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Fünftes Kapitel

Da mir der bisherige Erfolg meiner Sittenstudien aber dennoch ungenügend erschien, beschloß ich, sie mit Hilfe der Romane in der Bibliothek weiter fortzuführen.

An einem Montage – es war Markttag – sollten meine Tante, der Pfarrer und Suzon zusammen nach C... fahren. Meine Tante hatte, wie immer, angeordnet, daß ich unter der Obhut Perrines zurückbleibe, und zum erstenmal in meinem Leben war ich von dieser Ordnung der Dinge entzückt. Ich war gewiß, mir selbst überlassen zu bleiben, denn Perrine beschäftigte sich viel mehr mit ihren Idealen als mit meinen Einfällen.

Bei einem derartigen Ausfluge fuhr der Pächter morgens um acht Uhr mit einer Art Halbchaise, einem merkwürdigen Ding, halb Wagen, halb Karre, auf den Hof. Meine Tante erschien in großem Staat, das Haupt mit einem runden Filzhut geschmückt, den sie mit blaßlila Bindebändern vervollständigt und schief auf ihrem Chignon sitzen hatte. Sie war unabänderlich in Pelze gehüllt, mochte es nun warmes oder kaltes Wetter sein, denn seit ihrer Verheiratung huldigte sie dem Grundsatz, daß eine Dame von Stand nirgends hinfahren könne, ohne das Fell irgend eines Tieres am Leibe zu tragen. Sobald sie also angethan war, glaubte sie fest, jeder Makel ihrer Herkunft sei ausgemerzt.

Sie setzte sich auf einen Stuhl im Hintergrund des Wagens, auf welchem Stuhl ein Kopfkissen lag, damit jener zarte Teil des menschlichen Körpers, den eine keusche Feder nicht zu nennen wagt, nicht allzuviel zu leiden habe.

Suzon, der die Aufgabe zufiel, ein Pferd zu lenken, das seinen Weg allein fand, setzte sich rechts auf die Vorderbank, und der Pfarrer kletterte neben sie.

Dann wandten sie sich gleichzeitig nach mir um.

»Machen Sie keine Dummheiten und gehen Sie nicht in den Küchengarten,« sagte meine Tante.

»Machen Sie ja kein Durcheinander in meiner Küche,« rief Suzon, »sondern begnügen Sie sich zum Frühstück mit kaltem Kalbsbraten.«

Der Pfarrer sprach kein Wort, aber er lächelte mich freundlich an und machte eine Bewegung, die besagen sollte: »Sie hat's nicht gewollt, aber ich hätte Sie gern mitgenommen.«

An jenem denkwürdigen Morgen begab sich alles wie gewöhnlich. Ich folgte ihnen ein paar Schritte auf der Landstraße und sah sie bald nur noch wie drei Salatkörbe hin und her wackeln und dann verschwinden.

Ohne eine Minute Zeit zu verlieren, machte ich mich an die Ausführung eines längst in mir gereiften Planes. Es handelte sich darum, von der Bibliothek, deren Schlüssel der Pfarrer unseligerweise mitgenommen hatte, Besitz zu ergreifen, doch ich war nicht das Mädchen, mich durch solche Kleinigkeiten entmutigen zu lassen.

Ich suchte eine Leiter und schleifte diese unter das Fenster der Bibliothek; nach beinahe übermenschlichen Anstrengungen gelang es mir, sie aufzurichten und fest an die Mauer zu lehnen. Leicht klimmte ich die Sprossen hinan und zertrümmerte vermittelst eines Steines, mit dem ich mich bewaffnet hatte, eine Fensterscheibe; dann nahm ich die noch in dem Rahmen hängenden Glasstücke heraus, zwängte meinen Oberkörper durch die Oeffnung und ließ mich in die Bibliothek hinabfallen, d. h. ich stürzte mit dem Kopf voraus auf den mit Steinfliesen bedeckten Fußboden und trug eine riesige Beule davon, für die mir, beiläufig gesagt, der Pfarrer am nächsten Tag eine Salbe brachte.

