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Heinz Ivo hatte richtig die Scaletta erreicht. Es war wohl später geworden als er dachte doch schien ihm der Tag noch lang genug zur Erringung seines Zieles. Als er das Hochtal durch eine völlig senkrechte Felsenwand, die zu überklettern war, abgeschnitten sah, stutzte er ein wenig, so ganz mauerartig hatte er sie sich doch nicht gedacht. Aber da lief ja das Drahtseil. Man hatte ihm erzählt, daß erst kürzlich einem bekannten Literaten auf halber Höhe unwohl geworden sei und daß der Führer alle Mühe gehabt hatte, den schwerleibigen Herrn wieder herunterzubringen. Solche Anwandlungen hatte Er mit seinen schlanken Gliedern nicht zu befürchten. Wo Marianne mit bloßer Hilfe eines Knaben hinaufgekommen war, da kam er erst recht hinauf. Um sich noch mehr anzuregen, ließ er sein melodisches doppelstimmiges Pfeifen ertönen. Die Muse hatte ihm mit ihren Streichelhänden die brennende Beschämung von der Seele genommen und das Leben war wieder voll von berauschenden Aussichten. Wenn auch der Heiratsplan zunichte geworden war, es gab der bezaubernden Frauen noch viele, und das Alleinsein hat auch seine Reize für einen jungen Mann, den der Ruhm begleitet, und der sicher ist, wohin er kommt zu gefallen. Der unruhige Pendel schwang jetzt weit nach der andern Seite.

Siegessicher schritt er auf die Scaletta zu.

An ihrem Fuß wollte er eine ganz kleine Stärkung zu sich nehmen um erst oben auf der Höhe nach gewonnener Schlacht sich zu sättigen. Da erblickte er das hingelagerte Untier.

Marco war im Irrtum, als er glaubte, daß ihm der Gedanke an den Bären fern liegen müsse. Im Heraufkommen verlebendigte er sich die Schilderung, die ihm Marianne beim ersten Wiedersehen von diesem Gletscherpaß gemacht hatte, wodurch sie den Anstoß zu dem heutigen Unternehmen gab. Dazu war als blasse Begleitung halb unbewußt die in San Martino unvergeßliche Anekdote von dem glückhaften Bärenjäger mit heraufgetaucht. Ihm war bei ihrer Erzählung dasselbe Bedenken aufgestiegen wie vordem Mariannen selbst, daß ja jetzt die am Leben gebliebenen jungen Bären groß sein müßten, und Marianne hatte ihm Marcos Versicherung wiederholt, die seien mit ihren langen Bärenschritten weit fort in die Trientiner Alpen gegangen. Schon damals war es ihm durch den Kopf geblitzt, daß sie mit ihren langen Bärenschritten auch wieder einmal zurückkommen konnten. Ohne diese aus dem Unterbewußtsein halb emporgetauchte Erinnerung wäre er an dem dunklen Körper, der wie ein bei Laubfall und Nadelstreu verwitternder Holzstrunk aussah, vorübergegangen.

Ivo tat dasselbe, was Marco und der alte Bonini ein paar Stunden später auch taten. Er schlüpfte geräuschlos hinter einen der großen tannenbewachsenen Felsbrocken und beobachtete den Feind. Sein Schrecken war aber ein viel größerer, weil er waffenlos war. Die andern hatten, mit der Möglichkeit einer solchen Begegnung rechnend, jeder eine Schußwaffe zu sich gesteckt.

