Vater nicht zum besten gestanden. Er war in Schwermut und Untätigkeit versunken, aus Kummer über den traurigen Lauf der Dinge.

Vater war das Kind einer anderen Zeit, der Zeit, die nach dem Sturz Karl des XII. kam, als jedermann sich anstrengte, das Land durch friedliche Arbeit wieder aufzurichten. Da hatte er gelernt, die nützliche Arbeit und den Fortschritt zu lieben und alles zu hassen, was die störte. Er dachte immer mit Freuden an diese Jahre zurück, da Schweden vom Volke selbst regiert worden war und es keine Königsmacht gab, die die Entwicklung durch lange Kriege hindern und die Reichseinkünfte durch teure Lustbarkeiten gefährden konnte. Aber Vater war in seinen sehnlichsten Wünschen immer enttäuscht worden. In seiner Jugend kam Gustav III., der der Freiheit ein Ende machte, das Reich in Schulden stürzte, Kriege anzettelte und schließlich den Absolutismus einführte. Jetzt, auf seine alten Tage, war es sein Trost und seine Freude gewesen, die französische Freiheitsbewegung zu verfolgen. Er hatte erwartet, daß die Freiheit in alle Länder ihren Einzug halten werde, auch in sein eigenes, aber dann war Napoleon gekommen und hatte dem Traume ein gewaltsames Ende bereitet. Ganze Weltteile wurden durch blutige Kriege verheert, Länder verarmten, der Fortschritt wurde unterbunden. Die Jugend träumte nur von kriegerischen Heldentaten, von friedlichem Streben wollte niemand reden hören. Aber darum haßte Vater auch Napoleon. Er hatte sogar mit Gustav Adolf IV. Nachsicht, weil er gegen den Tyrannen kämpfte. Aber seit der König gestürzt und Finnland verloren gegangen war, seit Schweden einen französischen Marschall zum Thronfolger hatte und sich mit Napoleon verbündete, da hatte der Propst von Heßleskog alle Hoffnung aufgegeben. Er hatte sich vorzeitig alt gegrämt, er las keine Zeitungen mehr, er wollte nichts von der Welt wissen, in der es so traurig zuging.

Wie würde er den Vater wohl jetzt finden, wenn er heimkäme? Konnten sie ein frohes Fest feiern, wenn Vater noch immer so umdüstert war?

Während er noch darüber nachgrübelte, fuhr der Schlitten in den Hof, die Haustür wurde aufgerissen, die Eltern eilten heraus, und er merkte sofort, daß ihre Stimmen fröhlich klangen wie ehedem. Als er den Pelz abgelegt hatte und in den Eßsaal trat, sah er den Vater mit Staunen an. Seine Gestalt hatte sich gleichsam wieder aufgerichtet. Er sah verjüngt und kräftig aus. Es mußte ihm etwas Gutes widerfahren sein, etwas, wovon der Knabe nichts wußte.

Er bekam zu essen, er lachte und war glücklich, aber wagte nicht zu fragen, was geschehen sei.

Doch bald nahm der Vater den Sohn bei der Hand und führte ihn in sein Arbeitszimmer: »Komm Er mit mir, Anders, Er soll etwas Neues sehen.«

Und er zeigte ihm große Karten von Polen und Rußland, die auf dem Schreibtisch ausgebreitet lagen, und da begriff der Sohn, was den Vater neu belebt hatte. Denn dies war ja das Jahr, in dem Napoleon seinen Einfall in Rußland gemacht hatte, aber zum Rückzug gezwungen worden war und sein ganzes Heer verloren hatte. Der alte Propst war ihm hier auf der Karte gefolgt und hatte ein großes Tintenkreuz an jede Stelle gemacht, wo er eine Niederlage erlitten hatte.

»Jetzt, Anders, ist es zu Ende mit diesem Volkszerstörer, diesem Tyrannen, diesem Freiheitsmörder,« sagte er. »Jetzt bekommen wir wieder Freiheit, Frieden und Arbeit.«

Aber eine solche starke Liebe zur Freiheit, ein solches Leid, verursacht durch Unglück draußen in der Welt, mußte das nicht überzeugend auf den Knaben wirken? Mußte er nicht lernen, den glänzenden Helden zu verabscheuen, der unterdrückte und zerstörte? Mußte er nicht die Regierungsform schätzen, die allen, hoch wie niedrig, die Freiheit gab, für das Gute zu wirken und alle Kräfte zu Nutz und Frommen des Landes zu entfalten?