Meine erste Sorge war es, sobald ich mich von der Betäubung des Sturzes erholt hatte, in der Schublade eines alten Schreibtisches nach einem zweiten Schlüssel zu suchen. Meine Nachforschungen dauerten nicht lange, und nach zwei oder drei unfruchtbaren Versuchen besaß ich, was ich wollte.

Nachdem ich, soweit es möglich war, die Spuren meines Einbruches beseitigt hatte, ließ ich mich in einen Lehnsessel nieder, und während ich mich von meinen Anstrengungen erholte, fielen meine Blicke auf die Werke von Walter Scott, die mir gegenüberstanden. Aufs Geratewohl griff ich einen Band heraus und trug »Das schöne Mädchen von Perth« wie einen kostbaren Schatz in mein Zimmer.

Ich empfand die Freude eines Gefangenen, der sich aus seinem Kerker heraus mitten unter Bäume, Blumen und Sonnenschein versetzt sieht, oder besser noch, die Wonne eines Künstlers, der das Lieblingswerk seines Geistes und seines Herzens zum erstenmal in idealer Weise vorgetragen hört. Die unbekannte Welt, nach der ich mich, mir selbst unbewußt, so lange gesehnt hatte, enthüllte sich nun vor mir. Plötzlich ging meinem Geist ein so helles Licht auf, daß ich glaubte, ich sei bisher ganz einfältig und beschränkt gewesen. Ich berauschte mich förmlich an diesem farbenreichen, lebensvollen Roman.

Träumerisch verfügte ich mich des Abends in das Eßzimmer hinab, wo ich vom Pfarrer, der zu Tisch bei uns blieb, ungeduldig erwartet wurde.

Mit tiefem Mitleid betrachtete er mein Gesicht und fragte mich voll lebhaften Interesses, auf welche Weise mir denn der Unfall zugestoßen sei.

»Ein Unfall?« fragte ich erstaunt.

»Sie haben sich ja die Stirn ganz braun und blau gefallen, liebe Reine.«

»Das dumme Ding wird auf einen Baum oder eine Leiter gestiegen sein,« sagte meine Tante.

»Auf eine Leiter, ja, so ist es!« erwiderte ich.

»Armes Kind!« rief der Pfarrer betrübt. »Und Sie sind auf den Kopf gefallen.«

Ich nickte bejahend.

»Haben Sie Arnikaumschläge gemacht, Kleine?«

»Na, das wäre schon der Mühe wert!« fuhr meine Tante dazwischen. »Essen Sie Ihre Suppe, Hochwürden, und kümmern Sie sich nicht um das leichtsinnige Ding, es geschieht ihr ganz recht!«

Der Pfarrer schwieg, winkte mir aber freundlich zu und betrachtete mich verstohlen.

Ich aber schenkte dem, was um mich herum vorging, nur geringe Aufmerksamkeit; ich dachte an die reizende Katharine Glover, an den braven Heinrich Smith, in den ich mich, in Erwartung eines bessern, verliebt hatte und brach dann ohne weiteres in Schluchzen aus.

»Ach, du mein Gott!« rief der Pfarrer und sprang auf. »Meine liebe kleine Reine, mein gutes, liebes Kind!«

»Ach, lassen Sie sie doch!« sagte meine Tante. »Sie ist nur verdrießlich, weil wir sie nicht mit nach C... genommen haben.«

Aber der Pfarrer, der wußte, daß mir nicht leicht etwas Thränen entlockte, und daß ich viel zu stolz war, um vor meiner Tante einem durch sie verursachten Kummer Ausdruck zu geben, trat zu mir heran, fragte mich leise, was mir fehle, und suchte mich zu trösten.

