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Eine alte Almgeschichte

Es war einmal eine Sennerin, die stand in ihrer Sennhütte und machte gerade Käse. Sie hatte beide Hände in dem Käseschaff und drückte zu, so fest sie konnte, um die Molke aus dem Käse zu pressen.

Neben ihr auf dem Herde stand ein großer Kessel, der voll Molke war. Der quirlte und brodelte, so daß das Mädchen das Gefühl hatte, er leistete ihr gleichsam Gesellschaft in der tiefen Einsamkeit. Der Hirtenbube war mit den Kühen im Walde, und die Magd, die sie während des Sommers zur Hilfe gehabt hatte, war vor ein paar Tagen mit einem Teil der Herde heimgewandert. Eigentlich hätte sie auch schon im Tal sein sollen. Der Herbst war schon angebrochen, und alle anderen Sennhütten waren verlassen; aber sie hatte bleiben müssen, denn bei der besten Kuh hatte sich das Kalben verzögert.

Während sie so dastand und dem Kessel zuhörte, kam es ihr vor, als ob er plötzlich seinen Ton änderte. Während er früher ganz freundlich und ruhig gebrodelt hatte, klang es nun unruhig und klagend. Es machte ganz den Eindruck, als wäre er über irgend etwas ungehalten.

»Was ist dir denn?« fragte sie, während sie ihren Käse bearbeitete. »Stehst du nicht fest aus deinen Beinen, oder hast du nicht genug Feuer unter dir?«

Sie bückte sich und sah nach, aber der Kessel schien sich ganz vortrefflich auf dem Herde zu befinden. Ja, ein Herd war es nun eigentlich nicht, sondern nur eine große Steinplatte, die auf ein Paar kleineren Steinen ruhte, aber sie pflegte ihn auf jeden Fall so zu nennen.

Es ist eine recht langwierige Arbeit, einen Käse zu machen. Und da das Mädchen gerade nichts anderes zu denken hatte, horchte sie wieder auf den Kessel. Noch immer klang es, als hätte er es schwer, er stand da und jammerte förmlich.

»Du liebe Zeit, so etwas habe ich doch den ganzen Sommer nicht von dir gehört,« sagte das Mädchen und lachte. »Es ist dir gewiß nicht recht, daß du hier im Walde bleiben mußt, wo alle die Alm schon verlassen haben und Leute und Gerätschaften unten im Tale sind.«

Der Kessel ließ gar nicht mit sich reden. Er brummte und brodelte, zornig und böse; und plötzlich kam der Sennerin der Gedanke, daß er doch ganz wie das alte Ahnl unten im Bauernhofe war. Das ging auch immer herum und warnte und eiferte und ärgerte sich, weil keiner sich darum kümmerte, was sie sagte.

Wieder fing sie zu lachen an.

»Du mußt doch selbst einsehen, daß mir nichts anderes übrig blieb, wenn doch die Schellenkuh nicht gekalbt hatte und man es jeden Augenblick erwarten konnte,« sagte sie. »Aber jetzt ist ja alles glücklich überstanden, und wenn das Kalb erst so weit ist, daß es auf seinen Beinen stehen kann, dann packen wir zusammen.«

Aber der Kessel kam nicht in bessere Laune. Er brodelte und brummte weiter, von den langen, dunklen Abenden, von dem ewigen Regnen, von den durchweichten Wegen und von den Kühen, die sich im Nebel verirrten und im Moor versanken.

»Ich weiß wirklich nicht, warum Ihr so unwirsch seid,« sagte das Mädchen schließlich, und sie war jetzt so ganz in der Vorstellung befangen, daß sie zu ihrer alten Herrin sprach, daß sie den Kessel nicht mehr duzte. »Ihr wißt doch, mir war es wahrhaftig nicht darum zu tun, allein im Walde droben zu bleiben, und Ihr wißt auch, wem zuliebe ich versuche, euch zu zeigen, daß ihr euch auf mich besser verlassen könnt als auf die anderen Dienstleute.«

Aber aus dem Kessel kam nur Lärmen und Tosen zurück.

