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Sechstes Kapitel

Es war Sonntag.

Am Sonntag pflegten wir stets dem Hochamt anzuwohnen, das der einzige Morgengottesdienst war, weil der Pfarrer keinen Vikar hatte. Meine Tante trat zuerst in unsern wappengeschmückten Kirchenstuhl, ich folgte dicht hinter ihr, dann kam Suzon und Perrine machte den Beschluß.

Unsre kleine Kirche war alt und ärmlich. Die ursprüngliche Farbe der Wände verschwand unter einer Art grünlichen Schimmels, der sich infolge der Feuchtigkeit angesetzt hatte. Der Fußboden, weit davon entfernt, glatt und eben zu sein, war im buchstäblichen Sinne des Wortes wie Berg und Thal, und die Gläubigen liefen beständig Gefahr, den Hals zu brechen und von der geweihten Stätte direkt in den Himmel befördert zu werden; der Altar war mit Engelsbildern geschmückt, die der Stellmacher des Dorfes, der sich für einen Künstler hielt, gemalt hatte. Zwei oder drei Heilige betrachteten sich gegenseitig mit Erstaunen und wunderten sich, daß sie so häßlich waren. Wenn ich sie anschaute, sagte ich mir gar manchmal, daß ich als solch eine Heilige dem Gebet der Menschen, die mich so abschreckend dargestellt, mein Ohr gänzlich verschließen würde. Durch ein Fenster ohne Scheiben nickte eine weiße Rose herein mit ihrem duftenden Haupt, als wollte sie durch ihre Frische und ihre Schönheit gegen die Geschmacklosigkeit der Menschen protestieren.

Auch ein Harmonium besaßen wir, dem man drei, bei gutem Wetter sogar fünf Töne entlocken konnte, denn das Instrument wurde von der Witterung ebensosehr beeinflußt, wie der Rheumatismus unsres Kantors, der uns zwei Stunden lang vorgröhlte, aber von so tiefem, kindlichen Glauben an die Schönheit seiner Stimme beseelt war, daß man ihm nicht gram sein konnte.

Der Betschemel des Offizianten stand gerade in einem Loch, so daß ich von meinem Platz aus nur den Oberkörper und den Kopf des Pfarrers bemerken konnte, der aussah, als büße er hier eine Strafe ab. Hinter seinem Rücken schnitten die Chorknaben Gesichter und tuschelten miteinander, ohne daß es ihm eingefallen wäre, böse zu werden.

Nach dem Evangelium zog mein Pfarrer vor unsern Augen – wir waren ja ganz unter uns – Meßgewand und Stola aus und stolperte dann mühsam bis zur Kanzel weiter, auf der er endlich glücklich anlangte.

Ich glaube, unter all den menschlichen Wesen, die sich auf der Erdkugel herumtreiben, hat es nicht eines gegeben, das im Verlauf seines Lebens nicht einmal einen Lieblingswunsch gehabt hätte. Der Mensch, gleichviel ob hoch oder nieder, kann ohne Wünsche nicht leben, und mein Pfarrer, ebenfalls dem allgemeinen Naturgesetz unterthan, träumte schon dreißig Jahre lang von dem Besitz einer Kanzel.

Unglücklicherweise war er sehr arm, seine Pfarrkinder nicht reicher und meine Tante, die allein ihm hätte zu Hilfe kommen können, blieb für seine schüchternen Anspielungen völlig taub. Ganz abgesehen davon, daß sie schmutzig geizig war, wenn es sich ums Geben handelte, so pflegte sie auch auf die sehnlichsten Wünsche ihrer Nebenmenschen nicht die mindeste Rücksicht zu nehmen.

Mit der größten Sparsamkeit brachte der Pfarrer es doch so weit, daß er sich eines Tages im Besitz von zweihundert Franken sah, und er beschloß, seinen Traum zu verwirklichen, so gut es eben gehen wollte.

Eines Morgens langte er ganz außer Atem bei uns an.

»Kommen Sie, kleine Reine, kommen Sie mit mir!« rief er.

»Wohin denn, Herr Pfarrer?«

»In die Kirche, kommen Sie schnell!«

»Aber die Messe ist ja schon vorüber!«

»Jawohl, jawohl, aber ich muß Ihnen etwas ganz Entzückendes zeigen!«

Er sah so glücklich aus, sein Gesicht strahlte von einer solchen Heiterkeit, daß ich noch heute lächle, wenn ich daran denke, und daß seine Freude eine meiner liebsten Erinnerungen aus jener Zeit bildet.

