Selma Lagerlöf
Legenden und Erzählungen
Selma Lagerlöf

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II. Erzählungen

Die Grabinschrift

Jetzt beachtet gewiß keine Menschenseele das kleine Kreuzlein, das in einer Ecke des Svartsjöer Friedhofs steht. Jetzt gehen alle Kirchenbesucher daran vorbei, ohne einen Blick darauf zu werfen. Und es ist ja nicht wunderlich, daß keiner es bemerkt. Es ist so niedrig, daß Klee und Glockenblumen ihm bis über die Arme reichen und Timothé darüber wächst. Auch nimmt sich keiner die Mühe, die Inschrift zu lesen, die da steht. Die weißen Buchstaben sind nun fast gänzlich vom Regen verwischt, und es scheint nie jemandem einzufallen, sie zu Worten zusammenzusetzen.

Aber es ist nicht immer so gewesen. Das kleine Kreuz hat seinerzeit viel Staunen und Verwunderung erweckt. Eine Zeitlang konnte niemand den Fuß auf den Svartsjöer Friedhof setzen, ohne zu dem Kreuze hinzugehen. Und bekommt ein Mensch aus jener Zeit es noch heute zu Gesicht, so sieht er sogleich eine ganze Geschichte vor sich . . .

Er sieht das ganze Kirchspiel Svartsjö in Winterschlummer versenkt und mit glattem weißen Schnee bedeckt, der eine und eine halbe Elle hoch liegt. So sieht es dort aus, daß es kaum möglich für einen Menschen ist, sich zurechtzufinden. Man muß nach dem Compaß gehen, wie auf dem Meere. Es ist keinerlei Unterschied zwischen Strand und See, das Stoppelfeld liegt ebenso glatt da, wie die Erde, die hunderte Ernten Hafer getragen. Die Köhlerleute, die auf großen Moorflächen und nackten Bergfirsten hausen, können sich einbilden, daß sie über ebenso viel gepflügten und bebauten Boden gebieten, wie der reichste Großbauer.

Die Wege haben ihre sicheren Bahnen zwischen den grauen Zäunen verlassen und abenteuern nun über Wiesen und den Fluß entlang. Selbst drinnen zwischen den Gehöften kann man leicht verwirrt werden. Plötzlich kann man entdecken, daß der Weg zum Brunnen quer über die Spireahecke des kleinen Rosenbeets gelegt ist. Aber nirgends ist es so unmöglich sich zurechtzufinden, wie auf dem Kirchhof. Fürs erste ist die graue Steinmauer, die ihn vom Pfarrhof trennt, ganz überschneit, so daß er jetzt völlig mit diesem zusammenfließt. Fürs zweite ist der Kirchhof nunmehr bloß ein großes weißes Feld, nicht die mindeste Unebenheit in der Schneedecke verrät die vielen Anhöhen und Hügelchen des Totenackers.

Auf den meisten Gräbern stehen Eisenkreuze, an denen dünne kleine Herzen hängen, die im Sommer der Wind bewegt. Jetzt sind sie alle überschneit. Diese kleinen Eisenherzen können nicht mehr ihre wehmütigen Weisen von Schmerz und Sehnen erklingen lassen.

Leute, die drinnen in Städten auf Arbeit waren, haben für ihre Toten daheim Trauerkränze mit Blumen aus Perlen und Blättern aus Eisenblech mitgebracht, und diese sind so geachtet, daß sie auf den Gräbern in kleinen Glaskasten liegen. Aber nun sind auch sie unter dem Schnee verborgen und begraben. Nun ist das Grab, das solchen Schmuck trägt, um nichts vornehmer als irgend ein anderes.

Ein paar Schneebeerenbüsche und Syringenhecken ragen aus der Schneedecke empor, allein die meisten sind verborgen. Die nackten Zweige, die aus dem Schnee hervorstechen, sind einander wunderlich gleich. Sie können dem nicht zur Richtschnur dienen, der sich auf dem Kirchhof zurechtzufinden sucht. Alte Mütterchen, deren Brauch es ist, allsonntäglich einzutreten, um einen Blick auf ihr Grab zu werfen, kommen jetzt des Schnees wegen nicht weiter als ein Stück über den Hauptweg. Dort bleiben sie stehen und versuchen zu erraten, wo »das Grab« liegen kann. Ist es bei diesem Busch oder bei jenem? Und sie fangen an, sich nach dem Schmelzen des Schnees zu sehnen. Es ist, als sei der Entrissene so unsagbar weit von ihnen entfernt, seit sie nicht mehr die Stelle sehen können, an der er in die Erde versenkt ward.