Der Vizepastor sagte etwas, wie daß der Professor auch noch in anderen Dingen aus einem Gusse gewesen sei. Er habe nie gefürchtet, seine Meinung zu sagen, auch wenn er wußte, daß es großen Anstoß erregen müsse.

»Gegen derlei bin ich schon von Jugend an gefeit worden,« sagte der große Geschichtsschreiber. Und er begann wieder zu erzählen:

Es war am Weihnachtsabend 1816, als die Zeit der großen Kriege vorüber war und man wieder das Recht zu haben glaubte, das Leben leicht zu nehmen.

Das ganze Jahr hatte Anders Fryxell in Upsala auf den Magistergrad studiert. Aber es war keine helle und fröhliche Zeit für ihn gewesen, er war in Widerspruch mit seinen Kameraden gekommen. Die meisten von diesen führten ein fröhliches Leben und tranken viel, und er hatte sich weigern müssen, an diesen Gelagen teilzunehmen, um nicht an Leib und Seele zugrunde zu gehen.

Aber das hatte man ihm sehr übelgenommen; er war aus dem Kameradenkreis ausgestoßen und tief verachtet und gehaßt.

Jetzt war es, wie gesagt, Weihnachtsabend. Er hatte nicht die Mittel, nach Hause zu reisen, Freunde hatte er keine, und so saß er den ganzen Abend einsam in seinem Studentenkämmerchen.

Da war die Sehnsucht nach Freunden und Freude plötzlich zu stark geworden. Er hatte seine Mütze genommen und war hinausgestürzt. Er wollte in den Keller gehen, wo die Kameraden versammelt waren und sie fragen, ob er nicht an diesem einzigen Abend mit ihnen sein dürfe. Sie waren ja gutmütig, und es war doch Weihnachten. Natürlich würden sie ihn zwingen, zu trinken, aber das mochte wohl dieses eine Mal hingehen. Er wurde ja wahnsinnig, wenn er länger allein dasaß.

Und so war er auf die Straße gekommen und eilte dem Keller zu. Aber ganz plötzlich machte er wieder kehrt. Er wollte doch nicht. Etwas hielt ihn zurück.

Er streifte weiter durch die Stadt. Ein Schneegestöber schlug ihm entgegen, und es munterte ihn ein wenig auf, dagegen anzukämpfen. Endlich kam er zum Stadttor hinaus, und da warf er sich in einen Schneehaufen.

Da kämpfte er seinen Kampf aus. Er konnte heute abend Frieden mit den Kameraden schließen, aber was würde es ihn kosten? Fortab konnte er dann nicht mehr nein sagen. Er fühlte, daß seine ganze Zukunft auf dem Spiele stand.

Er gedachte all der Weihnachtsabende, die er friedvoll und glücklich daheim verbracht hatte. Was würde Mutter dazu sagen, wenn er nachgäbe und mit den Saufbrüdern ein Bündnis einginge? Er kämpfte und rang mit sich; aber endlich stand er aus dem Schneehaufen auf und kehrte in sein einsames Zimmer zurück.

Aber dieser Abend im Schnee hatte ihn gelehrt, nie dem Bösen nachzugeben, nur um sich ein leichteres und fröhlicheres Leben zu verschaffen. Er hatte gelernt, zäh und hartnäckig an dem festzuhalten, was für ihn das Rechte und Erstrebenswerte war.

Nachdem der Alte all dies aus seiner Jugend erzählt hatte, kam er auf sein Lebenswerk selbst zu sprechen, auf seine Geschichte.

Er erzählte zuerst, wie er dazu gekommen sei, es zu beginnen. Er zeigte uns mit ein paar raschen Zügen einen jungen Magister, Lehrer an einer Stockholmer Schule, der eines Abends im Jahre 1822 in seinem Zimmer saß und schrieb. Vor sich hatte er ein Lehrbuch der Geschichte, ein Schulbuch, das er für eine Zeitung besprechen sollte.