Er ging nicht, er rannte, und wie im Fluge erreichten wir die Kirche. Man hatte die Kanzel aufgestellt, und der Pfarrer flüsterte mir zu, während er begeistert vor ihr stand: »Sehen Sie, liebe Reine, sehen Sie! Ist dies nicht eine gelungene Erfindung? Endlich haben wir eine Kanzel! Sie sieht nicht sehr solid aus, hält aber trotzdem bombenfest. Und nun ist der höchste Wunsch meines Lebens erfüllt! Man muß nie an etwas verzweifeln, Kleine, wie?«

Etwas verblüfft betrachtete ich die wunderbare Erfindung, denn ich konnte mir nicht verhehlen, daß ich mir unter einer Kanzel etwas Großes, Monumentales vorgestellt hatte. Das aber, was ich vor Augen hatte, war eine Art Schachtel aus weißem Holz und ruhte auf eisernen Trägern, die so niedrig waren, daß man zur Not zum Hinaufsteigen die Stufen ganz hätte entbehren können. Allein eine Kanzel ohne Stufen war etwas noch nie Dagewesenes; so hatte man denn zu ihrer Ehrenrettung deren zwei, jede etwa fünfzehn Centimeter hoch, angebracht.

»Sehen Sie doch, Reine, welche Wirkung sie hervorbringt! Sobald ich wieder ein bißchen bei Gelde bin, lasse ich sie mit Oelfarbe anstreichen oder, was noch besser ist: ich male sie selbst an; das macht mir Vergnügen und ist auch billiger. Allerdings könnte sie etwas höher sein, aber man muß seinen Ehrgeiz nicht allzu hoch spannen.«

Und der arme, treffliche Mann lief bewundernd um seine Kanzel herum. Wären die einzelnen Felder von Raphael gemalt oder von Michel Angelo ausgehauen gewesen, er hätte nicht glücklicher sein können.

Er dachte nicht daran, daß die Wirklichkeit – ach, wie immer! – seinem Traum durchaus nicht völlig entsprach; er hütete sich wohl, Vergleiche zu machen, und genoß sein Glück ganz rückhaltlos.

»Ich selbst habe den Plan dazu entworfen, liebes Kind, und ich habe unstreitig einen sehr guten Einfall gehabt! Indessen hat die Sache ihre zwei Seiten, und ich muß gestehen, daß ich eine kleine Schuld gemacht habe; der Preis, den man fordert, ist etwas höher, als ich vorgesehen hatte, aber es scheint, daß es immer so geht, wenn man etwas nach Entwürfen anfertigen läßt. Ich hatte vor, mir diesen Winter einen wattierten Ueberzieher zu kaufen, aber, du lieber Gott, nun behelfe ich mich eben ohne ihn – dann ist's in Ordnung!«

Seine Freude ist mir wirklich eine der liebsten Erinnerungen aus jener Zeit. Nie habe ich einen Menschen so glücklich gesehen wie meinen Pfarrer, der eine so mäßige Freude durch den Widerstrahl seines guten Herzens und seines etwas kindlichen Geistes verklärte.

»Sie sieht nämlich ganz wie eine Kanzel aus,« sagte er lachend und rieb sich die Hände vor Freude.

Was diesen Punkt betraf, hegte ich allerdings einige Zweifel, allein ich hütete mich wohl, meine Enttäuschung merken zu lassen, und begeisterte mich nach Möglichkeit für den merkwürdigen Gegenstand, der wegen der unregelmäßigen Beschaffenheit des Fußbodens in einer Vertiefung aufgestellt worden war, so daß, wenn der Pfarrer predigte, drei Viertel der Zuhörer nur einen Arm und eine Strähne weißen Haares zu sehen bekamen, die sich während der verschiedenen Stadien der Predigt aufs beredteste hin und her bewegten.

Der Pfarrer war so glücklich, wenn er sich sagen konnte: »Ich werde die Kanzel besteigen,« daß wir uns darein finden mußten, alle Sonntag eine Predigt über uns ergehen zu lassen.

Kaum hatte er den Mund geöffnet, so rückten sich die biederen Weiber schon bequem zurecht und schickten sich an, ein kleines Schläfchen zu halten, während Perrine unter dem Schutz der allgemeinen Schläfrigkeit mit der Bank gegenüber zu liebäugeln anfing und Reine von Lavalle Betrachtungen über das Ungemach des Lebens anstellte, das sich für sie in einer Tante und in der Langeweile der Predigten verkörperte.

Ich weiß nicht, warum der Pfarrer mit besonderer Vorliebe die menschlichen Leidenschaften behandelte; aber eines Tages, nachdem er sich von seinem Feuereifer hatte etwas hinreißen lassen, richtete ich bei Tisch so unbesonnene und verfängliche Fragen an ihn, daß er sich gelobte, gewisse Gegenstände in meiner Gegenwart nie mehr zu berühren. Von da an begnügte er sich, über Faulheit, Völlerei, Zorn und andre Laster zu reden, die weniger dazu angethan waren, meine Neugier zu erregen und meine Gesprächigkeit herauszufordern.