»Jetzt ist sie mit allem anderen fertig,« sagte die Sennerin, »jetzt fängt sie von den Kobolden an. Das kann ich am Ton hören.«

Das Mädchen hatte so wie andere auch, ja oft gehört, daß die Kobolde darauf lauerten, in die Sennhütten einzuziehen, sobald die Menschen sie im Herbst geräumt hätten. Das war ja auch nicht zu verwundern. Sie hatten es da in jeder Hinsicht besser als auf den Steinhalden und Reisighaufen, wo sie sich sonst aufzuhalten pflegten. Aber sie hatte keine rechte Angst vor den Kobolden. So viel Verstand mußten die doch wohl haben, daß sie sich ferne hielten, so lange noch Menschen und Herden auf den Almen waren.

Aber der Kessel beruhigte sich nicht. Es war wirklich die Stimme des Ahnls, die ihr einprägen wollte, was für gefährliche Kobolde es hier im Walde gab. Denn sie, das Ahnl, war einmal in ihrer Jugend nach den andern auf der Alm zurückgeblieben, um auf eine Kuh zu warten, ganz wie jetzt sie selbst. Aber eines Abends, als sie draußen auf der Wiese gewesen war, um zu melken, hatte sie von einem Berg, der etwas weiter nördlich von der Weide lag, ein lautes Gebrüll gehört. Es kam wieder und wieder und wieder. und schließlich hatte sie die folgende Frage verstanden:

Du, du Bullidaus
Wann kommst aus dem Ameisenhaufen raus?

Das Ahnl merkte gleich, daß es der Kobold vom Nordfelsen war, der einen anderen Kobold, der in einem Ameisenhaufen wohnte, fragte, wann er in eine der Sennhütten einziehen würde. Und sie horchte genau nach der Antwort, um herauszubekommen, von welcher der Sennhütten die Rede war. Und richtig! Sie hörte, wie Bullidaus wie aus einer tiefen Grube antwortete. Es war nicht leicht, ihn zu verstehen, denn die Kobolde haben so brüllende, heisere Stimmen, daß man nur schwer die Worte von all den anderen Lauten unterscheiden kann. Aber sie brachte doch heraus, daß er ungefähr so sagte:

Kein Kalbel hat noch die Kuh
Und die Sigrid sperrt nicht zu.

Sigrid, das war eben sie, das Ahnl. Jetzt lauschte sie noch gespannter nach dem nächsten Ruf. Und sie hörte, wie der erste Kobold den zweiten unterwies:

Mit den Klauen zerreißen,
Auf den Ofen den heißen,
Dann gibt's was zu beißen.
Junges Mädel fett und frisch
Schmeckt besser als ein trockner Fisch.

Nun wußte das Ahnl, daß es die Absicht der Kobolde war, sie zu braten und zu essen, und wer nicht länger allein in der Sennhütte blieb, das war sie. Noch in derselbigen Nacht war sie mit der Herde daheim.

Zu Hause im Bauernhof hatten die Knechte und Mägde alle Mühe, das Lachen zu verbeißen, wenn das Ahnl von den Kobolden erzählte, die sie hatten braten wollen. Aber jetzt, wo die Sennerin mutterseelenallein dastand und an das Abenteuer dachte, schüttelte sie ein Schauer.

»Gott tröste uns,« sagte sie zum Kessel. »Ich glaube, Ihr wollt mir bange machen.«

Im selben Augenblick schnellte sie in die Höhe wie ein Fisch im See, denn sie hörte draußen Schritte.

Im ganzen Walde war kein Mensch außer ihr und dem Hirtenbuben, und der war weit weg. So war es wohl doch ein Kobold, der da herankam.

Nein, ein Kobold war es nicht, der die Türe aufriß und über die Schwelle trat. Es war schon ein Mensch, aber ob das nun besser sein sollte? Ein großer, langer Geselle, mit zottigem Haar und wirrem Bart. Nicht ein gewebtes Stück Zeug hatte er auf dem Leibe, der Wald hatte alles hergeben müssen. Der Bär hatte ihm die Jacke geliefert, der Elch die Hosen, das Eichhörnchen die Mütze und die Birke die Rindenschuhe.

Er hatte einen langen Spieß in der Hand, und den schleppte er mit in die Stube herein. Nicht weniger als drei Messer staken in dem Bärenpelz.

