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Seit Marianne ihre Stunden am Klavier verbrachte, war Marco so gut wie unsichtbar. Freunde des Hauses hatten ihn in Primiero unter einer Ladentür gesehen, wo er Einkäufe machte; auf den Anruf war er jedoch schleunig verschwunden. Marianne bangte; die Gereiztheit des Vaters war jetzt so groß, daß das übervolle Gefäß keinen Tropfen mehr leiden konnte. Als sie sich abermals nach ihm erkundigte, zog Isa sie auf die Seite.

Nenne nur heute seinen Namen nicht. Der Unglückliche hat jetzt dem Faß den Boden ausgestoßen. Ich kann dir mein Versprechen nicht mehr halten, Franz ist in furchtbarer Aufregung.

Nun erfuhr Marianne, daß der Knabe zurückgekommen war und sich ganz still in den Schuppen eingeschlossen hatte, den er als Werkstatt benützte und wo auch sein Lager stand, – er kann ja in einer menschlichen Behausung nicht leben, schaltete Isa ein. Zufällig brauchte die Köchin ein Gerät, daß sich in dem Schuppen befand, und da Marco auf ihr Klopfen nicht öffnete, sondern sie nur barsch anfuhr, wartete sie sein Weggehen ab um heimlich die Tür zu erbrechen. Sie fand in dem Schuppen eine außerordentliche Menge von Werg aufgehäuft, das der Knabe begonnen hatte zu einer dicken Schlange zusammenzudrehen und mit Pech zu bestreichen, auch lagen andere brennbare Stoffe in Haufen herum. Die Köchin lief alsbald zu dem Herrn um Anzeige zu erstatten. Der wurde aschfahl, als er von der Sache hörte. Er ließ den Übeltäter, sobald er sich wieder zeigte, vor sich rufen um ihn über den Zweck des vielen Zündstoffs zu verhören, aber Marco, der gleichfalls tief erblaßte, stand stumm und verstockt, und es war ihm keine Antwort zu entreißen.

Natürlich handelt es sich um eine dumme Zündelei, setzte Isa ihrem Bericht hinzu, Franz aber hat sich steif und fest in den Kopf gesetzt, der Junge gehe mit Brandstiftung um, er wolle sich an seinem Vaterhaus rächen. Es kam zu einem Auftritt, vor dem mir noch schaudert. Vater und Sohn gingen aufeinander los, ich trat dazwischen, sonst wäre vielleicht einer der Mörder des Anderen geworden; daß der Junge sich an mir nicht vergreifen würde, war ich sicher. Franz sprach schreckliche Worte. Gut, daß sie keinen Zeugen hatten als mich. Er hätte ihn am liebsten in den Schuppen eingesperrt und sein Werg und Pech in Brand gesteckt.

Das sagte Franz? Der ruhige, ausgeglichene Franz?

Du kennst ihn nicht, wenn der Zorn über ihn kommt. In diesem Zustand darf auch ich ihm nicht widersprechen.

Wo ist der arme Junge jetzt?

Wir wissen es nicht und zittern davor, Neues von ihm zu hören. Als Franz zur Hundepeitsche griff, sprang er zum Fenster hinaus und ist seitdem verschwunden.

Und was hat Franz jetzt mit ihm vor?

Ich glaube, er weiß es selber nicht. Marco gegenüber versagt alle seine Lebenskunst. Er ging zunächst zu unserem Nachbarn, dem Podestà von Primiero, der ein Gehöft hier oben besitzt. Der sollte seine Amtsgewalt anwenden, den bösen Buben dingfest zu machen, weil er doch bei allen Führern Unterschlupf und Versteck vor der väterlichen Macht findet. Aber der Podestà riet Franz dringend von dem Familienärgernis ab; den Buben zu verhaften hieße auf einen Spatzen mit Kanonen schießen. Er kenne den Marco und möchte sich verbürgen, daß er nichts Böses im Schilde führe. Das Dummejungen-Zündelwesen müsse man ihm freilich austreiben, er wolle zwei Unterbeamte schicken, die das corpus delicti beschlagnahmen sollten. Aber als diese zur Stelle kamen, war der Schuppen ausgeräumt und der Caliban zum zweitenmal verschwunden.