Eine ganze Stunde lang schilderte er uns den Sündenpfuhl, in den wir versunken waren, und wenn er uns dann so schlecht gemacht hatte wie möglich, dann stieg er strahlenden Auges mit uns hinab in die Tiefen der Hölle und führte uns die Qualen, die unsre sündigen Seelen verdienten, aufs anschaulichste vor; darauf wandte er sich mit einer kühnen Wendung etwas weniger schrecklichen Gedanken zu, tauchte langsam aus den Regionen der Hölle wieder empor, verweilte einige Augenblicke auf der Erde, setzte uns dann ruhig im Himmel ab und verließ die Kanzel mit dem siegesgewissen Schritt eines Alexander, der soeben irgend einen gordischen Knoten zerhauen hat.

Mit einem Ruck erwachte die Zuhörerschaft, Suzon ausgenommen, die viel zu gern von der Menschheit Uebles sagen hörte, als daß sie eingeschlafen wäre, und die förmlich schwelgte, während der Pfarrer das Füllhorn seiner Rhetorik über seine Schäfchen ausgeschüttet hatte.

Es war also an einem Sonntag und erdrückend heiß. Als wir nach Hause kamen, sagte Suzon: »Heute gibt es ganz gewiß noch ein Gewitter.«

Diese Prophezeiung machte mir Vergnügen; ein Gewitter war ein glückliches Ereignis in meinem einförmigen Leben und trotz meiner Hasenherzigkeit liebte ich den Donner und den Blitz, obwohl ich an allen Gliedern zitterte, wenn die Schläge allzu rasch aufeinander folgten.

Während der ersten Hälfte des Nachmittags irrte ich wie ein ruheloser Geist im Garten und im Wäldchen umher. Es war mir zum Sterben langweilig und trübselig, und ich sagte mir, ich werde nie und nimmer irgend ein Abenteuer erleben, und ich sei dazu verdammt, beständig bei meiner Tante weiter zu existieren.

Gegen vier Uhr kehrte ich ins Haus zurück und vergnügte mich damit, das Gesicht an die Scheiben gedrückt, vom Flurfenster des ersten Stockes aus die Bewegungen der Wolken zu verfolgen, die sich über dem »Busch« zusammenballten und uns das Gewitter brachten, das uns Suzon vorhergesagt hatte.

Ich fragte mich, woher diese Wolken kämen, was sie im Vorüberziehen erblickt, was sie mir alles erzählen könnten, mir, die ich vom Leben, von der Welt nichts wußte und die sich doch so unendlich sehnte, sie kennen zu lernen. Dort hinter jenem Horizont, über den ich nie hinausgekommen war, hatten sie sich gebildet. Er verhüllte mir Geheimnisse, Herrlichkeiten – wenigstens glaubte ich dies –, Freuden und Wonnen, über die ich in aller Stille nachgrübelte.

Von diesen Betrachtungen wurde ich durch Perrine abgelenkt, die sich, in einem Winkel versteckt, von einem großen Bauernlümmel küssen ließ, der seinen Arm um ihren Leib geschlungen hatte.

Rasch riß ich das Fenster auf, klatschte in die Hände und rief: »Bravo, Perrine!«

Erschrocken nahm Perrine ihre Holzschuhe in die Hand und flüchtete sich in den Stall. Der große Bauernlümmel zog den Hut und betrachtete mich mit einem grinsenden, albernen Lächeln, das ihm von einem Ohr zum andern ging.

Ich lachte noch aus vollem Hals, als ein leichter Wagen, den ich nicht hatte kommen hören, auf den Hof fuhr. Ein Herr sprang heraus, richtete einige Worte an den Diener, der ihm folgte, und sah sich dann um, als suche er jemand, mit dem er sprechen könne.

Allein Perrine, deren weiße Haubenzipfel ich durch das vergitterte Stallfenster schimmern sah, muckste nicht, und ihr Liebster hatte sich hinter einem Strohschuppen flach auf die Erde geworfen. Was mich betrifft, so hatte ich, ganz starr vor Staunen ob dieser unerwarteten Erscheinung, einen Fensterflügel aufgestoßen und verfolgte nun regungslos die Ereignisse.

Mit zwei Schritten hatte der Unbekannte die morschen, zur Hausthür führenden Stufen erstiegen und suchte die Glocke, die niemals vorhanden gewesen war; als er sie nicht fand, schlug er mit der Faust ein paarmal heftig an die Thür; offenbar war die Geduld nicht gerade seine stärkste Seite.

Meine Tante und Suzon tauchten plötzlich vor ihm auf, und ich kann versichern, daß ich von diesem Augenblick an über seinen Mut die allergünstigste Meinung faßte, denn er verriet keine Spur von Schrecken. Er verbeugte sich leicht, dann entnahm ich aus seinen Gebärden, daß er, von dem drohenden Himmel beunruhigt, im »Busch« um eine Zuflucht bat.

Im nämlichen Augenblick fing das Gewitter an, sich mit größter Heftigkeit zu entladen; man hatte eben noch Zeit, Pferd und Wagen ins Trockne zu bringen.