Das Mädchen sah sofort, daß das einer der Bösewichte war, die vogelfrei im Walde lebten. An einen Gefährlicheren hätte sie kaum geraten können. Das war etwas anderes als dieser Bullidaus, der das Ahnl hatte auffressen wollen.

Da stand sie in der Stube, die nur ein einziges kleines Fensterchen und nicht mehr als eine Türe hatte, und konnte nicht entrinnen. Ihre Gedanken flogen hin und her, und es kam ihr in den Sinn, daß der Räuber vielleicht, gerade so wie die Kobolde, nur darauf aus sei, im Winter unter ein Dach zu kommen, und daß er gekommen sei, um nachzusehen, ob die Sennhütte schon verlassen wäre. Aber er konnte auch ein gefährlicheres Anliegen haben. Das einzige, was dem Mädchen klar wurde, war, daß sie nicht rufen oder um Erbarmen bitten oder ihre Angst zeigen dürfe, denn dann war bei solchen Gesellen alles verloren.

Sie beugte sich daher über den Käse und arbeitete ohne aufzusehen aus Leibeskräften weiter darauf los. Aber sie hörte, wie er zu ihr hergeschlichen kam, und plötzlich streckte er eine große, häßliche, haarige Hand aus, die den Griff eines langen Messers umklammert hielt.

»Hast du schon einmal ein schärferes Messer gesehen?« fragte er zugleich mit jener Neckerei, wie sie die Katze gegenüber der Maus zu zeigen pflegt, wenn sie weiß, daß sie sie schon ganz in ihrer Gewalt hat.

War die Sennerin bisher nur ängstlich gewesen, so wurde sie jetzt auch zornig. Und daher kam es wohl, daß sie plötzlich ein Mittel fand, sich zu verteidigen. Sie griff nach dem Käseschöpfer, den sie verwendet hatte, um den Käse aus dem Topf zu schöpfen.

»Hast du schon einmal heißere Molke verspürt?« rief sie zurück und schleuderte dem Waldräuber einen ganzen Schöpflöffel kochender Molke gerade ins Gesicht.

Messer und Spieß fielen ihm aus den Händen, und er taumelte zurück, bis er an der Wand eine Stütze fand. Da blieb er stehen, beide Handrücken auf die Augen gepreßt, und stieß ein wildes Geheul aus.

Das Mädchen hob rasch das Messer auf und steckte es in ihr Kleid. Dann blieb sie neben dem Kessel stehen, da sie sah, daß dies ihr bester Schutz und Schirm war.

Schweigend hörte sie eine Zeitlang sein Geheul an, aber als es gar kein Ende zu nehmen schien, sagte sie ganz leise:

»Wenn du jetzt nicht gleich schweigst und dich trollst, kannst du noch einen Schöpfer voll haben.«

»Zu Hilfe, zu Hilfe!« schrie da der Mann in höchstem Entsetzen. »Zu Hilfe, Toste! Hilf, Bärenheiner! Helft mir, Luder und Broms! Zu Hilfe, zu Hilfe!«

Im selben Augenblick glaubte das Mädchen zu spüren, wie das Getrappel schwerer Füße den Boden erschütterte, und jetzt litt es sie nicht länger hinten beim Kessel, sondern sie eilte zur Fensterluke.

Da sah sie, daß fünf, sechs Kerle derselben Art wie der, den sie in der Stube hatte, in vollem Galopp den Wiesenabhang zum Walde hinuntereilten. Sie begriff nun, daß es eine ganze Räuberbande war, und daß einer von ihnen in die Hütte vorausgegangen war um nachzusehen, ob sie leer sei. Als nun dieser schrie und um Hilfe rief, glaubten die anderen, daß er einem gefährlichen Feind begegnet sei, und anstatt ihm zu Hilfe zu kommen, liefen sie in den Wald.

»Die du rufst, laufen nur um so geschwinder, je mehr du schreist,« sagte das Mädchen zu dem Räuber.

Er verstummte plötzlich und stürzte mit ausgestreckten Armen auf sie zu, um sie einzufangen und zu zermalmen.

Der Angriff kam so plötzlich, daß sie ihn nicht mit einem neuen Schöpflöffel Molke empfangen konnte. Das einzige, was sie zu tun vermochte, war, sich niederzuducken, und zu versuchen, unter seinem Arm durchzuschlüpfen, ungefähr so, wie man sich beim Blindekuhspiel flüchtet.

