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Sechzehntes Kapitel

Man kam überein, daß Paul sich einige Zeit von Pavol fernhalten sollte und – unglaublich, aber wahr – von dem Tag, an dem sie ihn nicht mehr sah, schien Blanche beinahe entschlossen, ihn zu heiraten. Wir sprachen beständig von ihm, wir erörterten sogar die Kleider für die Hochzeit, und ich legte eine der Alten würdige, stoische Ergebung an den Tag.

Allein diese Ergebung war nur scheinbar.

Meine Niedergeschlagenheit wuchs zusehends; um meine Augen zeigten sich blaue Ringe und ich gelangte zu dem Schluß, daß es am zweckmäßigsten für mich sei, in eine andre Welt abzugehen, da ich das Leben fern von dem Mann meiner Liebe doch nicht mehr ertragen konnte.

Dieser Plan war sehr schmerzlich, aber ich klammerte mich leidenschaftlich daran fest; ich überlegte, ich hätschelte ihn mit krankhafter Freude. Bei meiner Ehre aber schwöre ich, daß ich nie die Absicht hatte, mich mit Kohlendampf zu ersticken oder Gift zu schlucken – Todesarten, die den Sterblichen in unsrer Zeit ja so sehr ans Herz gewachsen sind. Da ich aber in irgend einem Buch gelesen hatte, daß ein junges Mädchen an unglücklicher Liebe gestorben sei, beschloß ich, diesem Beispiel zu folgen.

Nachdem mein Entschluß gefaßt war und mein schlechtes Aussehen im übrigen auch noch meine düsteren Gedanken zu rechtfertigen schien, fand ich es höflich und manierlich, den Pfarrer darauf vorzubereiten, und fühlte, daß ich nicht sterben konnte, ohne ihm noch einmal die Hand gedrückt zu haben.

Fest entschlossen trat ich eines Morgens ins Arbeitszimmer meines Onkels und bat ihn, mich in den »Busch« gehen zu lassen.

»Es ist besser, wir bitten den Pfarrer, hierher zu kommen, Reine.«

»Er könnte doch nicht kommen, Onkel; er hat nie einen Pfennig Geld.«

»Es ist gerade kein Vergnügen, dich dahin zu bringen, Fräulein Nichte.«

»Geh nicht mit, Onkel, ich bitte dich. – Du würdest mir nur im Wege sein. Ich möchte mit der alten Haushälterin allein gehen, wenn du es erlaubst.«

»Thu, was du willst. Mein Wagen bringt dich bis C..., wo sich leicht irgend ein Fuhrwerk auftreiben läßt, mit dem du vollends bis in den ›Busch‹ fahren kannst. Wann reist du ab?«

»Morgen früh, und zwar sehr zeitig; ich möchte den Pfarrer überraschen und ich übernachte im Pfarrhaus.«

»Gut! In zwei Tagen schicke ich dir den Wagen wieder. Sei übermorgen gegen drei Uhr in C...«

Aufmerksam betrachtete er mich unter seinen buschigen Brauen hervor und rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Bist du krank, Reine?«

»Nein, Onkel.«

»Kleine,« sagte er und zog mich an sich, »ich bin beinahe so weit gekommen, zu hoffen, daß meine Wünsche sich nicht erfüllen.«

Erstaunt sah ich ihn an, denn ich glaubte fest, daß er nichts gemerkt habe.

Ich erwiderte ihm kaltblütig, daß ich nicht verstehe, was er damit sagen wolle, daß ich mich sehr glücklich fühle und Gelübde dafür thue, daß alle seine Pläne verwirklicht würden. Er küßte mich liebevoll und entließ mich.

Ich reiste also am andern Tage ab, ohne die Begleitung Blanches anzunehmen, die gern mit mir gegangen wäre.

