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Fünfzehntes Kapitel

Ich hatte mein dem Pfarrer gegebenes Versprechen gehalten und schrieb ihm pünktlich zweimal die Woche. Diese Gewohnheit war ihm so lieb, so tröstlich geworden, daß er in Kummer und Unruhe versank, als mein Briefwechsel mit ihm plötzlich ins Stocken geriet.

Ausschließlich mit meinem Herzenskummer beschäftigt, hatte ich ihm vierzehn Tage kein Lebenszeichen mehr zukommen lassen; dann gab ich seinen dringenden Bitten nach und sandte ihm Botschaften wie diese: »Der Mensch ist dumm, Hochwürden; das habe ich jetzt entdeckt. Was halten Sie davon, lieber Pfarrer? Ich küsse Sie von Herzen – der Teufel hole die Schicklichkeit!«

Oder auch: »Ach, mein armer Pfarrer, ich fürchte sehr, die Quelle des kalten Wassers entdeckt zu haben, von dem wir vor drei Monaten sprachen. Es gibt gar kein Glück, es ist ein Köder, eine Mythe, alles, was Sie wollen, nur keine Wirklichkeit.

»Leben Sie wohl; wenn uns der Tod nicht so häßlich machte, würde ich mit Freuden sterben. Sterben, ja sterben, Hochwürden, Sie haben recht gelesen.«

Er schrieb mir mit jeder Post.

»Meine teure Tochter! Was hat der Ton Ihrer letzten Briefchen zu bedeuten? Noch vor drei Wochen schienen Sie sich im Glanz und der Freude Ihrer gesellschaftlichen Erfolge so glücklich zu fühlen! Nein, nein, kleine Reine, das Glück ist keine Mythe – es wird Ihr Los sein, aber im Augenblick hat die Einbildung Macht über Sie gewonnen, reißt Sie mit sich fort und trübt Ihren Blick. Sie haben meinen Rat nicht befolgt, Reine; Sie haben mit den Freudenfeuern Mißbrauch getrieben, nicht wahr? Armes, liebes, kleines Kind, kommen Sie und besuchen Sie mich, dann sprechen wir über alles, was Sie drückt und bewegt.«

Ich erwiderte ihm: »Hochwürden, die Einbildungskraft ist eine dumme Gans, das Leben eitel Plunder und die Welt, die aus der Ferne so glänzend aussieht, nur ein Lappen, den man als eine Vogelscheuche an einen Kirschbaum hängt. Ich habe Lust, in den Trappistenorden einzutreten, mein lieber Pfarrer! Wenn ich sicher wäre, daß man mich auch dort ab und zu mit so entzückenden Kavalieren tanzen ließe, wie ich welche kenne, so würde ich ganz sicher dort Zuflucht suchen und meine Jugend und Schönheit daselbst begraben. Aber ich fürchte, ein derartiger Zeitvertreib wird in den Ordensregeln der Trappisten nicht vorgesehen sein. Lassen Sie mir darüber einige Mitteilungen zukommen, Herr Pfarrer, und seien Sie überzeugt, daß Sie nur ein Optimist sind, wenn Sie behaupten, es gebe wirklich Glück auf der Welt und mir sei es beschieden. Sie leben wie die Made im Käse; nicht als ob Sie ein Egoist wären, aber Sie haben keine Ahnung von den Schicksalsschlägen, die über Menschen hereinbrechen, die in der Welt leben.

»Ich habe keine Illusionen mehr, mein lieber Herr Pfarrer. Ich bin ein altes, armes, gutes, verkrüppeltes, armseliges Geschöpf, – aber wohlverstanden, nur in moralischer Hinsicht, denn ich bin hübscher als je, – ein armes, altes Weib, das nichts mehr glaubt, nichts mehr hofft, und dem es närrisch vorkommt, daß die Erde grünt und blüht und die Sonne weiter scheint, während doch die Freuden und Träume seines Lebens zerstört und vernichtet sind ... Mein inneres Wesen, seiner trügerischen fleischlichen Hülle entkleidet, ist nichts als ein Skelett, ein abgestorbener, völlig verdorrter Baum, dessen Mark vertrocknet, dessen Blätter vom Wind verweht sind und der nun seine großen, starren, nackten Arme gen Himmel reckt.

»Wenn nur das Aeußere nicht vom Innern angesteckt wird, ich zittere davor, Herr Pfarrer! Ich zittere! Mit sechzehn Jahren nicht die geringste Illusion mehr haben, ist das nicht schrecklich?

»Auf Wiedersehen, lieber, alter Pfarrer!«

Zwei Tage, nachdem ich diese Epistel, die dem Pfarrer einen ziemlich traurigen Begriff von meinem dermaligen Seelenzustand beibringen mußte, vom Stapel gelassen hatte, wünschte mein Onkel einen Nachmittag mit uns auf dem Sankt Michaelsberg zu verbringen.