Da sind auch ein paar große Steine und Kreuze, die sich über den Schnee erheben. Aber es sind so wenige. Und der Schnee hängt über ihnen, so daß man das eine nicht vom andern unterscheiden kann.

Ein einziger Weg ist auf dem Kirchhof gebahnt. Er führt den Hauptgang entlang zu einem kleinen Leichenhaus hin. Soll jemand begraben werden, so wird der Sarg in das Leichenhaus getragen, und dort hält der Pfarrer die Grabrede und nimmt die Zeremonie der Beerdigung vor. Es ist nicht daran zu denken, daß der Sarg in die Erde kommen kann, solange dieser Winter währt. Er muß im Leichenhause stehen bleiben, bis Gott Tauwetter sendet und die Erde wieder für Hacke und Spaten bearbeitbar wird.

Gerade während der Winter in seiner strengsten Laune ist und der Kirchhof ganz unzugänglich, stirbt ein Kind beim Hüttenherrn Sander auf dem Werke Lerum.

Das ist ein großes Werk, Lerum, und Hüttenherr Sander ist ein mächtiger Mann. Er hat sich jüngst erst ein Familiengrab auf dem Kirchhof herstellen lassen. Man erinnert sich gut daran, wenn es auch jetzt unter dem Schnee verborgen ist. Es ist von einem behauenen Steinrand umgeben und einer dicken Eisenkette; mitten auf dem Grabe steht ein Granitblock, der den Namen trägt. Dort steht das einzige Wort Sander mit großen Lettern eingegraben, die über den ganzen Kirchhof leuchten.

Aber jetzt, da das Kind tot ist und das Begräbnis zur Sprache kommt, sagt der Hüttenherr zu seiner Frau:

»Ich will nicht, daß dieses Kind in meinem Grabe liege!«

Mit einemmale sieht man sie vor sich. Da ist der Speisesaal auf Lerum, und da sitzt der Hüttenherr beim Frühstückstisch und ißt allein, wie er es zu thun pflegt. Seine Gattin Ebba Sander lehnt im Schaukelstuhl am Fenster, von wo sie die Aussicht über den See und die Birkenhaine hat.

Sie ist dagesessen und hat geweint, aber als der Mann dieses sagt, werden ihre Augen mit einemmal trocken. Die ganze kleine Gestalt zieht sich vor Schrecken zusammen, sie beginnt zu zittern, als fühlte sie starke Kälte.

»Was sagst Du, was sagst Du?« fragte sie. Und sie spricht so, wie wenn man vor Kälte klappert.

»Es widerstrebt mir,« sagt der Hüttenherr. »Vater und Mutter liegen da und es steht Sander auf dem Steine. Ich will nicht, daß dieses Kind dort liege.«

»Ah so, das hast Du Dir ausgeheckt?« sagt sie, fortwährend erschauernd.

»Ich wußte wohl, daß Du Dich einmal rächen würdest.«

Er wirft die Serviette fort, erhebt sich vom Tische und steht breit und groß vor ihr. Es ist gar nicht seine Absicht, seinen Willen mit vielen Worten durchzutrotzen. Aber sie kann es ihm ja ansehen, wie er da steht, daß er seinen Sinn nicht ändern kann. Der ganze Mann ist schwere, unerschütterliche Halsstarrigkeit.