Er stürzte bis zur Wand vor und blieb da stehen und tastete, anstatt ihr nachzulaufen. Aber sie war nicht die, die sich erst lange den Kopf zerbrach, warum er sich so wunderlich anstellte. Sie dachte einzig und allein daran, daß der Weg zur Türe nun frei war und lief ohne viel Federlesens ins Freie. Glücklich draußen, warf sie flink die Türe zu, schob den Riegel vor, so gut sie konnte und floh dann in rasender Eile talwärts.

Sie glaubte nicht anders, als daß sie ihn auf den Fersen habe, denn der Riegel, den sie vor die Türe geschoben hatte, konnte einen großen starken Mann wohl nicht länger gefangen halten, als er selbst wollte. Und sie konnte sich ja denken, daß er versuchen würde, sie einzuholen. Er würde sie nicht ins Tal hinab kommen lassen, damit sie dort erzählte, daß eine ganze Räuberbande sich im Walde aufhielt.

Sie nahm sich nicht die Zeit stehen zu bleiben und sich umzusehen, ob er ihr nachkam, sondern lief nur immer weiter und weiter. Und die ganze Zeit war es ihr, als hörte sie ihn auf weichen Rindenschuhen hinter ihr herschleichen. Jeden Augenblick erwartete sie, daß er ihr Haar, das hinter ihr herflatterte, packen, sie zurückreißen und ihr das Messer an die Kehle setzen würde. Wenn sie die Herde zu treiben hatte, dann brauchte sie mehr als einen halben Tag, um ins Tal hinunterzukommen. Aber jetzt, wo sie allein war, ging es natürlich viel rascher. Jetzt ringelte sie sich durch das Gestrüpp wie eine Schlange und machte Sätze über die Moore wie ein Frosch und schoß über den Weg wie ein Hase. Jetzt glaubte sie, daß sie um die Mittagszeit unten sein würde.

Aber wie sie so an die Heimkehr dachte, machte sie plötzlich halt. Denn sie wußte, zu allererst würden sie sie fragen, was mit dem Hirtenbuben und den Kühen geschehen sei.

Sie biß die Zähne aufeinander und zog die Augenbrauen zusammen. Ein Weilchen stand sie da und überlegte, aber dann machte sie kehrt. Das Ahnl war nicht ohne die Herde heimgekommen, dazumal, als sie vor den Kobolden geflüchtet war.

Nie mehr würde man ihr wichtigere Aufgaben als dem andern Gesinde anvertrauen, wenn sie nicht zuerst an die Kühe dachte.

Wieder klomm sie den Berg hinan, den sie eben in so großer Eile hinuntergestürzt war. Sie wagte es nicht, über den gebahnten Pfad zu gehen, sondern sie schlich sich durch die Waldwildnis, und dies machte den Weg nicht leichter. Wer konnte auch wissen, an welcher Stelle im Walde der Hirtenbub sich mit der Herde aufhielt.

Sie fand ihn jedoch schließlich. Die Kühe weideten ruhig und friedlich, und kein Räuber hatte sich in der Nähe gezeigt. Nun hieß es, die Wanderung ins Tal noch einmal antreten. Es war unendlich mühselig, die Herde durch offenes Wiesenland zu treiben, wenn man schnell vorwärts kommen wollte. Eine Kuh nach der andern irrte ab, so daß sie ihr nachlaufen, sie rufen und locken mußte. Das kleine Kälbchen konnte nicht den ganzen langen Weg laufen, sie und der Hirtenbub mußten es abwechselnd tragen.

Sie war ganz bleich und erschöpft, als sie schließlich daheim in der Hütte stand. Es war schon dunkel geworden, und die Leute saßen in guter Ruh' beim Abendbrot. Sie wäre am liebsten jemandem um den Hals gefallen und hätte geweint, als sie herein zu den Menschen kam, die sie beschützen konnten. Aber jetzt war keine Zeit, an derlei zu denken, jetzt mußte sie erst rasch erzählen, was sich begeben hatte, damit sie ihr dann hülfen, die Kühe im Stall anzubinden.