An jenem Tag lag Unheil in der Luft, ich fühlte es. Am Abend zuvor hatten mein Onkel und Herr von Conprat eine lange, geheime Unterredung miteinander; Paul erschien unruhig und aufgeregt, meine Cousine nachdenklich.

Mein Onkel und Juno, die eine Leidenschaft für den Sankt Michaelsberg hatten, führten mich mit großer Gefälligkeit herum; aber abgesehen davon, daß ich für die Architektur überhaupt wenig übrig hatte, betrachtete ich auch noch alles durch die schwarze Brille meiner geradezu mörderischen Stimmung.

»Wie anstrengend es ist, all diese Stufen hinaufzuklettern!« sagte ich und stöhnte bei jedem Schritt.

»Es sind mehr als sechshundert bis hinauf, Cousine.«

»Ich hätte nicht übel Lust, nicht weiter zu gehen.«

»Vorwärts, Nichte, du leidest ja nicht an der Gicht!«

Und während er die Stufen erklomm, die durch die Schritte so vieler Generationen ausgehöhlt waren, erzählte mir mein Onkel die Geschichte des Berges und Montgomerys.

Aber was waren mir Montgomery, diese Wälle, diese wunderbare Abtei, diese weiten Hallen und all die mannigfaltigen Erinnerungen, die hier seit Jahrhunderten ruhten! Ich hätte mich wohl gehütet, sie wachzurufen, denn für mich gab es hundertmal interessantere Dinge zu beobachten auf dem Antlitz dieses dicken Jungen, der Blanche mit Aufmerksamkeiten und Zuvorkommenheiten überhäufte und ganz und gar nicht an mich dachte.

Wie einfältig ich war, daß ich seine Liebe nicht eher entdeckt hatte! Er begeisterte sich für jeden Stein, um sich ihr angenehm zu machen, und von Zeit zu Zeit schleuderte ich ihm einige finstere Blicke zu, die er nicht einmal zu bemerken geruhte.

»Ah! Da wären wir im Rittersaal. Nun, Reine, was sagst du dazu?«

»Ich sage, daß der Saal mit den Rittern darin nicht ohne Reiz wäre.«

»Für sich allein findest du keinen Geschmack daran?«

»Nicht den mindesten! Ich sehe große Kamine und Pfeiler mit ausgehauenen kleinen Dingern darüber, aber ohne Ritter, denen man den Kopf ein wenig verdrehen kann. Bah, so hat die Sache keinen Wert!«

»Ich habe an eine solche Auffassung feudaler Baudenkmäler allerdings bis jetzt noch nicht gedacht,« erwiderte mein Onkel lachend. Wir schritten durch finstere Bogengänge, die mir Furcht einjagten, und ich klammerte mich fest an den Arm des Majors, während Paul den seinigen Blanche anbot.

»Sie haben einen Kummer, kleine Reine?« sagte der Major ganz leise zu mir.

»Sie sprechen ganz wie mein Pfarrer,« erwiderte ich mit Rührung.

»Wollen Sie Vertrauen zu mir haben?«

»Ich habe keinen Kummer,« gab ich störrisch zurück, »und habe auch zu niemand Vertrauen. Suzon hat immer gesagt, die Männer seien Taugenichtse, und ich bin ganz der Ansicht Suzons.«

»Oho!« sagte der Major und sah mich so liebevoll an, daß ich beinahe in Schluchzen ausgebrochen wäre; »so viel Menschenhaß bei so großer Jugend!«

Ich gab keine Antwort, und da wir auf einer Art langer Terrasse angekommen waren, entwischte ich ihm und verbarg mich hinter einer großen Arkade. Ich lehnte mein Haupt an einen der vielhundertjährigen Steine und fing an zu weinen.

»Ach,« dachte ich, »wie recht hat doch mein Pfarrer gehabt, als er einstens sagte, man solle nicht mit dem Leben rechten, sondern es ertragen. All meine Logik nützt mir nichts. Ach, du lieber Gott, wie traurig, wie sehr traurig ist es doch, sich so als ein unbedeutendes kleines Mädchen behandeln lassen zu müssen.«

Auf dem Heimwege, als wir wieder in der Eisenbahn saßen, fragte mein Onkel: »Nun, kleine Reine, was für einen Eindruck hat dir alles in allem der Sankt Michael gemacht?«

»Daß man dort vor Angst sterben oder sich einen Rheumatismus holen muß.«

Als wir von dem Bahnhof in V... nach Pavol zurückfuhren, stellte ich Betrachtungen über die Vergänglichkeit alles Irdischen an. Vor kaum drei Monaten hatte ich diesen nämlichen Weg voll glücklicher Träume zurückgelegt, in trunkener Erwartung der Zukunft, die so heiter und schön vor mir emporzusteigen schien ... und jetzt erschien mir dieser selbe Weg bedeckt von den Trümmern meines Glückes.

Es war schon spät, als wir heimkamen; trotzdem nahm mein Onkel Blanche mit in sein Zimmer, weil er, wie er sagte, noch heute abend ernstlich mit ihr zu reden habe.

