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Marianne!

Sie fuhr von der Waldbank auf, wo sie allein in tiefster Versunkenheit gesessen hatte. Eine melodische, sicher beherrschte Stimme die für sie von tausend Erinnerungen wie von einem elektrischen Strom geladen war, hatte sie jählings wie ein übergeworfenes Fanggarn getroffen, daß sie aufzuckte.

Ivo!

Da stand er. Er hatte beim Herankommen beide Arme geöffnet aber als er sah, daß ihre rasche Bewegung mehr von Schreck als von Freude herrührte, ließ er sie sogleich sinken, trat näher und küßte nur mit ritterlicher Zärtlichkeit ihre beiden Hände.

So plötzlich, Ivo – und seit wann?

Seit gestern Abend. Ich habe mich im Hotel Rosetta eingemietet, ich dachte es sei dir lieber als in deiner Alpenrose. Dort habe ich noch den Vorteil, daß meine Fenster auf die deinigen gehen und daß ich dich sehen kann ohne dich zu stören.

Das war sein Feingefühl in äußeren Dingen, das sich nie verleugnete. Aber was bedeutete sein Kommen? Hatte er ihren Brief nicht erhalten, blieb ihr noch die Bitterkeit aufgespart ihm alles mündlich sagen zu müssen? Sie wagte nicht zu fragen, ein unwillkürlicher Drang, den schweren Augenblick noch zu verschieben, verschloß ihr den Mund.

Er hatte ihr wie in alter Zeit das Schirmchen aus der Hand genommen, die einzige Freiheit, die er sich erlaubte, und ging plaudernd neben ihr wie ein guter, tiefergebener Freund, der niemals größere Ansprüche gemacht hat. Die lange Seereise hatte ihn gebräunt und gab seinen Zügen etwas bronzenes. Dieses Gesicht, das sie so genau kannte, war ihr jetzt doch ganz neu und gefiel ihr wieder so gut wie in den früheren Tagen. Auch er sah sie von der Seite mit Blicken an, die von ihrer strahlenden Verjüngung wußten, aber er sprach kein Wort über persönliche Dinge. Was barg sich hinter dieser Verwandlung? Hatte er kampflos verzichtet und kam er um mit diesem unerwarteten Besuch eine ruhige Freundschaft einzuleiten? Liebte er vielleicht eine andere? Oder kam er als reuig Liebender, der alle Sünden gutmachen möchte?

Jetzt erst entdeckte sie den schwarzen Flor an seinem Arm.

Was hat das zu bedeuten?

Ilona ist tot. Ich war bei ihr in Davos und habe ihr die Augen zugedrückt. Sie hat noch sehr gelitten, aber sie starb getröstet in meinen Armen.

Das war gut von dir, sagte Marianne weich.

Es war meine Pflicht, denn ich habe sie unglücklich gemacht. Sie mich nicht minder, doch über den Toten schweigt der Tadel. Sie hat sich schwer gegrämt in ihren letzten Stunden, weil sie ihr ganzes Vermögen der Kirche hinterließ, aus der sie ausgetreten war, um die zweite Ehe schließen zu können, und sie hätte nun gern den Schritt zu meinen Gunsten, wenigstens teilweise, rückgängig gemacht, als ihr der Tod ans Herz griff. Ich habe sie beruhigt, daß es mir nicht fehlt und daß sie wohlgetan hat, sich mit ihrem Gewissen zu einigen.

Er ist doch edel, dachte Marianne, ich brauche es nicht zu bereuen, daß ich ihn geliebt habe.

Eine herrlich leuchtende tiefgelbe Arnika sproßte oberhalb ihres Weges. Er zog sie mit dem Griff des Schirmchens herunter um sie zu brechen und reichte sie Marianne, die sie dankend an der Jacke befestigte.

Gelb ist doch die schönste aller Farben, sagte er mit einem Blick des Wohlgefallens. Nichts kleidete dich jemals besser als dieses Stückchen Sonne auf deiner Brust.