Unterwegs überlegte ich mir die Worte meines Onkels: »Er weiß alles,« dachte ich, »wie wenig scharfsichtig bin ich doch trotz all meiner Anmaßung! Allein was nützt es mir, wenn auch Junos Heirat nicht zu stande kommt, da Paul doch in sie verliebt ist? Er kann deshalb doch nicht eine andre lieben! Ich verstehe meinen Onkel nicht.«

Ich glaubte nicht mehr wie früher, daß man sich in mehrere Frauen verlieben könne. Ich zog diesen Schluß aus meinem eignen Gefühl und war überzeugt, daß ein Mann nicht zweimal in seinem Leben lieben könne, ohne der Welt ein außerordentlich erstaunliches Schauspiel zu bieten.

Nachdem ich mir das Gemütsleben der bärtigen Hälfte der Menschheit also zurechtgelegt hatte, nahmen meine Gedanken eine andre Richtung, und ich freute mich darauf, meinen Pfarrer wiederzusehen. Ich beschloß, ihm um den Hals zu fallen, wäre es auch nur, um meine Unabhängigkeit zu beweisen und meine Verachtung für althergebrachte Sitten an den Tag zu legen.

Am Pfarrhof angelangt, trat ich nicht durch die Thür ein, sondern kroch durch ein Loch in der Hecke, das ich schon seit unvordenklichen Zeiten kannte, und schlich mich verstohlen bis zum Fenster des Wohnzimmers, in dem der Pfarrer gerade am Frühstück sitzen mußte. Dieses Fenster war sehr nieder, aber ich war so klein, daß ich auf einen Baumstumpf steigen mußte, der an Stelle einer Bank an der Wand lehnte, wenn ich ins Innere hineinsehen wollte.

Vorsichtig lugte ich hinter dem Epheu hervor, der das Fenster buschig umrahmte und erblickte meinen Pfarrer.

Er saß am Tisch und aß mit trauriger Miene; seine guten dicken Backen hatten ihre blühende Farbe und ihre Rundung zum Teil verloren; seine dicken weißen Haare standen nicht mehr zu Berg wie früher, sondern lagen flach und glatt mit der Miene unaussprechlicher Traurigkeit auf dem Kopf.

»Ach, mein armer, guter Pfarrer!«

Ich sprang von dem Klotz herab, stürzte ins Haus, wobei ich unterwegs meinen Hut verlor, und platzte wie eine Bombe ins Wohnzimmer hinein.

Ueberrascht sprang der Pfarrer auf, sein liebes, gutes Gesicht leuchtete hell auf vor Freude, als er mich erkannte, und nicht um den Vorschriften der Etikette ins Gesicht zu schlagen, sondern aus inniger Zärtlichkeit und großer Rührung warf ich mich in seine Arme und weinte lange an seiner Brust.

Ich weiß wohl, daß nichts in der Welt so unschicklich ist, als an der Brust eines Pfarrers zu weinen, und daß mein Onkel, Blanche und alle Gräfinnenwitwen der Welt trotz meiner Ahnen vor einem so skandalösen Anblick ihr Antlitz verhüllt hätten, aber ich befand mich noch seit zu kurzer Zeit in der Schule der Mäßigung, als daß ich schon viel von der Unmittelbarkeit meiner Natur eingebüßt hätte. Uebrigens halte ich es für ausgemacht, daß nur Dummköpfe, Zierbengel und herzlose Leute behaupten können, man dürfe nie eine Anstandsregel einem wahren und tiefen Empfinden aufopfern.

»Das Leben ist eine Lumperei, lieber Pfarrer, eine erbärmliche Lumperei,« verkündete ich ihm schluchzend.

»Sollten wir wirklich da angelangt sein, mein liebes, kleines Mädchen? Nein, nein, das ist nicht möglich!«

Und der arme Pfarrer, der durcheinander lachte und weinte, blickte mich bekümmert an, fuhr mir mit der Hand über den Kopf und sprach zu mir, wie zu einem verwundeten kleinen Vögelchen, dem er einen gebrochenen Flügel mit Liebkosungen und guten Worten heilen wollte.

»Kommen Sie, Reine, kommen Sie, mein liebes Kind! Beruhigen Sie sich ein wenig,« sagte er und schob mich sanft zurück.