Die Einsamkeit soll für gewöhnlich schüchtern machen; in manchen Fällen aber bringt sie auch die entgegengesetzte Wirkung hervor. Da ich nie irgendwelchen Umgang gehabt und nie irgendwelche Vergleiche angestellt hatte, war ich voll unerschütterlichen Selbstvertrauens und kannte jene merkwürdige Empfindung, welche die glänzendsten Eigenschaften lahm legt und die bedeutendsten Menschen einfältig erscheinen läßt, ganz und gar nicht.

Trotzdem klopfte mir angesichts dieses Abenteuers, das durch meine Gedanken heraufbeschworen zu sein schien, das Herz laut in der Brust, und ich zögerte so lange, ehe ich in das Empfangszimmer trat, daß ich noch vor der Thür stand, als der Pfarrer triefend, aber befriedigt erschien.

»Herr Pfarrer,« rief ich ihm entgegenstürzend, »es ist ein Mann im Salon!«

»So, Reine? Ein Pächter ohne Zweifel?«

»Nein, nein, Herr Pfarrer, es ist ein wirklicher Mann!«

»Was? Ein wirklicher Mann?«

»Ich wollte damit nur sagen, daß es weder ein Pfarrer noch ein Bauer ist; er ist jung und sehr gut angezogen. Kommen Sie nur schnell herein!«

Wir traten ein, und ich hätte beinahe laut aufgeschrieen vor Verwunderung, als ich bemerkte, daß meine Tante thatsächlich einen liebenswürdigen Gesichtsausdruck zeigte und dem Unbekannten, der ihr gegenübersaß und sich schon ganz wie zu Hause zu fühlen schien, freundlich zulächelte.

Uebrigens hätte schon sein Anblick allein genügt, um das grämlichste Gemüt aufzuheitern. Er war groß, ziemlich dick, mit einem fröhlichen, frischen und offenen Gesicht. Seine blonden Haare waren kurz geschoren, die Enden seines Schnurrbartes spitz zusammengedreht, auch hatte er einen feingeschnittenen Mund mit schönen weißen Zähnen, die ein freies, natürliches Lachen oft sichtbar werden ließ.

Er erhob sich, als er uns eintreten sah, und wartete einen Augenblick, ob meine Tante ihn nicht vorstelle. Da ihr diese Ceremonie aber ebenso unbekannt war, wie den Bewohnern Grönlands, so stellte er sich uns als Paul von Conprat vor.

»Von Conprat?« rief der Pfarrer. »Sind Sie der Sohn des trefflichen Majors von Conprat, den ich einstens gekannt habe?«

»Mein Vater ist in der That Major, Herr Pfarrer. Sie haben ihn gekannt?«

»Vor sieben Jahren hat er mir einen großen Dienst erwiesen. Welch tapferer, welch ausgezeichneter Mann!«

»Ich weiß, daß mein Vater allgemein beliebt ist,« erwiderte Herr von Conprat mit strahlendem Gesicht. »Es gewährt mir eine immer neue Freude, mich davon zu überzeugen.«

»Aber sind Sie nicht mit Herrn von Pavol verwandt?«

»Gewiß, wir sind Vettern im dritten Grad.«

»Hier sehen Sie seine Nichte,« sagte der Pfarrer und stellte mich auch vor.

Trotz meiner Unerfahrenheit bemerkte ich recht wohl, daß die Blicke Herrn von Conprats eine gewisse Bewunderung ausdrückten.

»Ich bin entzückt, eine so reizende Cousine kennen zu lernen,« sagte er in überzeugendem Ton und reichte mir die Hand.

Es überlief mich wohlig bei diesen Worten, und ich legte ohne die mindeste Verlegenheit meine Hand in die seine.

»Nun, ihr Vetter sind Sie nicht ganz,« berichtigte der Pfarrer und schnupfte frohlockend dazu. »Herr von Pavol ist nur ein angeheirateter Onkel von Reine: seine Frau war ein Fräulein von Lavalle.«

»Das thut nichts,« rief Herr von Conprat, »ich verzichte nicht auf unsre Verwandtschaft. Wenn man genau nachforschte, so ließen sich sicher Verbindungen meiner Familie mit der von Lavalle nachweisen.«

Wir plauderten nun zusammen, wie drei gute Kameraden, und es war mir, als hätten wir uns von je gekannt und geliebt. Jenes wunderliche Gefühl überkam mich, das die Einbildung in uns erweckt, das, was sich diesen Augenblick vor uns begibt, sei zu irgend welcher fernen Zeit schon einmal geschehen und habe uns nur eine unbestimmte, verblaßte Erinnerung zurückgelassen.