»Es ist nichts weiter, lieber Herr Pfarrer,« sagte ich, wischte meine Thränen ab und lachte. »Sie wissen ja, daß ich wehleidig bin, und mein Kopf thut mir sehr weh, ich muß entsetzlich häßlich aussehen.«

»Nicht häßlicher als sonst auch,« tröstete mich meine Tante.

Der Pfarrer betrachtete mich besorgt; die Erklärung genügte ihm nicht, und er ahnte, daß mir im Verlauf des Tages etwas Außerordentliches zugestoßen sein müsse. Er riet mir, sofort zu Bett zu gehen, was ich denn auch mit Vergnügen that.

Ich fühlte mich um so beschämter über die Rührscene, die ich aufgeführt hatte, weil ich selbst nicht wußte, warum ich geweint hatte. War es Freude, war es Aerger gewesen? Ich wußte es nicht und sagte mir noch im Einschlafen, es habe auch weiter keinen Wert, mein Empfinden zu zergliedern.

Während des darauffolgenden Monats verschlang ich den größten Teil von Walter Scotts Schriften. Seit jener Zeit habe ich viele große, tiefe Freuden und Genüsse gehabt, aber so groß sie auch waren, so glaube ich doch nicht, daß sie der Wonne gleichkommen, die ich empfand, als mein Geist den ihn umgebenden Nebel durchbrach wie ein Schmetterling seine Puppe. Ich taumelte von Wonne zu Wonne, von Entzücken zu Entzücken. Ich vergaß alles um mich her und lebte nur in meinen Romanen, mit den Personen, die meine Einbildungskraft entflammten.

Erklärte mir der Pfarrer meine mathematische Aufgabe, so dachte ich an Rebekka, die ich mit dem Templer allein gelassen hatte; hielt er mir einen Vortrag über Geschichte, so zogen vor meinen Augen jene entzückenden Helden vorüber, unter denen sich mein wankelmütiges Herz schon etliche fünfzehn Gatten erwählt hatte; zankte er mich aus, so vernahm ich nur die Hälfte seiner Vorwürfe, denn ich war gerade mit der Zusammenstellung eines Anzuges beschäftigt, wie ihn Elisabeth von England oder Amy Robsart getragen.

»Was haben Sie für heute gearbeitet?« fragte er eines Tages.

»Nichts.«

»Wie, gar nichts?«

»Das ist mir alles zu langweilig,« sagte ich mit mitleidiger Miene.

Der arme Pfarrer war wie aus den Wolken gefallen. Er hielt mir lange Reden und sprach, bis ihm der Atem ausging, aber er würde ebensoviel Eindruck gemacht haben, wenn er sich an irgend eine Rothaut gewendet hätte.

Allmählich überkam mich eine große Traurigkeit. Wenn meine Tante mich auch nicht mehr schlug, so hielt sie sich doch dafür schadlos, indem sie mir ständig die unangenehmsten Dinge sagte. Sie hatte gemerkt, daß es mich bekümmerte, so klein zu sein. Nicht eine Gelegenheit ließ sie hinaus, ohne mich an dieser empfindlichen Stelle zu treffen, sie hieß mich »Zwerg« und hielt mir immer wieder vor, wie häßlich ich sei.

Noch vor kurzem hatte ich mich sehr hübsch gefunden und viel mehr Vertrauen in meine Meinung als in die meiner Tante gesetzt, aber nachdem ich die Bekanntschaft der Heldinnen Walter Scotts gemacht hatte, stiegen doch Zweifel in mir auf. Sie waren so schön, daß mich der Gedanke tief bedrückte, man müsse ihnen gleichen, um geliebt zu werden.

Dem Pfarrer kam aus lauter Mitgefühl seine blühende Gesichtsfarbe und sein Lächeln abhanden. Er betrachtete mich mit kläglicher Miene, schnupfte in einem fort, und zwar mit Hintansetzung aller Regeln der Kunst, und suchte mein Geheimnis zu erforschen, wozu ihm kein Mittel zu schlecht war; doch ich blieb unergründlich.