Ivo, der sich seiner alles fassenden Augen zu rühmen pflegte, sah die Welt als Dichter: nicht mit der Sehschärfe des Naturmenschen, noch mit der des Forschers, sondern mit einer leidenschaftlichen Auffassungsgabe, die die Dinge ins Bedeutendere umgebar. Sobald er einmal in dem Tier einen Bären gesehen hatte, nahm es auch ganz und gar Bärengestalt für ihn an. Sein Standort hinter dem Felsblock erleichterte vollends die Täuschung, weil von hier aus der kriechende Wacholder das Gehörn des hingelagerten Tieres verbarg. Lautlos glitt er hinter dem Felsen mehr und mehr seitwärts, ersah geduckt die Nähe eines anderen Steinbrockens, hinter dem er weiterschlüpfte, bis er sich dem Gesichtskreis des Ungetüms entzogen hatte. Dann lief er so rasch und so unhörbar wie er konnte, nicht auf dem Wege, der die Gestalt des Wanderers freigab, sondern weit abseits unter Büschen und Bäumen dahin, immer horchend, ob ihm nicht etwas folge. Den Rucksack, der ihn im Laufen hinderte, streifte er ab, den Stock ließ er versehentlich fallen, nur den Pickel hielt er für den Fall der Notwehr fest. Immer durch Pflanzenwuchs und Steingeröll gedeckt, eilte er im Weglosen weiter. Einmal, dachte er, müsse doch die menschliche Ansiedelung, die er hierherum vermutete, kommen. Aber es blieb immer dasselbe Auf und Nieder von Bodenerhebungen und Senkungen einer endlosen Bergöde; er strauchelte über verdeckte Löcher, zerriß die Sportkleidung so fest sie war, und so oft er ein Geräusch vernahm, erschrak er aufs neue. Die lange überreizten Nerven, vom Genusse schwarzen Kaffees und von der Bergluft noch mehr aufgepeitscht, rächten sich, er verlor das Gefühl für Zeit und Richte. Es fiel ihm setzt nachträglich ein, mit welch besonderem Nachdruck man ihn vor dieser Wanderung gewarnt hatte, so er meinte sich sogar zu erinnern, daß er irgendwo im Vorübergehen ein Wort von Bären aufgefangen habe, das ihm bei dem Sturm seines Inneren nicht bis ins Bewußtsein gedrungen war. Einmal betrat er, um schneller vorwärts zu kommen, eine schwankende Schicht von Legföhren, mit ihren Gefahren unbekannt, zog aber weislich den Fuß wieder zurück. Der Regen fiel, er achtete es nicht, er war nun im Zustand einer wirklichen Panik, völlig der Einbildungskraft preisgegeben. Als die frühe Dämmerung niedersank, wurde ihm klar, daß er die Nacht im Wald verbringen mußte ohne Obdach und Nahrung, denn der Mundvorrat befand sich in dem weggeworfenen Rucksack. Und vielleicht erwarteten ihn weitere Schrecken. Marianne hatte ja von drei Bärenjungen gesprochen, die alle drei jetzt groß sein mußten. In dieser Nacht, die so schreckhaft schien und so lächerlich war, büßte der Verwöhnte alle seine sündhaften Launen.

Dann kam der hüllende Nebel, und jetzt konnte er nur noch Fuß vor Fuß setzen. Einmal meinte er Schüsse zu vernehmen, aber das war in weiter Ferne und die Richtung gar nicht zu bestimmen. Es fiel ihm ein, daß er sein elektrisches Lämpchen in der Rocktasche trug, er ließ zuweilen einen raschen Lichtschein auf die Umgebung blitzen, aber er mußte mit der Ladung sparsam sein. Endlich stieß er mit dem Kopf an etwas festes, das sich wie eine Balkenwand anfühlte. Tastend erkannte er die Umrisse einer Blockhütte. Aber wie hineinkommen, da sein Klopfen und Rufen ohne Antwort blieb? Nach vielem Suchen fand er eine Tür, sie war verschlossen und nicht zu sprengen. Doch bot sich der weiteren Untersuchung am Ende auch nach eine Fensterluke ohne Scheiben. Noch einmal entzündete er die gesamte Batterie und leuchtete hinein. Der Raum war völlig leer. Mit letzter Kraft schwang er sich durch die Luke und blieb schwer am Boden liegen um sich die ganze Nacht nicht mehr zu erheben.