Allein vergeblich ließ ich alle Romanhelden meiner Bekanntschaft vor den Augen meines Geistes vorüberziehen – ich fand keinen einzigen, der so fett gewesen wäre, wie mein eigner, wirklicher Held. Denn er war dick, darüber konnte auch nicht der Schatten eines Zweifels aufkommen, aber er war dabei auch so gut, so lustig, so geistreich, daß sich dieser physische Mangel in meinen Augen gar schnell in einen leuchtenden Vorzug verwandelte. Bald erschienen mir sogar meine Romanhelden jeden Reizes bar. Trotz ihres eleganten, stets schlanken Wuchses wurden sie verdunkelt, aber völlig verdunkelt durch diesen guten, dicken Jungen, der den Vorzug hatte, ganz am Leben und äußerst lustig zu sein, und dem ich in meinen Gedanken noch eine Masse andrer Vorzüge andichtete.

Obgleich die Heftigkeit des Gewitters sich unterdessen vermindert hatte, ließ doch der Regen nicht nach, und da es Essenszeit geworden war, lud meine Tante Paul von Conprat ein, an unsrer Mahlzeit teilzunehmen. Sofort erklärte er, er habe einen ganz kannibalischen Hunger und nahm mit einem Eifer an, der mich entzückte.

Ich entwischte einen Augenblick, um der üblen Laune Suzons mutig die Stirn zu bieten.

»Suzon,« begann ich, als ich in die Küche trat, ziemlich erregt, »Herr von Conprat ißt bei uns. Haben wir einen großen Kapaunen, Milch, Erdbeeren, Kirschen?«

»Herr du meine Güte, das fehlt gerade noch!« brummte Suzon. »Es gibt, was es gibt, und damit basta!«

»Du sprichst ein großes Wort gelassen aus, Suzon; aber in erster Linie beantworte meine Frage. Ein Kapaun wird wohl nicht reichen?«

»Ich habe gar keinen Kapaun im Bratofen, Fräulein, sondern einen Puter; da, sehen Sie mal her!«

Und mit Stolz öffnete Suzon den Ofen und ließ mich das Tier bewundern, das durch ihre und Perrines Sorgfalt gut gemästet worden und mindestens zwölf Pfund schwer war. Die goldgelbe, hier und dort aufgesprungene Haut zeugte für die Zartheit und den Wohlgeschmack des Fleisches, das sie bedeckte, und bot meinen entzückten Augen den erfreulichsten Anblick.

»Bravo!« sagte ich. »Aber wie ist's mit der Stippmilch, Suzon, ist sie gelungen? Ist viel da? Und der Salat? Mache ihn nur recht gut an!«

»Was ich mache, pflegt immer zu gelingen, Fräulein. Soviel ich weiß, ist übrigens der Herr weder ein Prinz noch ein Kaiser, sondern ein Mensch wie ein andrer auch und muß an dem froh sein, was man ihm gibt.«

»Ein Mensch wie ein andrer auch, Suzon?« entgegnete ich entrüstet. »Du hast ihn also nicht gesehen?«

»Na, und ob ich ihn gesehen habe! und gehört, kann ich wohl sagen. Paßt es sich auch für einen Christenmenschen, so mit der Faust auf die Thür eines anständigen Hauses hineinzuhauen? Vernarren Sie sich übrigens nur in ihn, wenn Ihnen der Sinn danach steht.«

Schon hatte ich den Mund geöffnet, um sie derb zurechtzuweisen; allein ich hielt vorsichtigerweise an mich, denn es fiel mir noch rechtzeitig ein, daß Suzon wohl im stande wäre, ihren Puter noch zu verbrennen, bloß um mich zu ärgern.

Kurz danach begaben wir uns ins Eßzimmer, und ich konnte mich nicht enthalten, einen trostlosen Blick auf die schmutzige, abgenutzte Tapete zu werfen, die in Fetzen von den Wänden hing. Dann hatte auch Suzon eine recht eigentümliche Art, den Tisch zu decken. Drei Salzfässer beherrschten statt eines Tafelaufsatzes die Mitte des Tisches; das Silberzeug aber lag so im allgemeinen auf der Tafel herumgestreut. Die Flaschen schienen eine der andern nachzujagen und die einzige Karaffe war mit Geschick so gestellt, daß jeder sich ein bißchen verrenken mußte, um sie ergreifen zu können, da der Tisch dreimal zu groß war. Zum erstenmal in meinem Leben kam mir die Erkenntnis, daß der phantastische Geschmack Suzons allen Regeln der Symmetrie Hohn sprach.

Allein Herr von Conprat war eine jener glücklichen Naturen, die alles von der besten Seite auffassen, und besaß außerdem die Fähigkeit, sich seiner augenblicklichen Umgebung anzupassen.

Mit fröhlicher Miene betrachtete er den Tisch, verschlang seine Suppe, ohne sich dadurch im Sprechen stören zu lassen, erteilte Suzon allerlei Lobsprüche und stieß einen wahren Freudenschrei aus, als der Puter erschien.