Er blätterte in dem Buch, Seite auf, Seite ab. Nur Jahreszahlen und Namen, alles trocken und gelehrt, aber nichts, was Liebe einflößte – nichts, was lebendig war. Er sah seine Knaben sitzen und daran arbeiten. Was erfuhren sie aus diesen Ziffern von dem wirklichen Leben? Wie sollten sie aus diesen Aufzählungen ihr Land lieben lernen?

Es mußte doch noch ein Geschichtsbuch geben, das man ihnen neben diesem in die Hand geben könnte, so eine Art Lesebuch.

Wahrlich, in einer ganz anderen Sprache hatte er daheim von seinen geliebten Helden gelesen. Niemand würde sich wohl in langen Nächten wachhalten, um dies zu lesen.

Aber wie wäre es denn, wenn man einmal versuchte, Geschichte mit den schlichten Worten der Sage zu schreiben, in einer Sprache, die alle verstehen könnten?

Ganz plötzlich schob er das weg, woran er eben gearbeitet hatte. Und er begann die Sage von den ältesten Königen Schwedens zu schreiben, so wie sie in seiner Erinnerung lebte.

Die Feder bewegte sich fast von selbst. Das war ja kinderleicht. Ja, so könnte ich es schreiben, dachte er. Und warum sollte ich es nicht tun? Warum nicht eine kleine, kurze Geschichte für die Jugend schreiben?

So hatte er angefangen, ohne recht zu wissen, was er auf sich nahm.

Zuerst war es ganz leicht gegangen. Da hatte er sich damit begnügt, in seiner schlichten Weise zu erzählen, was die Geschichtschreiber schon erforscht hatten So machte er es in den ersten Teilen. Dann jedoch kam eine Zeit, da er sich nicht damit begnügte, anderer Wege zu wandeln, sondern auf eigene Faust Bekanntschaft mit den Gestalten der Geschichte machen wollte.

Aber es war nicht so leicht, ihrer habhaft zu werden, dieser Toten, und ihre Gedanken und Werke zu erforschen. Es galt, ihre alten Briefe und Urkunden in den Schloßarchiven zu suchen, vergilbte Handschriften zu lesen, die Beschlüsse und Reden der hohen Herren durchzusehen, ihre Rechnungen und Protokolle zu prüfen, unter Münzen und Medaillen zu forschen, in Bildergalerien Studien zu machen, in ferne Länder zu ziehen und die Schlachtfelder zu sehen, auf denen die schwedischen Fahnen geweht, den Schilderungen ausländischer Männer zu lauschen, und schließlich aus alledem das Bild der Dahingegangenen und ihrer Zeit zu entwerfen.

Aber doch war Teil für Teil geschrieben worden; ein langes Leben hatte er dem Werk widmen dürfen; seine Kräfte hatten über gewöhnliches Menschenmaß hinaus ausgehalten. Fertig war er freilich nicht geworden, doch ein guter Grund war gelegt, und andere mochten darauf weiterbauen. Sein Werk war nicht vollendet, aber das Volk in Schweden hatte doch nun ein Buch über sein Vaterland, das es lesen konnte.

Der Alte verstummte. Doch der Vizepastor brach das Schweigen.

»Wenn der junge Mann, der eine kleine, kurze Geschichte zu schreiben begann, gewußt hätte, was sie ihm an Jahren und Mühen kosten würde, da hätte er sie vielleicht gar nie begonnen.«

»Vielleicht hätte er es nicht gewagt,« sagte der Alte.

»Ich komme noch einmal auf die Worte des Gedichts von den Jugendträumen zurück, die geopfert werden müssen,« sagte der junge Mann. »Wenn Sie gewußt hätten, Herr Professor, wie viele Jugendträume das Buch vernichten würde, dann wäre es vielleicht nie begonnen worden. Ich weiß, daß Sie in jungen Jahren daran dachten, ein Dichter zu werden. Ein kleines Singspiel, das ›Vermelands-Mädchen‹, in dem das Vermelandslied vorkommt, war ja schon in einer Zeitung abgedruckt worden. Wenn Sie gleich von Anfang an gewußt hätten, Herr Professor, daß die Geschichte allem Verseschreiben ein Ende machen würde –«

»Ein leichtes Opfer,« sagte der alte Mann und lächelte. »Ein leichtes Opfer.«

»Es war doch ein Jugendtraum, der geopfert wurde, und es war nicht der einzige. Ist es nicht richtig, daß Sie gerne Gäste in Ihrem Hause sahen, gerne an unschuldigen gesellschaftlichen Freuden teilnahmen, Herr Professor? Auch das mußte geopfert werden.«