Alle Leute in der Stube sprangen vom Tisch auf, als sie hereinstürzte. Sie brauchten ja nur einen Blick auf sie zu werfen, wie sie da in die Stube hereingeschossen kam, mit gelöstem Haar, ein blankes Messer in der Hand, um zu wissen, daß sich etwas Schlimmes im Walde begeben haben mußte. Anfangs wagte niemand sie zu fragen, was ihr widerfahren war, sondern sie warteten darauf, daß sie von selber zu reden anfinge, aber sie war so außer Atem, daß sie nur dastand und keuchte, ohne ein Wort hervorbringen zu können.

»Hat sich eine Kuh unten im Schwarzsumpf verlaufen?« fragte das Ahnl. Sie war die einzige, die sich entschloß, eine Frage zu stellen.

Das Mädchen konnte noch immer nicht antworten. Sie schüttelte nur den Kopf und wehrte mit der Hand ab.

»Du siehst aus wie meine Tochter, als sie unser bestes Pferd über die Almwiese rennen sah, mit einem Bären auf dem Rücken,« sagte das Ahnl.

Nein, nein, das Mädchen zeigte durch deutliche Zeichen, daß es auch nichts der Art war.

Da mußte das Ahnl das Schlimmste vermuten.

»Sind die Kobolde über dich gekommen?«

Aber das sagte sie mit einem solchen Gesicht, daß das Mädchen beinahe in Lachen ausgebrochen wäre, und damit kam sie wieder zu sich, so daß sie erzählen konnte, was eigentlich sie so erschreckt hatte.

»Es war schon was Ärgeres als die Kobolde,« sagte sie. »Droben auf der Alm ist eine ganze Räuberbande.«

Und sie erzählte, wie der Räuber in die Sennhütte gekommen war, und wie wunderbar es sich gefügt hatte, daß sie hatte entkommen können.

Sie waren alle ganz erstaunt und voll Besorgnis um sie. Sie vergaßen ganz, nach der Herde zu fragen. Sie waren nur froh, daß sie einer so großen Gefahr entronnen war, ohne Schaden zu leiden.

Aber plötzlich sah sie, wie der Sohn des Ahnls, der Bauer, seine Axt von der Wand nahm. »Jetzt müssen wir aber alle in den Wald hinauf, wir anderen, die Herde und den Hirtenbuben heimholen,« sagte er.

»Die Herde,« sagte die Sennerin, und jetzt war sie so froh, daß sie hätte lachen können, »die steht hier unten vor dem Gatter, ich möchte euch nur bitten, daß ihr sie in den Stall bringen laßt. Denn ich glaube, heute kann ich's nimmer.«

Nun sahen sie sie alle mit großen Augen an. Sie kamen auf sie zu und gaben ihr die Hand und dankten ihr, das Ahnl und ihr Sohn, der der Bauer war, und ihr Enkel, der es eines Tages werden sollte. Sie begegneten ihr mit solcher Achtung, als hätte sie ihnen plötzlich verraten, daß sie die Tochter des höchsten Mannes im Lande war.

* * *

Es war Frühling, und Ragnhild wanderte den Weg zur Alm hinauf. Sie war jetzt keine Almerin mehr, sondern eine wohlbestallte Bauersfrau. Am zweiten Weihnachtsfeiertage war sie mit Egil, dem Enkel des Ahnls getraut worden, und nun ritt sie auf einem Pferde, an der Spitze des Zuges. Sie saß rücklings auf dem Pferd, mitten unter Kochgeschirr und Milchbutten und lockte die Kuhherde mit hohen Hirtenrufen. Egil ging daneben und führte ihr das Pferd. Der Hirtenbub, die Magd und ein paar Knechte gingen hinter der Herde einher, schwere Lasten auf dem Rücken tragend.