»Sie haben recht,« erwiderte ich und verbannte mein Taschentuch in die Tiefe meiner Tasche. »Seit drei Monaten predigt man mir nichts als Ruhe, aber wie Sie sehen, habe ich noch nicht viel dabei gelernt. Wir wollen essen, Herr Pfarrer.«

Ich legte Handschuhe und Mantel ab und durch einen plötzlichen Stimmungswechsel, wie er in der letzten Zeit häufig bei mir vorkam, fing ich an zu lachen und ließ mich lustig am Tische nieder.

»Wir plaudern nach dem Essen weiter, Herr Pfarrer, ich bin halb tot vor Hunger.«

»Und ich habe Ihnen beinahe nichts anzubieten.«

»Es gibt ja Hammelfleisch mit Rüben – das ess' ich furchtbar gern, und Hausbrot, das ist köstlich!«

»Aber Sie sind doch nicht allein gekommen, Reine?«

»Ach richtig, es ist ja wahr! Die Haushälterin hockt noch im Wagen hinter der Kirche. Lassen Sie sie holen, Herr Pfarrer, und sie soll auch meinen Hut auflesen, der irgendwo im Garten herumfährt.«

Der gute Pfarrer erteilte seine Befehle und ließ sich dann wieder mir gegenüber nieder. Während ich trotz meiner Kümmernisse mit großem Appetit aß, dachte er nicht mehr daran, zu frühstücken, sondern betrachtete mich mit einer Bewunderung, die er vergeblich zu verbergen suchte.

»Sie finden mich schöner geworden, Herr Pfarrer, nicht wahr?«

»Nun ... nun ... ein wenig, Reine.«

»Ach, Herr Pfarrer, wenn ich zur Beichte ginge, welch schwere Sünden hätte ich Ihnen zu bekennen – gar nicht mehr die harmlosen, kleinen Sünden von früher!«

Und ohne mit essen aufzuhören, erzählte ich ihm von meinen eitlen Freuden, meinen Eindrücken, meinen Kleidern und meinen neuen Einfällen. Er lachte, schnupfte unaufhörlich mit seiner alten fröhlichen Miene und sah mich an, ohne auf den Gedanken zu kommen, er könne mich tadeln.

»Bin ich nicht auf dem besten Wege zur Hölle, Herr Pfarrer?«

»Ich glaube nicht, mein liebes, gutes Kind. In der Jugend muß man jung sein.«

»Jung, mein armer Pfarrer; wenn Sie doch auf den Grund meiner Seele blicken könnten! Ich habe Ihnen geschrieben, daß ich nur noch ein Totengerippe bin!«

»Mir machen Sie nichts weniger als den Eindruck eines Totengerippes.«

»Wir wollen nachher weiter darüber reden, und dann werden Sie ja sehen!«

Als ich endlich gesättigt war, räumte die Magd den Tisch ab, man machte ein prächtiges Feuer an und wir setzten uns in die Kaminecke.

»So, Reine, jetzt wollen wir ernsthaft miteinander reden. Was haben Sie mir zu sagen?«

Ich hielt meinen Fuß ans Kaminfeuer und erwiderte gelassen: »Lieber Pfarrer, ich sterbe.«

Ein wenig ergriffen, klappte der Pfarrer seine Tabaksdose wieder zu, aus der er sich eben hatte eine Prise nehmen wollen.

»Sie sehen nicht so aus, mein liebes Kind.«

»Wie? Sehen Sie nicht, wie eingefallen meine Augen, wie bleich meine Lippen sind?«

»Nein, Reine, Ihre Lippen sind ganz rosig und Ihr Gesicht blüht in vollster Gesundheit. Aber an was sterben Sie denn?«

»Hochwürden, ich sterbe an der Liebe!«

Der Pfarrer schnellte ein wenig in die Höhe, etwa wie ein auf den Sand geworfener Fisch.