»Man muß doch zugeben, Herr Pfarrer,« sagte er, »daß das Leben eine reizende Erfindung ist, und daß sich Heraklit einer beträchtlichen Dosis von Stumpfsinn erfreute.«

»Lästern wir die Philosophen nicht,« erwiderte der Pfarrer, »sie haben manchmal auch ihr Gutes.«

»Sie sind voll Güte und Nachsicht, Herr Pfarrer. Ich meinesteils würde, wenn ich zu befehlen hätte, alle Narren frei lassen und an ihrer Stelle die Philosophen einsperren, wohlverstanden, alle zusammen, damit sie sich um so leichter untereinander auffressen könnten.«

»Wer ist denn Heraklit?« fragte meine Tante.

»Ein Dummkopf, gnädige Frau, der nichts that als flennen. Mein Gott, was war das für ein komischer Mensch! Ich möchte wirklich wissen, aus welchem Grunde sein Name auf die Nachwelt kam.«

»Vielleicht,« gab ich zu bedenken, »hat er mit mehreren Tanten zusammen gelebt und ist dadurch verbittert worden.«

Herr von Conprat blickte mich erstaunt an und brach in lautes Lachen aus. Der Pfarrer machte mir große Augen, aber meine Tante, die ganz von dem Puter in Anspruch genommen war, den sie kunstgerecht zerlegte, hatte nichts gehört.

»Darüber geht die Geschichte mit Stillschweigen hinweg, Cousine.«

»Jedenfalls,« begann ich wieder, »hüten Sie sich, die alten Helden anzugreifen; der Herr Pfarrer würde Ihnen die Augen auskratzen.«

»Ach, diese Einfaltspinsel, was haben mich die schon geärgert! Ich habe nur eine Erinnerung an sie bewahrt: die Strafarbeiten, die sie mir eingetragen haben.«

»Gestatten Sie,« warf der Pfarrer ein, der wenigstens einen Versuch machen wollte, seine Freunde in meiner guten Meinung zu retten, deren sie völlig verlustig zu gehen drohten, »gestatten Sie, gewisse erhabene Tugenden, gewisse heroische Thaten können Sie doch nicht ableugnen.«

»Einbildungen, Einbildungen!« unterbrach ihn Paul von Conprat. »Es waren unausstehliche Einfaltspinsel, und nur weil sie tot sind, schmückt man sie mit unglaublichen Tugenden aus, um die armen Lebenden zu demütigen, die unendlich mehr taugen als sie. Gott, was für ein delikater Puter!«

Während er unaufhörlich weiter sprach, aß er mit einem Appetit und einem Feuereifer, die ihresgleichen suchten.

Die Stücke häuften sich auf seinem Teller und verschwanden wieder mit einer solchen Geschwindigkeit, daß endlich der Augenblick kam, in dem meine Tante, der Pfarrer und ich förmlich erstarrt dasaßen und ihn, die Gabel in der Luft, mit stummem Erstaunen betrachteten.

»Ich habe Ihnen ja gleich gesagt, daß ich einen kannibalischen Hunger habe, was bei mir übrigens des Jahres dreihundertfünfundsechzig Mal der Fall ist.«

»Was für eine Unmenge Geld müssen Sie dann für Ihr Essen ausgeben!« rief meine Tante, zu deren berechtigten Eigentümlichkeiten es gehörte, stets die kaufmännische Seite der Dinge herauszugreifen und stets das zu sagen, was sie am wenigsten hätte sagen dürfen.

»Dreiundzwanzigtausenddreihundertundsiebzig Franken, meine gnädige Frau,« erwiderte Conprat mit ernsthafter Miene.

»Unmöglich!« stammelte meine Tante ganz entsetzt.

»Sie scheinen völlig glücklich zu sein, Herr von Conprat,« meinte der Pfarrer und rieb sich die Hände.

»Ob ich glücklich bin, Hochwürden? Das will ich meinen! Und sagen Sie selbst, ist es denn natürlich, sich unglücklich zu fühlen?«

»Nun, ab und zu doch wohl!« entgegnete der Pfarrer lächelnd.

»Ah bah! Die unglücklichen Menschen sind es meistens nur durch ihre eigne Schuld, weil sie das Leben verkehrt anfassen. Sehen Sie, Unglück gibt es eigentlich gar keines, nur die menschliche Dummheit erzeugt es.«

»Dann ist die Dummheit der Menschen doch wenigstens ein Unglück.«

»Eines, das in sich aber ziemlich negativ ist, Herr Pfarrer, und daraus, daß mein Nachbar dumm ist, folgt doch wohl nicht, daß ich ihm dies nachzumachen brauche.«

»Sie lieben die Paradoxen.«

»Keineswegs; aber ich werde wütend, wenn ich sehe, wie viele Menschen sich ihr Dasein durch eine krankhafte Einbildungskraft verdüstern lassen. Sie müssen offenbar alle nicht genug essen, sich von Lerchen und weichgesottenen Eiern nähren und sich den Geist verwirren, indem sie sich den Magen verderben. Ich liebe, ich vergöttere das Leben, ich meine, jedermann müßte es schön finden, und es habe nur einen Fehler: zu Ende zu gehen, und zwar so bald!«

Der Puter, der Salat, die Stippmilch, alles war verzehrt, und meine Tante betrachtete mit keineswegs liebenswürdiger Miene das Gerippe des Truthahns, an dem sie sich noch einige Tage hatte gütlich thun wollen.