Als sie alle Weideplätze hinter sich gelassen hatten und durch den Föhrenwald kamen, gingen die Kühe williger vorwärts, ohne daß man sie erst locken mußte. Da begann Egil mit Ragnhild zu sprechen:

»Ich kann's nicht recht begreifen, Ragnhild, daß du auch heuer durchaus auf der Alm sein willst,« sagte er. »Manchmal glaube ich, du vergißt ganz, daß du mein Weib bist, und dich nicht mehr zu plagen brauchst wie die Dienstleute.«

Aber Ragnhild streckte die starken Arme in die Luft und lachte. »Was sollte ich mit denen da anfangen, wenn ich nicht arbeiten würde?« fragte sie. »Glaub' mir, es ist gerade heuer recht nötig, daß ich auf die Alm komme. Die Leute würden immer nur an die Räuber denken, und ich glaube kaum, daß wir sie in den Wald hinauf gebracht hätten, wenn ich mich nicht entschlossen hätte, selbst oben zu bleiben.«

»Das kann schon wahr sein,« gab er zu, »aber wenn ich es mir so recht überlege, wie gefährlich das für dich werden kann, dann glaube ich nicht, daß es recht von mir ist, wenn ich dir deinen Willen lasse. Du kannst dir doch denken, daß der Räuber noch im Walde ist und versuchen wird, sich an dir zu rächen.«

Die Frau lachte nur. »Es soll Leute geben, die ganz bange werden, wie sie nur in einen Wald kommen,« scherzte sie, »und mir scheint, du gehörst zu denen. Aber ich sage dir, mir wär's eine rechte Freude, wenn ich diesem Räuber begegnen könnte. Ich möchte ihm danken, weil er mein ganzes Glück begründet hat. Dir wäre es doch nie im Leben eingefallen, mich zu heiraten, wenn er mir nicht zu Hilfe gekommen wäre.«

»Wenn wir doch lieber gleich hinaufgegangen wären,« fuhr der Mann fort, ohne sich von seinen Befürchtungen losmachen zu können, »und versucht hätten, ihn zu fangen. Aber Vater und Großmutter waren ja dagegen und sagten, daß es besser für uns Bauern ist, mit den Waldräubern nicht in Streit zu kommen. Jetzt werde ich den ganzen Sommer herumgehen und diesen Kerl nicht aus meinen Gedanken bringen.«

»Was fällt dir ein,« sagte die Frau, »du weißt doch, ich habe immer Glück.«

»Ja, du, das Glück,« sagte der junge Ehemann immer niedergeschlagener, »das ist oft nur wie solch ein Fleischstück, das ich den Wölfen zur Lockung hinlege, damit sie mir so nahe kommen, daß ich sie erschießen kann. Gerade, wenn einem alles nach Wunsch gegangen ist, soll man aufpassen, ob das Unglück nicht im Hinterhalt liegt, um einen zu fällen.«

»Ich glaube, du siehst Gespenster gerade wie das Ahnl,« sagte die Frau. »Das ist das erstemal, daß ich merke, daß ich einen rechten Hasenfuß zum Manne habe.«

Sie kamen jetzt zu einer scharfen Steigung, Ragnhild sprang vom Pferde, und sie gingen schweigend, bis der Weg ebener wurde. Die Frau begann nun zu merken, daß der Mann ernstlich bekümmert war, und sie überlegte, wie sie ihn beruhigen sollte.

»Sage mir doch, ob du findest, daß ich mein Glück mißbraucht habe,« sagte sie.

»Nein, nein, so meine ich es nicht,« sagte er. »Aber ich habe so oft an das mit den Wölfen gedacht. Es ist ganz, als wären sie blind, wenn sie das große Stück Fleisch sehen. Sie sollten doch den Verdacht haben, daß etwas, das so offen in ihrem Weg liegt, gefährlich sein könnte, aber sie sagen gewiß zueinander: Heute haben wir Glück, und stürzen sich darauf.«

»Aber du meinst doch nicht, daß es mit uns Menschen ebenso ist,« sagte die Frau und sah ihn fast erschrocken an. »Sollte es jemanden geben, der uns das Glück hinlegt, nur damit wir alle Vorsicht vergessen und in eine Falle gehen?«

»Ja, ja, mir scheint, es sieht manchmal so aus,« sagte der Mann.

Wieder wurde der Weg steinig und steil. Auch Ragnhild begann es schwer ums Herz zu werden. Sie ging ganz langsam und ließ einen Knecht das Pferd führen. Die Kühe mochten vorausgehen, sie wollte Zeit haben zu überlegen, was am besten zu tun war, denn sie begann schon zu merken, daß sie dem Mann zuliebe darauf verzichten mußte, auf der Alm zu bleiben. Er würde sich sonst so sehr ängstigen, daß er jede Stunde des Tages unglücklich sein würde.