Nun begann er neben ihr hergehend mit gedämpfter Stimme zum erstenmal freiwillig aus seiner verfehlten Ehe zu erzählen, die ihm den Weg zu seinen ersten Erfolgen gebahnt hatte, aber dann wie ein Bleigewicht seine Künstlerschaft behinderte.

Es ist ein Vorzug für einen jungen Mann, wenn er zuerst in die Hände einer reifen Frau fällt, die ihn formt und knetet. Wir Männer bedürfen alle der Erziehung durch die Frau, und es ist häßlich, den Dank für diese Wohltat zu vergessen. Ich habe es ihr darum niemals heimgezahlt, wenn sie mich noch so schwer verklagte, wo sie nur immer konnte. Sie war doch die bessere von uns Beiden und ich in jeder Hinsicht ihr Schuldner. Aber wir konnten nicht zusammen leben, weil wir alle unsere Untugenden gemeinsam hatten. Ich bin heftig und ungleich, sie war es auch, ich verschwenderisch, sie desgleichen. Ich suchte Zerstreuungen außer dem Hause, da sie meinem Geist keine Nahrung gab, sie tat das nämliche. Wo sollte da die Wärme des häuslichen Herdes herkommen? Außerdem hatte sie den Hang zur Eifersucht in einem Grade, den kein Mann erträgt, am wenigsten einer, dem die schöpferischen Aufgaben auf die Nägel brennen. Sie erbarmte mich, aber ich konnte nicht mit ihr leben. Unser Mißgriff hat sich an uns beiden bestraft.

Marianne schmieg beklommen. Immer rätselhafter wurde ihr Ivos Betragen. Sie durfte das nicht weitergehen lassen. Mit jeder Sekunde die sie schwieg machte sie sich mitschuldig an einem Irrsal.

Entschlossen wie ein Schwimmer, der sich zum Kopfsprung anschickt, blieb sie stehen und nahm einen Anlauf.

Hast du meinen letzten Brief erhalten, den ich dir nach Stockholm schrieb?

Er unterbrach sie mit einer bittenden Gebärde:

Sprich nicht, richte nicht durch Worte eine Schranke auf! Laß es mich genießen, daß du lebst, daß du da bist. Du weißt nicht, wie mir zwischen Gestern und Heut zu Mute war. Stelle dir vor: ich komme am Abend an und frage gleich nach dir in der Alpenrose. Da höre ich, du seist in aller Frühe in Begleitung eines kleinen Jungen in die Berge ausgerückt und nicht zurückgekommen. Der Wirt meinte, du werdest wohl zu müde gewesen sein und auf der Villa deines Schwagers übernachtet haben. Es dunkelte bereits, ich tappte mich noch dort hinauf, nicht um dich zu stören, falls du da wäret, nur um durch die Dienerschaft Gewißheit zu erlangen. Ich sprach deinen Schwager, aber droben wußte man nichts von dir, nicht einmal, daß du in die Berge gegangen warst. Ich verbrachte eine abscheuliche Nacht. Am Morgen in der »Alpenrose« erhielt ich den gleichen Bescheid wie am gestrigen Abend. Ich wie ein Narr noch einmal hinauf zu deinem Schwager, und noch immer wußten sie nichts von deinem Verbleib und waren wie ich in Unruhe. Wenn ich noch nicht gewußt hätte, was du in meinem Leben bedeutest, diese Stunden der bleichen Sorge hatten es mich gelehrt.

Es tut mir weh, wenn du um meinetwillen gelitten hast. Ich weiß, was Schmerzen sind, Ivo, und hätte dir mit Willen keinen zugefügt.