»Hab' ich mir's doch gedacht,« sagte er und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Hab' ich mir's doch gedacht! Ihre Einbildungskraft ist offenbar mit Ihnen durchgegangen, Reine!«

»Es handelt sich nicht um die Einbildungskraft, sondern um das Herz, Herr Pfarrer, denn ich liebe!«

»O, so jung! Ein solches Kind!«

»Ist dies ein Grund dagegen? Ich wiederhole Ihnen, ich sterbe aus Liebe zu Herrn von Conprat!«

»Aha, also der!«

»Halten Sie mich denn für eine Gans oder für eine Wetterfahne, Herr Pfarrer?« rief ich.

»Aber, kleine Reine, es wäre doch klüger, ihn zu heiraten, statt zu sterben.«

»Das wäre allerdings ganz logisch, lieber Pfarrer, aber leider gefalle ich ihm nicht.«

Diese Behauptung erschien ihm so unerhört, daß er einige Augenblicke lang wie versteinert dasaß.

»Das ist nicht möglich!« erklärte er dann in so überzeugtem Ton, daß ich lachen mußte.

»Er liebt sogar eine andre; er ist in Blanche verliebt und hat um ihre Hand angehalten.«

Dann erzählte ich ihm, was sich vor einigen Tagen auf Pavol begeben hatte: meine Entdeckungen, meine vorherige Verblendung und das Zögern Junos. Ich beschloß diese Erzählung mit heißen Thränen, denn mein Kummer war wirklich sehr groß.

Der Pfarrer, der sich bis dahin nicht hatte entschließen können, meine Worte und meine Schmerzen ernst zu nehmen, saß da als ein Bild der Verdutztheit. Er schob seinen Stuhl näher an den meinen heran, ergriff meine Hand und versuchte, mir Vernunft zu predigen.

»Ihre Cousine schwankt, vielleicht kommt die Heirat gar nicht zu stande.«

»Was liegt daran, wenn er sie doch liebt! Man kann nicht zweimal lieben.«

»O doch, das ist immerhin schon dagewesen, meine Kleine.«

»Das glaube ich nicht, es wäre entsetzlich! Ach, ich bin recht unglücklich, armer Herr Pfarrer!«

»Haben Sie es Ihrem Onkel gesagt?«

»Nein, aber er hat meine Gedanken erraten. Uebrigens wozu? Er kann Paul nicht zwingen, mich zu lieben und seine Tochter zu vergessen. Ich möchte um keinen Preis, daß Paul etwas von meiner Liebe ahnte, eher wollte ich sterben!«

Auf diese Kundgebung meines Stolzes folgte tiefes Schweigen; wir starrten ins Feuer wie zwei gute, harmlose Zauberer, die die Geheimnisse der Zukunft in den Flammen der glühenden Kohlen zu lesen versuchen.

Aber Flammen und Glut verkündeten mir nichts, und ich weinte still vor mich hin, bis der Pfarrer mit leisem Lächeln wieder begann: »Er hat weder mit Franz dem Ersten noch mit Buckingham irgend welche Aehnlichkeit.«

»Ach, Herr Pfarrer,« erwiderte ich lebhaft, »weder Franz den Ersten noch Buckingham hätte ich lange um ihre Liebe bitten müssen, und das wäre mir sehr lieb.«

Hm! Der Pfarrer fand diese Antwort nicht ganz nach seinem Sinn und fataler Auslegungen fähig. Rasch verließ er den gefährlichen Gegenstand, den er angeregt hatte, und predigte mir Ergebung.

»Bedenken Sie nur, Reine, wie jung Sie sind. Diese Prüfung geht auch vorüber und ein langes Leben liegt noch vor Ihnen.«

»Ich bin nicht von sehr gottergebener Gemütsart, Herr Pfarrer, merken Sie sich dies! Wenn ich am Leben bleibe, werde ich mich nie vermählen; aber ich sterbe, ich bin lungenleidend, hören Sie?«

Und ich versuchte in hohlem Grabeston zu husten.