»Ich will mich nicht rächen,« sagte er, ohne die Stimme zu erheben. »Ich kann es nur nicht ertragen.«

»Du sprichst, als handelte es sich nur darum, ihn aus einem Bett in das andere zu legen,« sagt sie. »Und er ist ja tot, ihm kann es wohl gleich sein, wo er liegt. Aber ich bin dann eine verlorene.«

»Ich habe auch daran gedacht,« sagt er, »aber ich kann nicht.«

Zwei Leute, die mehrere Jahre miteinander verheiratet gewesen sind, brauchen nicht viele Worte, um sich zu verstehen. Sie weiß schon, daß es ganz zwecklos wäre, wollte sie versuchen, ihn zu bewegen. »Warum mußtest Du mir damals verzeihen?« sagt sie und ringt die Hände. »Warum ließest Du mich auf Lerum bleiben als Dein Weib und versprachst, mir zu vergeben?«

Er weiß bei sich, daß er ihr nicht schaden will. Er kann nichts dafür, daß er jetzt an der Grenze seiner Nachsicht angelangt ist. »Sag' den Nachbarn, was Du willst,« sagt er. »Ich schweige schon. Gieb vor, daß Wasser im Grabe ist, oder sage, es sei nicht Raum für mehr Särge, als die von Vater und Mutter und meinen und Deinen.«

»Und das sollen sie glauben!«

»Du mußt Dir helfen, so gut Du kannst,« sagt er.

Er ist nicht böse, sie sieht, daß er es nicht ist. Es ist, wie er selbst sagt. Er kann sich in diesem nicht überwinden.

Sie rückt sich höher in den Stuhl hinauf, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und sitzt da und starrt zum Fenster hinaus, ohne etwas zu sagen. Das Entsetzliche ist, daß es so vieles im Leben giebt, das einen überwältigt, vor allem ist es furchtbar, daß in einem selbst Mächte emporsteigen, die man nicht lenken kann. Vor einigen Jahren, als sie schon eine besonnene, verheiratete Frau war, kam die Liebe über sie. Solch eine Liebe! Es war nicht daran zu denken, daß sie sie hätte regieren können. Was nun Gewalt über ihren Mann bekam, war es Rachbegier? Er ist nie böse auf sie gewesen. Er verzieh ihr sogleich, als sie kam und gestand. »Du bist von Sinnen gewesen,« sagte er und ließ sie weiter als seine Gattin leben.

Aber obgleich es ein Leichtes sein kann, zu sagen, daß man vergiebt, mag es schwer genug fallen, es zu thun. Vor allem ist es schwer für einen, der tiefsinnig und schwerblütig ist, der niemals vergißt und niemals aufbraust. Was er auch sagen mag, im Herzen sitzt etwas, das hungert und darnach schreit, sich sättigen zu dürfen an eines anderen Leid. Ein wunderliches Gefühl hat sie immer gehabt, daß es besser wäre, wenn er damals so böse geworden wäre, daß er sie geschlagen hätte. Da hätte er nachher wieder gut werden können. Nun geht er umher und ist mürrisch und verdrossen, und sie ist schreckhaft geworden. Sie geht wie ein Pferd an der Deichsel. Sie weiß, daß hinter ihr jemand sitzt, der die Peitsche in der Hand hält, wenn er sie auch nicht gebraucht. Und nun hat er sie gebraucht. Nun ist sie eine Verlorene. – – – – – – – – – – – –

Die Menschen sagen, daß sie nie einen solchen Schmerz gesehen, wie den ihren. Sie sieht aus wie ein Steinbild. In diesen Tagen vor dem Begräbnis weiß man nicht, ob sie wirklich lebt. Es ist unmöglich zu sehen, ob sie hört, was man sagt, ob sie weiß, wer zu ihr spricht. Sie scheint keinen Hunger zu fühlen, sie scheint draußen in der bitteren Kälte gehen zu können, ohne zu frieren. Aber es ist nicht Schmerz, was sie versteinert, es ist Entsetzen.

Sie denkt nicht daran, daheim zu bleiben am Begräbnistag. Sie muß mit zum Friedhof, sie muß mit im Trauergefolge gehen, gehen und wissen, daß alle, die da gehen, glauben, daß die Leiche zu dem großen Sanderschen Grabe geführt wird. Sie denkt, daß sie unter all der Verwunderung und dem Staunen, das sich gegen sie wenden wird, zusammenbrechen muß, wenn er, der an der Spitze des Zuges schreitet, ihn zu einem unbemerkten Grabplatz hinführt. Es wird ein Murmeln der Verwunderung von Reihe zu Reihe gehen, obgleich dies ein Leichenzug ist. Warum darf das Kind nicht in dem Sanderschen Grabe liegen? Man wird sich der ungewissen, unbestimmten Gerüchte erinnern, die einmal über sie im Schwange waren. Es muß wohl irgend einen Anlaß zu diesen Geschichten gegeben haben, wird man sagen. Bevor der Leichenzug vom Kirchhof wiederkehrt, wird sie gerichtet und verloren sein.