So füge mir auch keinen zu, indem du mich heimatlos in eine Wüste hinaustreibst. Ich verlange nichts von dir. Ich bin nicht gekommen mir irgendwelche Rechte über dich anzumaßen. Ich verabscheue die Brutalität der Männer, die auf eine erwiesene Gunst noch Ansprüche gründen wollen, wenn sie das Herz der Frau nicht mehr bestätigt. Die Liebe hat ihre Übersättigungen und ihre Launen, sie ist in kein Gesetz zu bannen. Das weiß Niemand besser als ich selbst. Ich werde dir durch keine Zudringlichkeit lästig fallen und werde dich nicht durch Wort noch Blick an das Gewesene mahnen, wenn das Gewesene dir unlieb geworden ist. Was künftig zwischen uns sein soll, darüber hat dein Herz allein zu entscheiden. Nur das eine bitte ich: nimm mir nicht auch den Freund, den besten, den einzigen, den ich je besessen habe. Wer hat so auf den Grund meines Wesens geblickt wie du? Wem durfte ich meine Zweifel bringen, wenn ich in der Qual des Schaffens rang? Immer warst du mir das Maß der Dinge. Nimm mir nicht das eine, worauf ich noch ein Anrecht habe. Dieser Verlust wäre zu groß, ich konnte ihn nicht überwinden.

Ich wußte nie, daß ich dir soviel sein konnte, Ivo.

Daß du das nicht fühltest, macht mich sehr traurig, antwortete er leise. Wie konnte ich es dir anders zeigen als durch die völlige Hingabe meines tiefsten Selbst? Als Liebender mag ich oft zu tadeln gewesen sein, aber als Freund verdiene ich keinen Vorwurf.

Es ist wahr, vergib, ich wollte dir auch keinen machen, antwortete sie gütig einlenkend.

Diese Sanftmut war ihm unheimlich; wer so versöhnlich spricht, dem ist es mit dem Abschied ernst.

Marianne, bringe keinen Riß, der unheilbar werden müßte, in dein und mein Dasein, bat er dringend. Laß uns nicht auseinandergehen wie die Alltagsmenschen, wenn sie sich müde geliebt haben. Laß uns einander von neuem erleben. Wir brauchen ja heute nicht zu wissen, was wir uns in Zukunft sein können.

Es ist noch zu frühe für diesen Versuch, Ivo. Wir müssen noch etwas Zeit darüber hingehen lassen.

Fürchte nichts. Bei Menschen, die so hoch stehen wie wir, ist alles möglich. Was verlange ich denn? du wirst doch dulden können, daß ich für ein paar Tage die Luft desselben Alpentals atme. Ich möchte auch deine Angehörigen kennen lernen, damit ich doch weiß, in welcher Umgebung ich mir dich vorstellen muß. Wenn es dir nicht zuwider ist, so bitte ich mich einzuführen. Ich habe sie ja schon gestern gesprochen, aber ich stand so sehr im Bann des Schreckens, daß ich kaum einen Eindruck empfing und auch ihnen keinen guten gemacht haben kann.

Marianne suchte auszuweichen:

Meine Schwester ist leidend und wird kaum imstande sein dich zu empfangen.

Ich null sie gewiß nicht stören und werde mich auch gleich wieder empfehlen. Daß sie nicht an Bett und Zimmer gebunden ist, habe ich ja heute morgen gesehen. – Auch wirst du begreifen, setzte er in einen leichteren Ton fallend hinzu, daß ich doch neugierig bin, die Seelenbraut zu sehen, die du für mich ausgesucht hast.

Jetzt mußte Marianne gleichfalls lächeln. Ich sehe, daß man dir nichts abschlagen kann. So soll dies das Siegel auf unsere neugeschlossene Freundschaft sein, auf unsere Männerfreundschaft.

Dabei streckte sie ihm die Hand hin mit einem kurzen kameradschaftlichen Druck, den er ebenso erwiderte.

Laß dich die kleine Gefälligkeit nicht reuen. Ich werde vermutlich auf längere Zeit aus deinem Gesichtskreis verschwinden. Und da wird es mir wohltun, dich umhegt zu wissen. Ich habe eine Reise nach Indien vor.

So weit weg? entfuhr es ihr.