* *

– – Am hellen Schein der Morgensonne erwachte der alle Bonini. Der Strohsack neben ihm war leer. Es war ihm nicht unlieb zu denken, daß der Knabe früher aufgestanden sei und nach seiner Gewohnheit vor dem Aufbruch alles im Haus zurecht mache. Unten blieb es jedoch völlig stille. Er wird gegangen sein, Schneewasser holen für das Frühstück, dachte er. Da fiel ihm auf, daß das Taschenlämpchen, das er vor dem Schlafengehen neben sich hingelegt hatte, verschwunden war. In seinem Totenschlaf hatte er nicht bemerkt, wie Marco es in der Nacht leise hinwegnahm. Doch dachte der alte Bergführer nichts Schlimmes, er erhob sich gähnend um drunten am Herd mit dem Rest des Holzes das Feuer für ein warmes Frühstück anzuzünden. Da lag aber noch alles, wie es die beiden Ermüdeten gestern Abend gelassen hatten. Wo in aller Welt treibt sich der Junge denn herum? dachte er ärgerlich, als das Feuer brannte und kein Marco mit dem Schmelzwasser kam. Er stieg auf den hohen Schneehügel hinter der Hütte und sandte seine Stimme weit in die Berge hinaus. Keine Antwort. Um das Haus liefen Tritte her, vielfache, sich kreuzende, die nicht allein von der gestrigen Ankunft herrühren konnten. Er erstieg noch einmal den Felsenzirkus, von dem sie gestern herabgekommen waren, und schrie mit dem ganzen Aufwand seiner Lunge: Marco! Ma – arco! Er sandte weittragende Jodler hinaus, vergeblich. Es blieb alles stumm, und der starkgeneigte Gletscherhang, so weit er ihn mit den Augen hinunter verfolgen konnte, war leer. Kein strohgelber Kopf, keine braune Samtjoppe tauchte auf. In die Hütte zurückgekehrt, entdeckte er, daß auch Marcos Pickel fehlte. Die Lampe fort, der Pickel fort, und der Knabe in die Nacht hinaus verschwunden! Noch einmal umging er das Haus auf allen Seiten den Fußspuren nach, die sich jetzt mit den seinigen kreuzten. Sie führten dahin und dorthin wie von Einem, der in allen Richtungen gesucht hat. Er folgte ihnen so weit sie reichten, blickte in jeden Schlund der sich auftat. Da war nichts, das Auskunft gegeben hätte. Ihm fielen die Rufe ein, die Marco in der Nacht gehört hatte, und das Geläut; die Unruhe seines eigenen fieberhaft erregten Blutes. Den Alten überlief es, er wollte kein Frühstück mehr. Er wartete noch eine Viertelstunde. Dann rannte er nach Siror hinunter um Hilfe zu holen.

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Am selben Vormittag kam in die an der Straße von Siror liegende Herberge ein Fremder in mitgenommener Kleidung und mit Schmutz bedeckt, ohne alles Gepäck. Er gab an, sich verirrt und im Walde genächtigt zu haben. Es war Ivo, der am Morgen den Weg ins Tal gefunden hatte, aber seit beinahe vierzig Standen nüchtern war, denn er hatte vor dem Aufbruch in San Martino wie immer, bevor er in die Berge stieg, außer der Tasse schwarzen Kaffee nichts zu sich genommen. Gesicht und Hände hatte er notdürftig unterwegs in einem rinnenden Wässerlein gewaschen, aber der Anzug war in üblem Zustand und seine Züge blaß und hager. Er ließ sich ein Zimmer aufschließen, bestellte heißes Wasser und ein Frühstück und gab seine Kleider zum Reinigen; dann legte er sich in das bequeme Bett, das nach der Nacht in der Sennhütte ein unendliches Labsal war, und schlief noch einmal bis in den späten Nachmittag hinein. Als er ausgeschlafen und sich wieder zurecht gemacht hatte, so gut es ohne Kamm und Bürsten ging, war er auf einmal ein anderer Mensch. Er bestellte eine schmackhafte Mahlzeit und saß dann behaglich rauchend in der Gaststube, während am anderen Ende des Raums Einheimische sich lebhaft in ihrer Mundart, die er nur halb verstand, unterhielten. Es ging ihm durch den Kopf, den Wirt von seinem Abenteuer zu benachrichtigen, aber er unterließ es doch und nahm sich nur vor, der zuständigen Stelle Anzeige zu erstatten; es war nicht seine Art, mit einfachen Leuten über Persönliches zu sprechen. Aber er wurde jetzt sehr heiter und genoß die sichere Geborgenheit. [194] Wenn der Zufall ihm das Tier statt am Fuß der Scaletta hoch oben auf dem steilen, von Bergwänden eingeschlossenen Gletscherpaß in den Weg geführt hatte, was dann? Es überkam ihn, die überstandene Gefahr poetisch zu verwerten als einen letzten Reisegruß an die Damen. Die Muse war willig, und er brachte rasch ein paar wohlklingende Verse zu Papier, worin ein gekränkter Ritter in die Wildnis zog und unterwegs einen Bären traf. Hier stockte die Eingebung, denn eigentlich hätte jetzt der Ritter den Bären erschlagen und das Fell den Damen übersenden müssen. Bis ihm eine geistreiche Lösung einfiel, widmete er sich mit tiefem Behagen der Mahlzeit.