Eines Tages sah ich ihn seine Schritte nach der Bibliothek lenken, allein ich hütete mich wohl, meinen Schlüssel stecken zu lassen. Kopfschüttelnd kam er zurück und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, die ihm mehr als je zu Berge standen, so daß er wie ein Wiedehopf aussah.

Ich hatte mich hinter einer Thür versteckt, und als er an mir vorüberkam, hörte ich ihn murmeln: »Ich bringe das nächste Mal den Schlüssel mit.«

Dieser Entschluß beunruhigte mich sehr, denn ich sagte mir, daß er nun mein Geheimnis sicher entdecken werde und ich mein geliebtes Lesen werde aufgeben müssen.

Sofort holte ich mir einige Romane und trug sie in mein Zimmer; auf den Regalen füllte ich die Lücken mit andern, aufs Geratewohl herausgegriffenen Bänden aus; allein ich wußte wohl, daß trotz aller Vorsichtsmaßregeln das Stück Papier, mit dem ich die zerbrochene Scheibe zugeklebt hatte, laut genug gegen mich zeugen würde.

An jenem Tage entdeckte ich beim Durchsehen von Briefen, die ich in dem Schreibpult gefunden hatte, die Herkunft meiner Tante. Dies gab mir eine neue Waffe gegen sie in die Hand, und ich beschloß, dieselbe ohne Zögern zu benutzen.

Am andern Morgen erschien sie in sehr schlechter Laune beim Frühstück. In derartiger Gemütsverfassung pflegte sie, falls sich kein Vorwand bot, widerwärtig gegen mich zu sein, auf einen solchen zu verzichten und ohne Umstände den Angriff zu eröffnen.

Ich träumte gerade von dem liebenswürdigen Buckingham, der mir wegen seiner Unverfrorenheit, seiner schönen Kleider und Quasten und wegen seines Geistes höchst bewundernswert erschien, und ich sann darüber nach, warum wohl Alice Bridgeworth in solche Verzweiflung darüber geriet, daß sie sich bei ihm befand, als meine Tante ganz unvermittelt sagte: »Wie häßlich Sie heute morgen sind, Reine!«

Ich fuhr in die Höhe.

»Hier,« sagte ich und reichte ihr das Salzfaß hin.

»Ich habe kein Salz verlangt, dumme Gans! Wahrhaftig, Sie sind beinahe ebenso dumm als häßlich!«

Ich muß nämlich bemerken, daß meine Tante mich niemals duzte. Von dem Tag an, an dem sie die Frau meines Onkels geworden war, hatte sie das Wörtlein »du« aus ihrem Wortschatz gestrichen, in der Meinung, das ihrer neuen Stellung schuldig zu sein. Sie sagte sogar zu ihren Kaninchen »Sie«.

»Da bin ich andrer Meinung,« gab ich trocken zurück, »ich finde mich sogar sehr hübsch!«

»So ein Blödsinn!« rief meine Tante. »Sie und hübsch! So ein Zwerg, der kaum bis über den Tisch hinaufreicht!«

»Ich will lieber einer zarten Pflanze gleichen, als aussehen wie ein mißratener Mann!« entgegnete ich.

Meine Tante hielt sich steif und fest für eine Schönheit und verstand in diesem Punkt gar keinen Spaß.

»Ich bin schön gewesen, Fräulein Nichte, so schön, daß man meine Schwester und mich nur ›die beiden Schönheiten‹ nannte.«

»Glich Ihre Schwester Ihnen, Frau Tante?«

»Sehr, wir waren Zwillinge.«

»Dann muß aber der Mann Ihrer Schwester recht unglücklich gewesen sein,« äußerte ich in überzeugtem Ton.

Meine Tante stieß eine Verwünschung aus, die zu wiederholen ich meiner Feder nicht gestatten kann.