Das einzige, was ihr helfen kann, ist: selbst mit dabei zu sein. Sie wird da gehen, mit ruhigem Antlitz, wird aussehen, als ob alles in Ordnung wäre, vielleicht werden sie es dann glauben, das, was sie sagt, um die Sache aufzuklären.

Der Mann fährt auch mit zur Kirche. Er hat alles geordnet, die Begräbnisgäste geladen, den Sarg bestellt und bestimmt, wer ihn tragen soll. Er ist zufrieden und gut, seit er seinen Willen durchgesetzt hat.

Es ist Sonntag, der Gottesdienst ist vorüber, und der Leichenzug stellt sich vor der Gemeindestube auf. Die Träger legen die weißen Tragtücher über ihre Schultern, alle Standespersonen von Lerum gehen in der Prozession mit und ein großer Teil der Kirchenbesucher.

Während die Procession sich aufstellt, denkt sie, daß sie sich jetzt aufstellen, um einen Verbrecher zum Richtplatz zu geleiten.

Wie sie sie ansehen werden, wenn sie zurückkehren. Sie ist gekommen, um sie vorbereiten zu können, aber sie hat kein Wort über die Lippen gebracht. Sie kann nicht ruhig und besonnen sprechen. Was sie thun könnte, wäre, so heftig und laut zu jammern, daß man es über den ganzen Kirchenplatz hörte. Sie wagt nicht, die Lippen zu regen, damit dieser Schrei nicht über sie hereinbreche.

Die Glocken beginnen sich zu rühren droben im Turm, und die Menschen setzen sich in Bewegung. Und jetzt kommt es, ohne alle Vorbereitung! Warum hat sie nicht sprechen können? Sie thut sich Gewalt an, um ihnen nicht zuzurufen, sie mögen nicht auf den Kirchhof gehen mit dem Toten. Ein Toter ist ja nichts. Warum soll sie vernichtet werden, für einen Toten? Sie könnten ja den Toten hinlegen, wohin sie wollten, nur nicht auf den Kirchhof. Sie wird sie vom Friedhof verscheuchen. Er ist gefährlich. Er ist voll Pestansteckung. Man hat Wolfsspuren dort gesehen. Sie will sie schrecken, wie man Kinder schreckt.

Sie weiß nicht, wo das Grab des Kindes gegraben ist. Sie erfährt es zeitig genug, denkt sie. Wie jetzt der Zug hinein in den Friedhof schreitet, blickt sie über das Schneefeld, um ein frischaufgeworfenes Grab zu entdecken . . .

Aber sie sieht weder Weg, noch Grab. Dort draußen ist nichts als ein ungefurchtes Schneefeld. Und der Zug geht zum Leichenhause hinauf. So viele als können, drängen sich herein, und hier wird die Beerdigungszeremonie vorgenommen. Es ist nicht die Rede davon, zum Sanderschen Grabe zu gehen. Keiner kann wissen, daß der Kleine, der nun zur letzten Ruhe eingesegnet wird, niemals in das Familiengrab gebettet werden soll!

Würde sie das nicht vergessen haben in ihrem Entsetzen, keinen Augenblick hätte sie sich zu fürchten gebraucht. »Im Frühling,« denkt sie, »wenn der Sarg versenkt wird, da ist wohl kaum einer außer dem Totengräber zugegen. Jeder wird glauben, daß das Kind im Sanderschen Grabe liegt.« Und sie begreift, daß sie gerettet ist.

Sie bricht in heftigem Weinen zusammen. Die Leute sehen sie mitleidig an.