Währenddessen trat ein Junge herein, der in der »Rosetta« diente, wo Ivo ihm manches Trinkgeld zu verdienen gegeben hatte. Er wurde mit lautem Zuruf von den Gästen empfangen:

He, Carlo, hat der Hammelbraten geschmeckt? – Alles lachte. Es war ja Bärenschinken, antwortete dieser und jetzt wurde das Gelächter zum Gebrüll. Späße flogen hin und her, denen Ivo nicht folgen konnte, aber die Schnelligkeit seiner Gedankenverbindungen ließ ihn schon den Zusammenhang vorwegnehmen

Carlo setzte den Korb, den er bei sich hatte, in eine Ecke, wobei er den einsam Tafelnden erblickte, der ihn zu sich rief und um eine Erklärung bat. Wissen Sie es noch nicht, Herr Baron? Ganz San Martino lacht sich heute bucklig. Der Senn des Herrn von Winsberg will vor ein paar Tagen eine Bärenspur gefunden haben, man machte keinen Lärm, um die Gäste nicht zu erschrecken. Aber alle Jäger in der Umgegend und alle Bergführer traten zusammen um den Bären zu erlegen. Sie kamen ohne Erfolg zurück, aber ein Knecht von der »Alpenrose« hat ihn gestern im Nebel geschossen. Als er ihn mit Stolz zu Tale schleifte, da wars der arme Widder, der sich aus unserer Herde verlaufen hat.

Wieder brüllten die Anwesenden vor Vergnügen. Der einsame Gast zerriß ein Stück Papier, das er eben beschrieben hatte, in kleine Fetzen und entzündete sie mit der Glut seiner Zigarre.

Nach einiger Zeit hörte man vor der Tür ein Rufen und Rennen. Die Anwesenden eilten hinaus, es entstand ein Auflauf. Ivo überlegte eben vor der Wandkarte, wie er es anzugreifen habe, um nach Bozen zu gelangen und San Martino zu umgehen. Er entschied sich dafür, die Nacht in Primiero zu verbringen, sich dort wieder mit dem Nötigen auszurüsten, am Morgen nach Le Tezze zu fahren, und von da über das Suganatal Trient zu erreichen.

Er rief den Wirt um zu bezahlen, aber es dauerte lang, bis dieser erschien. Der Gast sah zum Fenster hinaus. Draußen an der Straße war ein aufgeregtes Durcheinanderreden.

Es ist heut Nacht in den Bergen ein Unglück geschehen, erklärte der eintretende Wirt auf sein Befragen.

Auch wieder einmal! murrte der einsame Gast. Wer steigt denn auch bei Nebel in die Berge!

Herr, sie suchten einen Fremden, der so unklug war, allein auf den Passo di Bal zu steigen. Dabei ist ein junger Mensch aus guter Familie ums Leben gekommen.

Dem Frager erstarrte das Blut. Wer war es?

Der Sohn des deutschen Konsuls in Venedig. Heute Vormittag kam ein alter Führer atemlos von der Canalihütte herunter um Hilfe zu holen. Ein paar Männer gingen mit, nach langem Suchen haben sie die Absturzstelle gefunden und die Leiche geborgen. Jetzt eben schaffen sie den Toten zu Tal.

Als der Wirt zurückkam, um ein größeres Geldstück, das er empfangen hatte, zu wechseln, war der seltsame Gast verschwunden.

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Bis zu Ausbruch des Weltkriegs kam Marianne Sebald jeden Herbst auf wenige Tage nach San Martino um das Grab Marcos zu schmücken. Aber immer lag schon ein frischer Alpenstrauß darauf, denn der wackere Knabe war bei den Gebirglern unvergessen. Die große Sängerin sprach von ihm als ihrem besten Freund und Wohltäter und daß nie ein Mensch ihr teurer gewesen sei als dieser. Ihr dem Toten gegebenes Versprechen hielt sie und sah Ivo Geier nicht wieder.

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