»Uebrigens,« fuhr ich gelassen fort, »ist es ja ganz natürlich, daß Sie den Geschmack einer Frau aus dem Volke haben, während ich –«

Mit offnem Mund blieb ich mitten in meinem Satze stecken; meine Tante hatte mit dem Griff ihres Messers einen Teller zerbrochen. Was ich gesagt, hatte ihr gezeigt, daß ihre Bemühungen, mir ihre Herkunft zu verbergen, vergeblich gewesen waren, und rächte mich gründlich für alle ihre Bosheiten.

»Sie sind eine Schlange!« rief sie mit vor Wut erstickter Stimme.

»Ich glaube nicht, Frau Tante!«

»Eine Schlange!«

»Sie haben das schon einmal gesagt,« erwiderte ich und aß ruhig meine letzte Erdbeere.

»Eine Schlange, die ich an meinem Busen erwärmt habe,« wiederholte meine Tante, die viel zu wütend war, um viel Abwechslung in ihre Vergleiche bringen zu können.

Ich schüttelte den Kopf und dachte bei mir, daß ich mich, falls ich eine Schlange wäre, jedenfalls an diesem Ort nicht sehr wohl fühlen würde.

»Erlauben Sie,« begann ich wieder, »ich habe die Naturgeschichte dieses Tieres studiert, habe aber nirgends gefunden, daß es die Gewohnheit hat, sich an irgend jemandes Busen ›wärmen‹ zu lassen.«

Meine Tante, die immer außer Fassung kam, wenn ich auf meine Studien anspielte, erwiderte nichts, allein ihr Gesichtsausdruck war so wenig beruhigend, daß ich mich davonmachte, aber nicht, ohne aus vollem Hals zu singen: »Es war einmal ein Onkel von Pavol, von Pavol, von Pavol!«

Es war Mitte Juni. Die Schmetterlinge flatterten hin und her, die Käfer summten und die Luft war von tausenderlei Düften geschwängert, kurz, das Wetter schien mir so verlockend, daß ich der gewohnten Vorsicht vergaß. Ich nahm mein Buch und ließ mich auf einer Wiese im Schatten eines Heuhaufens häuslich nieder.

Mit etwas schwerem Herzen überlegte ich mir die Worte meiner Tante. Jedenfalls war es furchtbar traurig, so klein, so sehr klein zu sein. Wer würde mich jemals lieben können? Aber ich tröstete mich und las »Peveril vom Gipfel«. Dies war mir gerade wegen Fenella, die unzweifelhaft noch kleiner gewesen ist, als ich, einer der liebsten unter den Walter Scottschen Romanen.

Ich liebte, ich vergötterte Buckingham und war wütend über Fenella, die ihm solch harte Worte gab, und in dem Augenblick, in dem sie durch das Fenster verschwand, unterbrach ich mich im Lesen und rief: »Das alberne Ding! Ein so himmlischer Mann!«

Bei diesen Worten blickte ich auf und stieß einen lauten Schrei aus, denn ich sah den Pfarrer vor mir stehen. Mit gekreuzten Armen stand er da und starrte mich an, so verblüfft, als wären ihm, wie dem Mann im Märchen, seine Diamanten in Haselnüsse verwandelt worden.

Ich erhob mich etwas beschämt, denn ich hatte ihn schmählich getäuscht.

»O, Reine!« begann er.

»Lieber Herr Pfarrer,« rief ich und drückte ›Peveril vom Gipfel‹ fest an mein Herz, »ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, lassen Sie mich weiter lesen.«

»Reine, meine liebe Kleine, das hätte ich nie von Ihnen geglaubt!«

Diese Milde rührte mich um so mehr, als ich durchaus kein gutes Gewissen hatte; aber mit echt weiblicher Taktik beeilte ich mich, der Sache eine andre Wendung zu geben.