Marianne grämte sich schwer über die unerwartete Wendung, die es mit ihrem Schützling nahm. Auf ihrem Zimmer lag die Antwort jener Anstalt, an die sich Ivo in ihrem Auftrag gewendet hatte. Sie lautete bejahend, aber mit der Bedingung, daß der Zögling sogleich eintreffe, weil sonst der Platz vergeben werden müsse. Wie jetzt mit dem ergrimmten Vater über die Zukunft des verhaßten Sohnes verhandeln?

Davon kann gar keine Rede mehr sein, erklärte Isa aufs bestimmteste. In solcher Erregung ist Franz vollkommen unzugänglich. Und das schlimmste weiß er nicht einmal; daß Marco das Geld zu seinen Zündeleien aus meiner Kasse genommen hat. Ich ließ ihn glauben, du habest es ihm gegeben.

Marianne errötete, als wäre sie selbst auf einem Diebstahl ertappt. Fern von der Kinderstube und vom Familienleben wußte sie nicht, was auch bei gutgearteten Knaben in den Entwicklungsjahren alles möglich ist. Tief niedergeschlagen wandelte sie nach San Martino zurück und begab sich selbst in die Schwemme, wo die Bergführer Mittag machten, aber keiner der Anwesenden konnte ihr von Marcos Verbleib Nachricht geben.

An der Mittagstafel saß sie zwei frischgebräunten Bergsteigern gegenüber, die noch berauscht von Bergluft und Gefahr sich laut über ihre letzten Erlebnisse unterhielten. Aus ihren Reden ging hervor, daß sie gestern zu einer gewagten und mühevollen Gratwanderung ausgezogen waren und am Ende in einer Schutzhütte zu Füßen des Eisturms, der am Morgen bezwungen werden sollte, genächtigt hatten. Da war mitten in der Nacht der Ältere von Beiden, ein Mailänder, an einem Klingen erwacht, als ob auf dem Eisturm über ihnen – sie nannten ihn den Campanile – eine Glocke geschwungen würde. Erstaunt richtete er sich auf, während der jüngere Gefährte weiterschlief, und horchte unter starkem Herzklopfen, wie ein zweiter Turm, der in ihrer Nähe aufragte, in das Geläut einstimmte, dann ein dritter, bis alle die sogenannten »Glockentürme« in weiter Runde, wie zu einem feierlichen Gottesdienst zusammenläuteten. Der bestürzte Bergsteiger wußte sich das Wunder nicht zu deuten. Seinen erschöpften Schlafkameraden mochte er nicht wecken, schlich aber leise zu dem Führer im Nebenraum, der gleichfalls wach saß und den morgigen Aufstieg sorgenvoll zu überdenken schien.

Ich höre nichts, sagte dieser beinahe unwirsch, legen Sie sich schlafen, Sie sind übermüdet. Es tut nicht gut auf solche Dinge zu horchen, wir haben für morgen Schweres vor.

Die Bergsteiger hatten außer dem Führer, einem der ersten von San Martino, noch einen Jungen mit, einen urhäßlichen Kobold, der ihnen gegen einen kleinen Entgelt die Rucksäcke und Vorräte trug und dessen Dienste sich unterwegs als sehr nützlich erwiesen hatten. Sie schienen ihn für den Sohn des Führers zu halten, aber Marianne erkannte bei den ersten Worten, von wem die Rede war, und horchte, die Augen auf den Teller gesenkt, so aufmerksam auf das Gespräch, daß sie darüber das Essen vergaß.