Weinend legte ich mich zu Bett mit der Ueberzeugung, daß das Schwert des Damokles über meinem Haupte schwebe.

Schon längst war Juno von ihrem Olymp zu mir herabgestiegen und hatte sich mir menschlich genähert. Jeden Morgen kam sie zu mir, setzte sich auf mein Bett und plauderte lange mit mir. Morgens, Schlag sieben Uhr, trat sie bei mir ein mit ruhigem, gelassenem Schritt und jenem anmutigen Lächeln, das ihren hochmütigen Gesichtsausdruck milderte, und das vielleicht nur ich allein ganz kannte.

»Reine,« begann sie sofort, »Paul hat um mich angehalten.«

Das Haar war zerrissen, das Schwert des Damokles war gefallen und hatte mich ins Herz getroffen.

Wohl hatte ich diese Eröffnung erwartet, aber solange etwas noch nicht zur unabänderlichen Thatsache geworden ist, bewahrt das menschliche Herz noch immer einen Funken Hoffnung.

Ich wurde so bleich, so bleich, daß Blanche es bemerkte, obgleich das Zimmer halbdunkel war.

»Was hast du, Reine? Bist du krank?«

»Ein Krampf,« murmelte ich mit schwacher Stimme.

»Ich will Aether holen,« sagte sie und sprang auf.

»Nein, nein,« entgegnete ich mit heftiger Anstrengung, mich an meinen Stolz anklammernd, der zerschmolz, wie Butter an der Sonne. »Es ist vorbei, Blanche, ganz vorbei.«

»Hast du dies öfter, Reine?«

»Nein ... nur manchmal. Es hat nichts zu sagen – sprechen wir nicht mehr davon!«

Blanche fuhr sich mit der Hand über die Stirn, wie jemand, der einen lästigen Gedanken verscheuchen will; aber ich nahm das Gespräch mit so fester Stimme wieder auf, daß sie sich zu beruhigen schien.

»Nun, Juno, und was willst du thun?«

»Mein Vater hat mir gesagt, daß diese Verbindung sein höchster Wunsch sei, Reine.«

»Und sagt sie dir zu?«

»Die Verbindung sagt mir natürlich zu; alle Verhältnisse stimmen vortrefflich zusammen, aber vorderhand liebe ich Paul nur als meinen Vetter.«

»Was hast du an ihm auszusetzen?«

»Nichts, als daß er mir nicht gut genug gefällt. Er ist ein vortrefflicher Junge, aber ich mag diese Art Männer nicht. In erster Linie ist er nicht schön genug und außerdem ißt er wie ein Drescher, was, wie du mir zugeben wirst nicht sehr poetisch ist!«

»Immerhin ist es doch nur logisch, daß man ißt, wenn man Hunger hat!« erwiderte ich und verschluckte meine Thränen.

»Uebrigens glaube ich, daß wir nicht zusammenpassen werden.«

»Also gibst du ihm einen Korb, Juno?«

»Ich habe mir einen Monat Bedenkzeit ausgebeten, kleine Reine. Ich bin sehr unschlüssig, denn ich fürchte die Enttäuschung für meinen Vater. Uebrigens bietet diese Heirat in mancher Beziehung alles, was ich nur wünschen kann, und Paul ist ein Ehrenmann.«

»Aber wenn du ihn doch nicht liebst, Blanche!«

»Mein Vater behauptet, ich werde ihn später lieben lernen und man brauche außerdem auch gar keine Liebe, um sich zu verheiraten und eine glückliche Ehe zu führen.«

»Wie kannst du so etwas glauben!« sagte ich empört auffahrend. »Der Onkel hat wirklich ganz verabscheuungswürdige Grundsätze.«

Allein Blanche entgegnete ruhig, ihr Vater sei ein sehr verständiger Mann, sie habe hundertmal gefunden, daß er sich in seinen Urteilen und Ansichten nicht täusche, und sie sei geneigt, seinen Wunsch zu erfüllen.

»Liebt Paul dich sehr, Juno?« stammelte ich mühsam.

»Ja, schon lange.«

»Du hast es gewußt?«

»Natürlich! Wir Mädchen wissen so etwas immer. Und du, hast du es nicht bemerkt?«

»Doch ... ein wenig,« erwiderte ich und weihte meiner Einfalt ein wehmütiges Erinnern.

Blanche verließ mich, nachdem sie mir noch mitgeteilt hatte, Paul habe so lange gezögert, um ihre Hand anzuhalten, weil er gefürchtet habe, abgewiesen zu werden.

Das hatte ich mir wohl gedacht! In fieberhafter Erregung kleidete ich mich an, denn ich fürchtete, von ihrem Vater beeinflußt, werde Blanche schließlich ihre Einwilligung geben.

An ihrer Stelle würde ich im ersten Augenblick ja gesagt und vierzehn Tage später Hochzeit gemacht haben.

Ich! Um meine Träume war es geschehen, und eine große Niedergeschlagenheit bemächtigte sich meiner.


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