»Es war mir eine Zerstreuung, Herr Pfarrer, und ich fühlte mich so grenzenlos unglücklich!«

»Unglücklich, Reine?«

»Glauben Sie denn, es sei angenehm oder unterhaltend, eine solche Tante zu haben? Es ist wahr, sie schlägt mich nicht mehr, aber sie thut mir mit Worten nur um so weher!«

Wie gut ich meinen Pfarrer kannte! Wie schnell hatte er alle Vorwürfe und Strafpredigten vergessen, wohl auch, weil ein gut Teil Wahrheit in meinen Worten lag.

»Und darum sind Sie so traurig, mein liebes, kleines Mädchen?«

»Gewiß, Herr Pfarrer. Bedenken Sie nur, daß meine Tante in allen Tonarten wiederholt, ich sei ein Zwerg und so häßlich wie eine Vogelscheuche.«

Meine Augen füllten sich mit Thränen, denn solche Worte hatten mich stets ins Herz getroffen.

Der gute Pfarrer war sehr ergriffen und rieb sich unschlüssig die Nase. Er war weit davon entfernt, die Ansicht meiner Tante über diesen Punkt zu teilen, und fragte sich, wie er mein Leid lindern könne, ohne in meiner Seele den Stolz, die Eitelkeit und andre höllische Mächte zu wecken.

»Liebe Reine, man soll so vergänglichen Dingen nicht so viel Wert beilegen.«

»Einstweilen sind diese Dinge aber doch einmal vorhanden,« gab ich zurück.

»Und außerdem gibt es vielleicht auch Leute, die andrer Meinung darüber sind, als Frau von Lavalle.«

»Gehören Sie zu diesen Leuten, Herr Pfarrer? Finden Sie mich hübsch?«

»Nun – ja,« erwiderte der Pfarrer mit kläglichem Ton.

»Ja? Sehr hübsch?«

»Nun – ja, ja,« lautete die Antwort im nämlichen Ton.

»Ach, bin ich froh!« rief ich, mich um mich selbst drehend. »Und wie lieb ich Sie habe, Herr Pfarrer!«

»Gut, gut, Reine, aber Sie haben ein großes Unrecht begangen. Auf die Gefahr hin, den Hals zu brechen, haben Sie sich Eintritt in die Bibliothek verschafft und haben Bücher gelesen, die ich Ihnen nicht gegeben hätte.«

»Walter Scott, Herr Pfarrer, es ist Walter Scott, und von dem steht so viel Gutes in meiner Literaturgeschichte.«

Und ich schilderte ihm alle meine Eindrücke. Ich sprach lange und fließend und bemerkte mit Entzücken, daß der Pfarrer nicht nur weit davon entfernt war, mich zu zanken, sondern auch mit Interesse meinem Berichte lauschte. Angesichts meiner wie durch ein Wunder wieder erweckten Lebhaftigkeit und Munterkeit kehrten auch ihm der lächelnde Gesichtsausdruck und die blühende Farbe seiner Wangen zurück.

»Gut,« sagte er schließlich, »ich erlaube Ihnen, Ihren Walter Scott weiter zu lesen, und will ihn auch selbst wieder vornehmen, damit ich mich mit Ihnen darüber unterhalten kann, aber dann müssen Sie mir auch versprechen, nicht wieder über die Stränge zu schlagen!«

Dies versprach ich herzlich gern, und von nun an hatten wir einen neuen Gegenstand für unsre Erörterungen und Streitereien, denn selbstverständlich waren wir nie der nämlichen Ansicht.

Bald aber wurde das Interesse an meinen Romanen durch ein neues, ganz unerhörtes Ereignis, das sich wenige Wochen später im »Busch« begab, in den Schatten gestellt. Es war eines jener Ereignisse, die zwar keine Throne erschüttern, aber Unruhe und Verwirrung in das Herz oder die Einbildungskraft eines jungen Mädchens tragen.


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