»Es ist furchtbar, wie sie es sich zu Herzen nimmt,« sagen sie. Aber sie weiß selbst am besten, daß sie solche Thränen weint, wie eine, die Not und Lebensgefahr entronnen ist . . .

Ein paar Tage nach dem Begräbnis sitzt sie in der Dämmerung auf ihrem gewohnten Platz im Speisesaal. Während das Dunkel einfällt, ertappt sie sich darauf, daß sie dasitzt und wartet und sich sehnt. Sie sitzt und horcht nach dem Kinde. Jetzt ist ja die Zeit, wo es hereinzukommen pflegt, um zu spielen. Wird es heute nicht kommen? Da fährt sie empor und denkt: »Es ist ja tot, es ist ja tot.«

Am nächsten Tage sitzt sie wieder in der Dämmerung und sehnt sich, und Abend für Abend kommt diese Sehnsucht wieder und wird immer mächtiger. Sie breitet sich aus, so wie das Licht im Frühling, bis sie schließlich alle Stunden des Tages und der Nacht beherrscht.

Es ist ja beinahe selbstverständlich, daß ein solches Kind, wie das ihre, mehr Liebe im Tode als im Leben empfängt. Die Mutter hatte während seines ganzen Daseins an nichts anderes gedacht, als den Mann wieder zu gewinnen. Und für ihn konnte ja das Kind nicht erfreulich sein. Es mußte ferngehalten werden. Es bekam oft zu fühlen, daß es zur Last war. Die Gattin, die ihren Pflichten untreu ward, hat dem Manne zeigen wollen, daß sie doch etwas war. Sie arbeitete unablässig in Küche und Webkammer. Wo konnte sich Platz für den kleinen Jungen finden, mitten in all dem? Und jetzt nachträglich erinnert sie sich, wie seine Augen zu bitten und zu betteln pflegten. Abends wollte er, daß sie an seinem Bette sitze. Er sagte, er sei dunkelscheu, aber nun denkt sie, daß das vielleicht nicht wahr gewesen. Er hat es gesagt, damit sie bei ihm bleibt. Sie erinnert sich, wie er dalag und kämpfte, um nicht einzuschlafen. Nun begreift sie, daß er sich wach hielt, um lange liegen und ihre Hand in der seinen halten zu dürfen.

Er ist ein pfiffiges Kerlchen gewesen, so klein er auch war. Er hat all seinen Verstand aufgewendet, um auch ein bißchen von ihrer Liebe abzubekommen.

Es ist erstaunlich, daß Kinder so lieben können. Sie begriff es nie zuvor, solange er noch lebte.

Eigentlich fängt sie jetzt erst an, das Kind zu lieben. Jetzt erst fühlt sie sich berückt von seiner Schönheit. Sie kann sitzen und von seinen großen, geheimnisvollen Augen träumen. Es ist nie ein rosiges, rundwangiges Kind gewesen, es war zart und blaß. Aber es war wunderbar schön.

Es steht vor ihr als etwas wunderbar Herrliches, herrlicher mit jedem Tag, der geht. Kinder müssen ja das Köstlichste sein, was die Erde trägt. Man denke nur, daß es kleine Wesen giebt, die jedermann die Hand entgegenstrecken und von allen Gutes glauben, die nicht darnach fragen, ob ein Antlitz schön oder häßlich ist, sondern das eine ebenso gern küssen, als das andere, die alt und jung lieben können, reich und arm. Und zu alledem sind sie wirkliche kleine Menschen.

Sie kommt mit jedem Tage dem Kinde immer näher und näher. Sie wünscht wohl, daß es lebte, doch sie weiß nicht, ob sie ihm da je so nahe gekommen wäre wie jetzt.

Zuweilen gerät sie in Verzweiflung darüber, daß sie den Knaben nicht glücklicher machte, solange er am Leben war. Um dessentwillen wurde er mir wohl genommen, denkt sie. Doch nur selten trauert sie in dieser Weise.

Sie hat früher vor Trauer zurückgebebt, aber sie findet jetzt, daß Trauer nicht das ist, was sie sich gedacht. Trauer ist ja, wieder und wieder ein Vergangenes zu leben. Trauer ist, sich in das ganze Wesen des Knaben hineinzuleben, ihn nun endlich zu verstehen. Diese Trauer macht sie sehr reich.