Dieser Junge hatte sich bei den Worten des Italieners nun gleichfalls aufgerichtet und sagte:

Ich höre dem Klingen schon lange zu. Ich kenne das, es läutet Einem zu Grabe.

Da hatte der Führer ihn zornig mit seinem Unsinn schweigen heißen, und der Italiener war betreten zu seinem Lager zurückgeschlichen. Aber der Morgen, der strahlend anbrach, hatte alle Nachtgedanken verscheucht, und der Campanile wurde, zwar mit großen Anstrengungen, aber siegreich und ohne Unfall bezwungen.

Sie sprachen vorhin von einem häßlichen Knaben, und ich muß annehmen, daß es derselbe ist, den ich eben suche, mischte sich Marianne in das Gespräch. Wollten Sie nicht die Güte haben mir zu sagen, wo Sie ihn gelassen haben?

Die Bergsteiger, erfreut, mit ihrem berühmten Gegenüber ins Gespräch zu kommen, gaben bereitwilligst Auskunft, und nun erfuhr sie etwas, das ihr ganzes Herz wieder zu dem armen Jungen zog. Er war gleich nach der Rückkehr noch einmal aufgebrochen um dem alten Führer Gesellschaft zu leisten, der den Auftrag erhalten hatte, eine verirrte Schafherde aus dem Gebirg zurückzuholen. Die Schafe würden nämlich, so erklärte der ortskundige Italiener, den Sommer über auf der Trift freigelassen, aber im Spätherbst, wo die Tage kurz sind, besonders bei schlechtem Wetter, verliefen sie sich zuweilen, nicht einzeln, sondern herdenweise und fänden nicht mehr nach Hause. Es gebe oberhalb San Martino eine Höhle oder enge Schlucht, die ganz voll sei von den Knochen verendeter Schafe. Hatten sie sich einmal dorthinein verirrt, so war kein Herauskommen mehr möglich. Schon unterwegs waren die beiden Kletterer auf die Gefahr, in der sich eine große, dem Besitzer des Klostergasthofs gehörige Schafherde befand, aufmerksam geworden. Denn als sie sich mit Knien und Ellbogen durch ein sehr hohes und enges [134] Kamin emporgeschafft hatten und oben auf der Spitze ihres Campanile kaum soviel Raum fanden um sicher zu stehen, hatte der alte Führer sich plötzlich gebückt und mit drohendem Schrei einen großen Stein in die Tiefe geworfen, der im Niederfallen ein mächtiges Echo weckte, dann noch einen und noch einen. Der Junge tat es ihm eifrig nach. Auf die Frage nach dem Grund dieser Kanonade wurde ihnen tief unten in der Richtung nach der gefährlichen Schlucht eine sich dorthin bewegende Schafherde gezeigt. Die Steinwürfe schreckten sie zurück, ein Tier ums andere wurde durch einen Stein in die sichere Richtung getrieben, einige waren müde und mochten nicht, aber sie mußten alle nach. Jedoch auch das Tal, in das sie durch die Steinwürfe getrieben wurden, lag noch sehr hoch, und allein fanden sie nicht nach Hause. Deshalb bot der Herdenbesitzer dem Führer bei dessen Heimkehr einen hohen Preis für die Rettung der Tiere. Der alte Mann schwankte, er hatte diesen Tag schon viel geleistet. Aber er war arm, der Gewinn lockte. Da erbot sich der Junge, der gleichfalls müde sein mußte, ihn zu begleiten. Das stärkte sein Herz, und er zog mit dem jungen Gefährten aus, wenn auch etwas ernster als sonst. Der Knabe aber holte eine Mundharmonika auf der Tasche und blies, um sich und dem Alten den Weg zu kürzen. So waren sie zurück in die Berge verschwunden und konnten vor sinkender Nacht nicht in San Martino erwartet werden.