Wir waren im Begriff, die Tafel aufzuheben, als Suzon die Thür öffnete, den Kopf durch die Spalte streckte und in barschem Tone zu uns sagte: »Ich habe Kaffee gemacht, soll ich ihn bringen?«

»Wer hat Ihnen erlaubt? ...« begann meine Tante.

»Ja, ja,« unterbrach ich sie lebhaft, »bringe ihn nur schnell!«

Ich hätte Suzon für diesen guten Einfall küssen mögen; aber meine Tante war durchaus nicht meiner Meinung. Sie verschwand, um sich mit Suzon zu zanken, und wir sahen sie erst später im Salon wieder.

»Sie haben eine ausgezeichnete Köchin, Cousine,« sagte Paul von Conprat, während er seinen Kaffee schlürfte.

»Ja, aber sie ist ein Brummbär.«

»Das ist Nebensache!«

»Und wie finden Sie meine Tante?«

»Aber ... nun, ziemlich würdevoll,« erwiderte Herr von Conprat, ein wenig verlegen.

»O, würdevoll ... Sie wollten wohl sagen widerwärtig?«

»Reine!« flüsterte der Pfarrer.

»Nun, sprechen wir von etwas andrem, Herr Pfarrer; aber ich wollte, ich hätte die glücklich angelegte Natur meines Vetters, um irgend eine gute Seite an meiner Tante entdecken zu können.«

»Sie brauchen nur ein bißchen Lebensphilosophie, reizende Cousine, in dieser liegt eine sichere Grundlage für das Glück, außerdem ist sie die einzige Art von Philosophie, die sich mit dem gesunden Menschenverstand vereinigen läßt.«

»Es ist jammerschade, daß Sie nicht meine Tante sind, was würden wir uns lieb haben!«

»Dafür kann ich garantieren!« rief er lachend, »und wir hätten die Philosophie gar nicht einmal nötig, um zu diesem Ergebnis zu gelangen. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich mein Geschlecht lieber nicht verändern und Ihr Onkel sein.«

»Nichts wäre mir lieber, denn ich bin durchaus nicht wie Franz der Erste, sondern habe eine ausgesprochene Antipathie gegen die Frauen.«

»Wirklich?« erwiderte er, aus vollem Herzen lachend, »Sie sind über die Neigungen Franz des Ersten unterrichtet?«

Der Pfarrer machte eine ganz verzweifelte Bewegung, die von Herrn von Conprat mit einem Augenzwinkern beantwortet wurde, das etwa bedeutete: »Seien Sie ohne Sorge, ich verstehe schon!«

Dies Mienenspiel reizte mich, und ich strengte mich äußerst an, seine geheime Bedeutung zu erfassen.

»Bei dem Onkel fällt mir ein,« sagte ich, »Sie kennen meinen Onkel von Pavol?«

»Ja, sehr gut, meine Besitzung liegt nur eine Meile von der seinen entfernt.«

»Und seine Tochter – wie ist die?«

»Als Kinder haben wir oft zusammen gespielt; aber seit vier Jahren habe ich sie völlig aus dem Gesicht verloren. Man sagt, sie sei sehr schön.«

»Ach, wie gern wäre ich auf Pavol!« seufzte ich. »Dann würden wir uns oft sehen.«

»Wer weiß, kleine Cousine, vielleicht würde ich Ihnen weniger gefallen, wenn Sie mich besser kennten. Immerhin kann ich behaupten, daß ich ein ganz guter Kerl bin; abgesehen davon, daß ich eine Leidenschaft für Truthähne habe und hübsche Frauen zum Rasendwerden liebe, bin ich mir auch nicht des leisesten Lasters bewußt.«

»Hübsche Frauen lieben, das ist doch wahrhaftig kein Fehler! Ich kann häßliche Leute nicht ausstehen, wie zum Beispiel meine Tante. Aber daß Sie einen Puter und eine hübsche Frau in eine Linie stellen, ist für die letztere eben nicht schmeichelhaft, Herr Vetter.«

»Das ist wahr; ich gebe zu, daß diese Wendung keine glückliche war.«

»Ich verzeihe Ihnen,« sagte ich lebhaft. »Also finden Sie mich hübsch?«

Seit mindestens zwei Stunden wiederholte ich mir in meinem Innersten immer wieder, daß ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen dürfe, durch ein von maßgebender Seite klar und sicher gefälltes Urteil über diese für mich so unendlich wichtige Frage ins reine zu kommen. Nicht als ob ich im Zweifel über die Antwort gewesen wäre; aber sich von etwas andrem als einem Pfarrer sagen zu lassen – ganz direkt ins Gesicht sagen zu lassen, daß man hübsch sei ... das war geradezu wonnig!