Wovor sie sich jetzt am meisten fürchtet, ist, daß die Zeit ihn ihr entführt. Sie hat kein Bild von ihm, vielleicht werden sich seine Züge in ihrer Erinnerung auslöschen. Jeden Tag sitzt sie da und prüft sich: »Sehe ich ihn, sehe ich ihn recht?«

Wie der Winter vergeht, Woche um Woche, überrascht sie sich auf der Sehnsucht, ihn aus dem Leichenhause heraus zu bekommen und in die Erde gebettet, so daß sie zu dem Grabe kommen kann und mit ihm sprechen. Er wird gegen Westen liegen, da ist es am schönsten. Und sie wird den Hügel mit Rosen schmücken. Sie will auch eine Hecke haben und eine Bank. Sie will dort sitzen können, lange, lange.

Aber die Menschen werden sich ja verwundern. Die Menschen sollen es ja nicht anders wissen, als daß ihr Kind im Familiengrabe liegt. Wie werden sie staunen, wenn sie sie ein fremdes Grab schmücken und dort stundenlang sitzen sehen. Was soll sie sich ausdenken, um es ihnen zu sagen?

Manchmal denkt sie, daß sie es auf diese Weise machen muß: Zuerst zu dem großen Grabe gehen und dort einen großen Strauß niederlegen und eine Weile dort sitzen. Dann würde sie sich wohl zu dem kleinen Grabe hinschleichen können. Er würde wohl zufrieden sein mit dem einzigen kleinen Blümlein, das sie ihm heimlich zustecken konnte.

Ja, er kann sich wohl damit begnügen, aber kann sie es? Es ist, als würde sie in keine Gemeinschaft mit ihm kommen auf diese Weise. Und er würde es dann erfahren, daß sie sich seiner schämte. Er würde begreifen, welche brennende Schmach es für sie war, daß er geboren wurde. Sie muß ihn davor schützen, das zu erfahren. Er soll glauben, daß das Glück, ihn zu besitzen, alles überwog.


Endlich weicht der Winter. Man sieht, daß es Frühling wird. Die Schneedecke schmilzt, die Erde beginnt sich zu zeigen. Noch währt es vielleicht ein paar Wochen, bis der Frost aus dem Boden zieht, aber man hat doch die Hoffnung, daß die Toten nun bald aus der Leichenkammer kommen. Und sie sehnt sich, sie sehnt sich.

Kann sie ihn noch sehen? Sie prüft sich jeden Tag, aber es ging besser im Winter, im Frühling will er sich ihr nicht zeigen. Da gerät sie in Verzweiflung, sie muß auf dem Grabe sitzen können, um ihm nahe zu kommen, um ihn sehen, ihn lieben zu können. Kommt er denn niemals hinab in die Erde?

Sie hat nichts anderes zu lieben, sie muß ihn sehen können, ihn sehen können, das ganze Leben hindurch.

Mit einemmale verschwindet alles Zögern und aller Kleinmut vor ihrer großen Sehnsucht. Sie liebt, sie liebt, sie kann nicht leben ohne den Toten. Sie fühlt, daß sie auf niemand anderen Rücksicht nehmen kann als auf ihn. Und als die Frühlingsfluten wirklich kommen, als Anhöhen und Hügel wieder auf dem Kirchhof hervortreten, als die Herzen an den eisernen Kreuzen wieder zu klingen anfangen und die Perlblumen in ihren Glaskasten leuchten, und als die Erde sich endlich dem kleinen Sarge öffnen kann, hat sie schon ein schwarzes Kreuz anfertigen lassen, um es auf den Hügel zu pflanzen.

Quer über das Kreuz von Arm zu Arm steht mit deutlichen weißen Buchstaben geschrieben:

Hier ruht mein Kind.

Und dann darunter auf dem Kreuzesstamm steht ihr Name.

Sie kümmert sich nicht darum, daß die ganze Welt erfährt, was sie gethan. Alles andere ist eitel, was ihr allein am Herzen liegt, ist, ohne Trug beten zu können an des Kindes Grab.

 


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