»Treiben Sie keinen Scherz damit, Reine. Gott sei Dank, Sie sind kerngesund.«

»Gut, ich sehe, daß Sie mir nicht glauben wollen,« sagte ich und stand auf. »Lassen Sie uns das schöne Wetter und die wenigen Augenblicke, die ich noch zu leben habe, zu einem Gang nach dem ›Busch‹ benützen, Herr Pfarrer.«

Wir trippelten meiner ehemaligen Behausung zu und freuten uns des angenehmen Novembersonnenscheins, der indessen lange nicht so mild und erwärmend war, wie die Zärtlichkeit meines Pfarrers und der Anblick seines lieben, guten Gesichtes, das seit meiner Ankunft wieder ganz rosig angehaucht war. Mit Befriedigung beobachtete ich seine im Winde flatternden Haare, seinen leichten Gang und seine fröhliche, wohlbeleibte Persönlichkeit, nach der ich so oft durch das Flurfenster ausgeschaut hatte, wenn der Regen gegen die Scheiben klatschte und der Wind durch die wurmstichigen Thüren des alten Hauses pfiff.

Nach einem Besuch bei Perrine und Suzon ging ich durch das ganze Haus. Wahrhaftig, man sollte die Zeit nicht nach der Menge der verflossenen Tage, sondern nach der Lebhaftigkeit und der Zahl der empfangenen Eindrücke bemessen! Erst wenige Wochen war es her, daß ich das alte Gemäuer verlassen hatte, und wenn mir heute jemand gesagt hätte, seither seien mehrere Jahre über meinem Haupt dahingegangen, so würde ich es sofort geglaubt haben.

Ich zog den Pfarrer in den Garten. Arme, jungfräuliche Wildnis! Sie rief mir nur trübe Tage ins Gedächtnis zurück, und doch durchwandelte ich sie mit Vergnügen. Dann stieg aber auch die Erinnerung an einige wonnige Stunden in mir auf – eine Erinnerung, die noch immer voll Reiz für mich war, trotz der Bitterkeit der Enttäuschungen, die auf jenen Augenblick des Glückes gefolgt waren.

»Denken Sie noch daran, Herr Pfarrer?« sagte ich und deutete auf einen Kirschbaum, auf den Paul einst gestiegen war.

»Wir wollen an etwas andres denken, kleine Reine.«

»Als ob das möglich wäre! Wenn Sie wüßten, wie sehr ich ihn liebe! Er hat gar keine Fehler, das kann ich Sie versichern!«

Einmal bei diesem Gegenstand angelangt, hätte keine menschliche und keine übernatürliche Macht vermocht, mir Einhalt zu thun, um so weniger, als ich auf Pavol stets gezwungen war, diese Gedanken und Empfindungen zu verbergen. Ich sprach so lange und viel, daß der unglückliche Pfarrer schließlich ganz betäubt war.

Der Abend wurde unter Plaudern und Streiten verbracht. Der Pfarrer wandte seine ganze Beredsamkeit auf, um mir zu beweisen, daß die Ergebung eine leicht zu erringende, an Weisheit reiche Tugend sei.

»Mein lieber Pfarrer,« erwiderte ich mit ernster Miene, »Sie wissen nicht, was Liebe ist.«

»Glauben Sie mir, Reine, mit etwas gutem Willen können Sie vergessen lernen und diese Prüfung leicht überwinden. Sie sind ja noch so jung!«

So jung! ... Dies war sein A und sein O. Leidet man mit sechzehn Jahren weniger als in irgend welchem andern Alter?

So ein Greis kann doch zu wunderlich sein!