»Wenn du mich durchaus nicht auf der Alm arbeiten lassen willst, dann muß ich wohl nach Hause zurückkehren,« sagte sie schließlich. Als sie ihm dieses Versprechen gegeben hatte, wurde der Mann sogleich sehr froh. Am liebsten hätte er sie sofort mit heimgenommen, ohne auch nur bis zur Alm zu gehen, aber das war ja unmöglich. Er mußte sich damit zufrieden geben, daß sie am nächsten Tage mit hinunter in den Bauernhof kam.

Ragnhild war ein wenig ärgerlich darüber, daß sie hatte nachgeben müssen; und um dem Mann zu zeigen, wie wenig Angst sie vor dem Räuber hatte, begann sie ihm zu erzählen, daß sie in diesem Winter öfter daran gedacht hatte, wie es wohl ihm und seinen Kameraden oben in ihrer Sennhütte ergehen mochte. Ja, sie hatte sogar nicht übel Lust gehabt, ihm Proviant hinaufzuschicken. Wohl zum Teil aus Dankbarkeit, weil er ihr dazu verholfen hatte, das zu erreichen, was sie sich am inbrünstigsten gewünscht hatte.

»Das hätte ein gefährlicher Spaß für dich werden können,« sagte der Mann. »Es heißt, Bären wissen, was Dankbarkeit ist, aber nie habe ich gehört, daß diese wilden Waldräuber etwas davon verstehen.«

»Es war auch nicht nur deshalb,« sagte Ragnhild. »Auch, damit ich aufhörte, von ihm zu träumen. Er kam manchmal im Traum zu mir und setzte mir das Messer an die Kehle und befahl mir, ihm etwas zu essen zu geben. Eines Nachts träumte mir, ein Hund stehe vor unserer Türe und bellte. Ich öffnete, aber da hatte der Hund plötzlich das Gesicht dieses Mannes bekommen. Und ich machte ganz geschwind die Türe wieder zu und sperrte ihn aus. Da heulte er vor Hunger so gräßlich, daß ich den Laut noch im Ohre hatte, als ich aufwachte.«

»Nun ja, das ist ja nicht zu verwundern, daß du von dem, der dich so erschreckt hat, träumtest,« sagte der Mann, aber er beschleunigte dabei seine Schritte und sah nun wieder unruhig und ängstlich aus.

»Wir sind zurückgeblieben,« fuhr er fort, »wir sollten doch zugleich mit den andern in die Sennhütte kommen, damit es beim Auspacken keine Unordnung gibt.«

Ragnhild folgte ihm, während sie weitererzählte.

»Ein paarmal habe ich daran gedacht, dich zu bitten, daß du Leute mitnimmst und auf die Alm hinaufgehst.«

»Ja, das hättest du tun sollen,« sagte der Mann rasch.

»Aber du kannst doch begreifen, daß ich es nicht sagen wollte. Ich wollte doch nicht, daß du einer Räuberbande entgegen gehst, damit ich meine bösen Träume los werde.«

Der Mann beschleunigte seine Schritte noch mehr, und es ging jetzt so steil aufwärts, daß die Frau ganz außer Atem kam, wenn sie sprach, aber sie redete doch weiter.

»Einmal, da ging ich wie im Schlafe herum und wußte nichts von mir. Da steckte ich, ohne daß es jemand merkte, Proviant in ein Ränzel und hängte es über den Rücken und ging in den Wald hinauf. Erst als ich auf dem Hügel über unserem Hof war, wachte ich auf. Ich begriff nicht, wie es mir hatte einfallen können, aber ich wußte, daß ich die Absicht gehabt hatte, den Räubern oben in der Sennhütte etwas zu essen zu bringen. Natürlich kehrte ich gleich wieder um und lief heim, so rasch ich nur konnte.«

Der Mann antwortete nichts. Er eilte nur immer weiter. Sie mußte förmlich laufen, um mit ihm Schritt halten zu können.

»Hätte ich dir das vielleicht früher erzählen sollen?« fragte sie, als sie seine Unruhe bemerkte.