»Hübsch, Cousine! Sie sind entzückend! In meinem Leben habe ich noch nie schönere Augen oder einen hübscheren Mund gesehen!«

»Welches Glück! Ach, und wie angenehm sind doch die Männer, die Tante mag sagen, was sie will!«

»Ihre Frau Tante liebt die Männer nicht? Sie ist eben auch zweifelsohne über das Alter der Koketterie hinaus.«

»Die Koketterie? Ueber die spricht niemand mit mir. Sind Sie der Ansicht, daß man kokett sein muß?«

»Gewiß, Cousine; in meinen Augen ist dies ein großer Vorzug.«

»Das haben Sie mich nicht gelehrt, Herr Pfarrer!« rief ich.

Während dieser Unterhaltung kostete der unglückliche Pfarrer einen Vorgeschmack des Fegefeuers. Er wischte sich beständig das Gesicht ab und würgte seinen Kaffee hinunter, der ihm äußerst bitter vorkam.

»Herr von Conprat macht sich über Sie lustig,« sagte er.

»Ist das wahr, Vetter?«

»Durchaus nicht,« erwiderte Paul von Conprat, der aussah, als ob er sich ganz außerordentlich gut unterhalte. »Meiner Ansicht nach ist eine Frau, die nicht kokett ist, überhaupt keine Frau.«

»Gut, dann will ich mir alle Mühe geben, es zu werden.«

»Wir wollen jetzt in den Salon gehen, Fräulein von Lavalle,« sagte der Pfarrer und stand auf.

»Gut,« dachte ich, »jetzt ist der Pfarrer böse, und ich habe doch gar nichts Ungeschicktes gesagt.«

Der Regen hatte aufgehört, die Wolken hatten sich zerstreut, und ich schlug Paul von Conprat einen Spaziergang in den Garten vor. Und ohne auf Erlaubnis zu warten, machten wir uns auf den Weg, von dem Pfarrer gefolgt, der uns düstere Blicke nachsandte und dachte, sein geliebtes Lamm wandle den Weg, der zum Verderben führt.

Wie die Kinder liefen wir durch das feuchte Gras und durchnäßten uns unter lautem Gelächter Füße und Beine. Wir plauderten, wir schwatzten und besonders ich erzählte Ereignisse aus meinem Leben, von meinen kleinen Kümmernissen, meinen Wünschen und meinen Abneigungen. Ach, der gute, reizende, köstliche Abend!

Herr von Conprat kletterte auf einen Kirschbaum und schüttelte einen ganzen Schauer von Regentropfen auf mich herab. Auf der Höhe seines Kirschbaumes und den Mund voll Kirschen, beteuerte Herr von Conprat, daß die Wassertropfen in meinen Haaren glänzten wie die köstlichsten Edelsteine und daß er noch nie etwas so Schönes gesehen habe.

»Und Suzon behauptet, er sei ein Mann wie ein andrer auch!« dachte ich bei mir. »Ist es denn menschenmöglich, daß jemand so dumm ist!«

Wir kehrten in den Salon zurück, wo man ein loderndes Feuer machte, um uns zu trocknen. Paul von Conprat und ich saßen dicht beisammen und führten die Unterhaltung in geheimnisvollem Ton weiter.

Meine Tante, verblüfft durch mein keckes, freies Wesen und die Freude, die aus meinem Antlitz strahlte, sprach kein Wort. Der Pfarrer entzückt, mich vergnügt und zufrieden zu sehen, war davon so erfüllt, daß er ebenfalls das Sprechen vergaß. Ach, dieser köstliche Abend!

Endlich erhob sich Herr von Conprat, um zu gehen, und wir begleiteten ihn in den Hof.

Er verabschiedete sich herzlich von dem Pfarrer und bedankte sich bei meiner Tante; dann trat er zu mir heran und sagte mit leiser Stimme: »Ich hätte gewünscht, daß dieser Abend nie zu Ende ginge, liebe Cousine.«

»Und ich erst! Aber Sie kommen wieder, nicht wahr?«

»Gewiß, und zwar bald, wie ich hoffe!«

Er führte meine Hand an seine Lippen, und offenbar ist die menschliche Natur von Haus aus furchtbar verderbt, denn diese Huldigung bereitete mir einen so neuen, lebhaften, köstlichen Genuß, daß ich den ungehörigen Gedanken hatte ..., mein Gott, muß es wirklich gesagt werden? ... Ja, ich hatte den Gedanken ... ich führte ihn aber nicht aus ... mich ihm an den Hals zu werfen und ihn zu küssen trotz meiner Tante und trotz des Pfarrers, der uns bewachte, als wäre er eine neue Art von Drachen gewesen – ein prächtiger, dickbackiger, gutmütiger Drache.


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