»Ja, anfangs schien es schwer,« gab der Alte zu, »doch die Geschichte gab mir Ersatz. Ich fand Gesellschaft genug. Alle Helden und Könige Schwedens sind mein Umgang gewesen.«

»Sie stammen aus einer Familie, Herr Professor, deren Mitglieder an vielen Reichstagen teilgenommen und die Schicksale des Landes gelenkt haben. Hatten Sie nicht auch daran gedacht, in dieser Hinsicht eine Rolle zu spielen? Es war ja auch der Wunsch vieler, Sie in den Reichstag zu entsenden, Herr Professor. Aber Sie weigerten sich. Ihre Geschichte nahm Ihre ganze Zeit in Anspruch. War das nicht eigentlich hart?«

»Ich empfand es einmal hart, doch die Geschichte hat mir dies Opfer vergolten. Wer hat wohl an mehr Beratungen teilgenommen als ich, wer hat mehr Feldschlachten angeführt?«

»Ist es nicht einst Ihr Traum und Wunsch gewesen, Herr Professor, da doch so viele Priester in Ihrer Familie waren, einmal einen Bischofsstuhl einzunehmen? Aber als die Zeit kam und man Ihnen einen solchen anbot, da lehnten Sie ihn ab, Herr Professor, auch um der Geschichte willen.«

»Ach, ich hatte doch ohnehin genug Kirchenkonzile und geistliche Fehden, genug Schwierigkeiten, mit der Geistlichkeit Schwedens fertig zu werden,« sagte der Alte lächelnd.

»Sie begannen Ihre Laufbahn als Lehrer, Herr Professor,« fuhr der Frager fort, »Sie liebten Ihre Schüler und wurden von ihnen geliebt. Sie schrieben Lehrbücher, Sie arbeiteten für die Volksaufklärung; auch als Sie Propst in Sunne wurden, interessierten Sie sich weiter für den Unterricht und gründeten hier in Ihrem Pastorat eine höhere Volksschule. War es nicht einer Ihrer Jugendträume gewesen, auf diesem Gebiete Großes zu wirken?«

»Habe ich nicht auch so für die Volksbildung gearbeitet?« sagte der Alte. »Habe ich nicht Tausende und Abertausende gelehrt? Hat meine Schule sich nicht über das ganze Land erstreckt?«

»Sie stammen aus einem Pfarrhaus, Herr Professor,« fuhr der junge Geistliche fort. »Sie dachten immer, wenn Sie erwachsen sein würden, ein Prediger zu werden. Sie bekamen ja auch die Stelle als Propst in Sunne, wo Ihr Oheim und Ihr Großvater vor Ihnen gewirkt hatten. Aber nach einigen Jahren mußten Sie darauf verzichten, das Predigeramt auszuüben, um Ihre Geschichte schreiben zu können …«

Jetzt war der Alte sehr ernst geworden. Er zögerte mit seiner Antwort.

»Das war ein großes Opfer,« murmelte er. »Es war vielleicht zu groß,« fuhr er mit großer Demut fort. »Ich konnte nicht anders, aber ich habe mich auf jeden Fall bestrebt, meine Geschichte so zu schreiben, daß sie den Menschen Gottes Gesetz einprägte. Ich wollte Gottes Hand in der Geschichte zeigen und auch als Geschichtsschreiber Seelsorger sein. Aber was weiß ich, ob es mir gelungen ist. Für nichts habe ich so viel Schimpf erdulden müssen wie für dies.«

Der Kopf des Greises sank auf die Brust. Nun war er wieder weit weg. Der junge Geistliche machte keinen Versuch mehr, ihn zu uns zurückzurufen.

Wir hatten dagesessen und in Andacht gelauscht. Denn ein ganzes großes Leben war an uns vorbeigezogen.

Wir hätten gewünscht, daß die Wände des Zimmers gesunken wären, daß seine Worte weit, weit hinaus ins Land hätten dringen können, so daß alle Menschen es vernommen hätten, daß, ganz für ein großes Werk zu leben und es nie und nimmer im Stich zu lassen, das Geheimnis des ehrenvollen, glücklichen Lebens ist.


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