»Ja,« sagte er beinahe hart. »Das hättest du mir viel früher erzählen sollen.«

»Nie kam ein Holzhauer oder Köhler aus dem Walde herunter,« fuhr sie fort, »ohne daß ich ihn fragte, ob er nicht an unserer Sennhütte vorbeigekommen sei und die Räuber gesehen habe. Aber alle antworteten mir, daß sich dort heuer kein Mensch habe sehen lassen.«

»Weißt du noch, was ich vorhin sagte?« fragte Egil. »Nun glaube ich, ist es dir ergangen wie den Wölfen. Du hast nicht auf das geachtet, was dir zur Warnung gesandt war. Du bist zu sicher gewesen. Du bist in die Falle gegangen.«

Er eilte jetzt so rasch vorwärts, daß sie kaum folgen konnte, und erklärte seine Worte nicht weiter. Sie begriff nicht, was er fürchtete, aber seine Angst steckte auch sie an, während sie sich anstrengte, ihm zu folgen.

Endlich waren sie so weit, daß sie die Almwiese sahen. Die kleinen Hütten lagen gerade so da, wie sie sie im vorigen Herbst verlassen hatten, und nichts Schlimmes schien vorgefallen zu sein. Herde und Hirten zogen eben in guter Ordnung über den Weg zu den Hütten.

Doch nun merkten Mann und Frau plötzlich etwas Wunderliches. Als die Kühe auf die Wiese zwischen den Häuschen kamen, begannen sie einander mit den Hörnern zu stoßen, nicht zum Spaße, sondern wild und zornig, als wollten sie sich gegenseitig töten, sie kämpften gegeneinander und stießen sich in lichter Raserei zu Boden.

»Was ist denn in die Kühe gefahren?« schrie Ragnhild. Aber Egil antwortete nicht. Er eilte nur in großen Sprüngen den Weg hinauf und stürzte sich mitten in den Haufen. »Nur fort mit ihnen! Treibt sie wieder in den Wald!« schrie er den Leuten zu, und mit wütenden Hieben gelang es ihm endlich, die Schar zu zerstreuen und fortzutreiben. Sobald sie von der Wiese fort waren, beruhigten sie sich und gingen still wie gewöhnlich den Weg hinunter.

Als die Herde vertrieben war, ging Egil auf die Sennhütte zu und öffnete die Türe, aber er trat nicht über die Schwelle. In einem Augenblick stand er wieder bei Ragnhild, er war sehr bleich.

Ragnhild hatte nun auch die Almwiese erreicht. Sie war auf einen Stein niedergesunken, ihr war, als könnte sie kein Glied mehr rühren.

»Sag, Egil, was ist das für ein Geruch, den ich hier spüre?« fragte sie. »So pflegt es doch nie im Walde zu riechen.« Er wagte nicht zu antworten. Aber sie fragte gleich darauf: »Warum sitzt so eine lange Reihe Raben auf dem Dache, Egil?«

»Ragnhild,« sagte der Mann, und seine Stimme zitterte vor Schmerz, weil er ihr etwas so Schweres sagen mußte. »Wir wollen gleich wieder nach Hause wandern. Wir können die Sennhütte heuer nicht benützen. Dieser Mann, dem du die Molke ins Gesicht geschüttet hast, ist sicherlich gleich blind geworden. Er hat aus der Hütte nicht heraus können, und seine Kameraden sind ihm nicht zu Hilfe gekommen. – Liebste, du darfst es dir nicht zu Herzen nehmen. Es war ein böser Räuber. Er kam herein, um dich zu töten. Du hast keine Schuld daran, daß es so gekommen ist. Nein, geh nicht in die Sennhütte! Er ist den ganzen Winter drinnen gewesen. Er ist noch da.«

Die Frau sprang auf. Der Mann griff nach ihr, aber sie war ihm zu rasch. Sie erreichte die Sennhütte, riß die Türe auf und sah hinein.

Gleich darauf erklang ihr Lachen schrill und schneidend. Sie stürzte laut lachend heraus, mit hocherhobenen Armen.

»Hast du schon einmal ein stärkeres Glück gesehen?« schrie sie. »Hast du je ein stärkeres Glück gesehen?«

Sie stürzte in den dunklen Wald, und als der Mann sie fand, da war sie wahnsinnig.


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