Ich meinerseits wiederholte kopfschüttelnd: »Das verstehen Sie nicht, Herr Pfarrer, das verstehen Sie nicht.«

Am andern Morgen, als er mich in seinem Garten spazieren führte, sagte ich: »Herr Pfarrer, ich habe heute nacht einen Gedanken hin und her überlegt.«

»Lassen Sie hören, Kleine.«

»Ich möchte gern, daß Sie auf die Pfarre von Pavol kämen.«

»Man kann nicht einem andern seine Stelle wegnehmen, Reine.«

»Der Geistliche von Pavol ist so alt wie Methusalem, Herr Pfarrer; er altert schnell, und ich verfolge die Fortschritte, die seine Abnahme macht, mit zarter Sorgfalt. Würden Sie nicht gern an seine Stelle treten?«

»Natürlich, sehr gern, obgleich es mir leid thäte, mein Kirchspiel zu verlassen. Ich bin nun fünfunddreißig Jahre hier und habe es jetzt lieb gewonnen.«

»Jetzt! Hat es Ihnen nicht immer hier gefallen?«

»Nein, Reine; Sie wissen ja, wie trübselig es hier ist. Vielleicht haben Sie noch gar nicht daran gedacht, daß ich auch einmal jung gewesen bin. Meine Träume und Wünsche waren zwar nicht ganz der Art, wie die Ihren, liebe Kleine, aber ich hätte gern ein thätiges Leben geführt; ich hätte gar viele Dinge gern gesehen und gehört, denn ich war nicht unbegabt und sehnte mich nach vielen geistigen Hilfsmitteln, die mir versagt geblieben sind. Ehe Sie in mein Dasein getreten sind, stand ich ganz allein, ohne Freundschaft und ohne Liebe um mich her. Aber wenn man recht will, liebe Reine, so kann man Langeweile und Kümmernisse überwinden. Bis Sie von hier fortgingen, bin ich sehr glücklich gewesen und habe die langen, traurigen Tage meiner Jugend völlig vergessen gehabt.«

Sinnend blickte mich der Pfarrer an und ich, die ich nie daran gedacht hatte, er könne auch gelitten haben, weil ich ihn immer nur heiter und zufrieden gesehen hatte, ich fühlte mich ergriffen und gerührt von dieser wahren, milden Ergebung, die so ohne jede Bitterkeit war.

»Sie sind ein Heiliger, lieber Pfarrer,« sagte ich und ergriff seine Hand.

»Bst! Reden Sie keinen Unsinn, liebes Kind! Ich habe unter beschränkten Lebensverhältnissen gelitten, aber das ist das Los all meiner Amtsbrüder, die jungen, thätigen Geistes sind. Ich habe nur mit Ihnen über diese Dinge gesprochen, um Ihnen zu zeigen, daß man alles ertragen und Glück und Heiterkeit wieder gewinnen kann, wenn die Prüfungen vorüber und mutig ertragen worden sind.«

Ich verstand ihn recht wohl, aber er war trotzdem der Prediger in der Wüste. Ich war zu jung, um nicht völlig unabhängig in meinen Anschauungen zu sein, und ich sagte mir natürlich, daß kein andres Leid mit dem einer unglücklichen Liebe verglichen werden könne.

»Wenn die Pfarre von Pavol einmal frei wird, gehe ich sehr gerne hin, Reine; nur hängt dieser Wechsel nicht von mir ab.«

»Ja, ich weiß wohl, aber mein Onkel kennt den Bischof gut und wird das schon machen.«

Der Pfarrer begleitete mich nach C... Als er mich in dem eleganten Landauer meines Onkels sitzen sah, rief er: »Was ich mich freue, liebe Reine, Sie endlich an Ihrem Platz zu sehen! Der Wagen paßt besser zu Ihnen, als Jeans Karre.«

»Bald sollen Sie mich in einem schönen Schloß sehen,« versetzte ich. »Ich werde eine neuntägige Andacht verrichten, damit der Pfarrer von Pavol bald in den Himmel verpflanzt wird. Das ist ein schicklicher Wunsch, denn er ist alt und leidend. Dann bekommen Sie eine schöne Kirche und eine Kanzel, Herr Pfarrer, eine richtige große Kanzel!«

Die Pferde zogen an und ich beugte mich aus dem Fenster, um meinen alten Pfarrer noch länger zu sehen, der mir liebevoll zuwinkte und ganz vergaß, seinen Hut aufzusetzen; denn eine frohe, glückverheißende Hoffnung war in sein Herz eingezogen.


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