An diesem Zug erkannte Marianne ihren wackeren Caliban wieder in seiner Furchtlosigkeit und Treue, und sie beschloß sich nicht ferner an ihm irremachen zu lassen. Aber ihm den Kopf tüchtig waschen und ihm eine Beichte abzwingen wegen des aufgestapelten Brennstoffs, das wollte sie.

Bei einbrechender Dunkelheit schob sichs wie eine graue Staubwolke durch Tannen und Wiesengrün den Berghang herunter, eine große Schafherde, über hundert Stück, von einem alten Mann und einem flinken Bürschchen vorwärts getrieben und zusammengehalten. Sie waren vollzählig, nur der braune Widder fehlte. Die Fremden von San Martino achteten nicht groß darauf, denn sie wußten nicht, welch ein Abenteuer da bestanden worden war. Nur der Besitzer ging ihnen freudig entgegen. Ihm schloß sich Marianne an, um ihren entwichenen Schützling gleich in Empfang zu nehmen. Dieser strahlte. Kein Schatten von Schuldbewußtsein lag auf dem Knabengesicht; heute hatte er wieder einmal einen großen Tag gehabt! Seinen Anteil an der Belohnung wies er zurück und ließ die ganze Summe dem alten Mann, ihm genügte der erworbene Trägerlohn.

Sobald seine Beschützerin ihn unter vier Augen hatte, nahm sie ihn ins Gebet. Ob es wahr sei, daß er seiner Mutter das Geld aus der Kasse genommen habe? Ob er denn nicht zu ihr kommen konnte, wenn er welches brauchte? Und was es vor allem mit dem unglückseligen Werg und Pech für eine Bewandtnis habe?

Die erste Frage bejahte der Knabe mit dem unschuldigsten Gesicht. Geld habe er schon oft genommen und immer wieder zurückgebracht, das hatte er auch heute getan, »die Frau« lasse ja alles offen stehen. Aber wozu er das Brennzeug aufgehäuft hatte, wollte und wollte er nicht gestehen. Marianne weinte fast, so schwer hatte sie sichs nicht vorgestellt, Knaben zu erziehen.

Wenn du mir nicht die Wahrheit sagst und mit mir zu deinem Vater gehst ihn um Verzeihung bitten, so kann ich dir auch mein Versprechen nicht halten und muß dich deinem Schicksal überlassen, so weh es mir tut.

Es kämpfte in seinem Gesicht, daß alle Muskeln durcheinander gerüttelt wurden, aber er schwieg hartnäckig.

Willst du mir nicht wenigstens sagen, begann sie wieder fast flehend, wohin du all das viele Werg und Pech gebracht hast, damit ich deinen Vater überzeugen kann, daß du kein Brandstifter bist.

Brandstifter! sagte er mit aufgerissenen Augen und im Tone der Wegwerfung. Frage mich heute nicht länger. Morgen erfährst du es. Morgen weißt du alles, was du wissen willst.

Diese Zusicherung beruhigte sie keineswegs.

Warum denn morgen? Sag' es mir doch heute.

Aber er blieb bei seinem »morgen«.

Kennst du das steinerne Zeichen auf der halben Höhe der Rosetta, das ihr wie ein Spiegel aufgedrückt ist, Tante Marianne?

Das steinerne Wahrzeichen, das fast wie eine Rose aussieht? Ja, es ist mir gleich am ersten Tage aufgefallen.

Dort hinauf sollst du blicken morgen Abend, wenn es zehn Uhr schlägt, dann erfährst du alles.

Du närrischer Junge, um zehn Uhr ist es ja dunkel, was soll ich da sehen?

Versprich mir, Tante Marianne,sagte er sehr schnell und dringend, daß du morgen Abend, wenn es auf dem Campanile von San Martino zehn Uhr schlägt, da hinauf blicken willst. Dann erfährst du alles.

Sie versprach es, und da ihnen in diesem Augenblick Heinz Ivo über die Cismonebrücke entgegenkam, verschwand der Knabe von ihrer Seite.

* * *

 


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