Die indische Denkweise hat mich immer stark angezogen. Ich möchte sie an ihrem Ursprung kennen lernen. Vor allem möchte ich den seltsamen Gegensatz ergründen, wie der Überschwang in Natur und Kunst sich mit der tiefen Abkehr von allem Sinnenhaften bei diesem Volk verbindet, antwortete er ernsthaft.

Sie redeten von den Rätseln der Wiedergeburtslehre, er begleitete sie nach der »Alpenrose«, und es gab sich von selbst, daß er an einem kleinen abgesonderten Tischchen mit ihr Platz nahm und ihr wie in früheren Zeiten ausgesuchte Bissen auf den Teller legte, die sie in der Erregung dieser unbegreiflichen Lage kaum berührte.

Nach der Mahlzeit erhob er sich:

Jetzt wirst du ein wenig ruhen nach der gestrigen Anstrengung. Ich rauche indessen meine Zigarre im Grünen. Wenn die Hitze vorüber ist, hole ich dich ab, daß wir zu deinen Geschwistern gehen.

Als sie dann zusammen den Waldweg nach der Villa einschlugen, sagte er scherzend:

Ein Durchschnitts-Bürger könnte ja dies für einen Brautbesuch ansehen. Aber du wirst wohl deine Verwandten über deine Lebenspläne aufgeklärt haben.

Meine Verwandten mischen sich nicht in meine Angelegenheiten.

Aber im Hochwald blieb sie auf einmal stehen:

Nach der Hauptsache hast du noch gar nicht gefragt.

Ich wollte nicht fragen, falls es noch zu früh wäre. Aber jetzt weiß ich, du kannst wieder singen. Ich habe ja nie daran gezweifelt.

Hör zu, ob ich es kann.

Sie warf den Oberkörper zurück und schmetterte den langen Walkürenruf jauchzend über die stummen Waldgründe hin. Als sie mit einem letzten Hojotoho! Hojoho! geendet hatte, küsste ihr Ivo stumm und begeistert beide Hände. Erst nach längerer Weile sagte er:

Mit solcher Pracht hat sich dein Paradiesvogel noch nie im Blauen gewiegt. Du wirst noch größer werden, mein Liebling. So darf ich dich doch noch einmal nennen; du bleibst es ja, ob du willst oder nicht. Ich werde nicht dabei sein, wenn diese Stimme auf den Brettern tönt, aber ich werde es über den Stillen Ozean hinüber spüren und dir drahtlos Beifall rufen.

Von der Erregung des wilden Gesanges konnte die Künstlerin sich nicht so schnell wieder in die Vorsicht eines überlegten Betragens zurückfinden. Aber sie redete lebhaft und viel, damit das Gewagte ihrer gegenseitigen Stellung nicht in ihr Bewußtsein dringe und ihr die Sicherheit raube. Wie schnell war seinerzeit die Freundschaft zur Liebe geworden, und welche Kunst gehörte dazu, Liebe, die noch unter der Asche glomm, wieder zur Freundschaft zurückzubilden. Und dieser Mann ging neben ihr, als hingen von dem Willen einer überlegenen Persönlichkeit auch die eigenen Triebe ab. Sie erzählte von ihren Gängen mit Marco, von dem gefangenen Bären, vom Einsturz des Dente, alles was ihr einfiel, nur um die Erinnerung zu bannen. Er war für alles zu haben, denn in ihm pflegte jede angestoßene Saite zu schwingen. Seine Alllebendigkeit jedem Sichtbaren und Unsichtbaren gegenüber war ja sein Triumph, dessen er sich gerne rühmte, der Triumph der Poesie, die von Kreis zu Kreisen wandelt und an keinen gebunden ist. Sie gingen Schulter an Schulter neben einander hin ohne sich zu streifen und redeten Großes und Kleines, Schönes und Gleichgiltiges mit Lippen, die sich nicht mehr kennen wollten und sich doch so gut gekannt hatten, daß sie noch zuweilen wie von einem verhaltenen gemeinsamen Lächeln zuckten.

So fing der feine Kenner des Frauenherzens seine zerstörte Arbeit ganz leise von vornen an, und es war ihm köstlicher, das entsprungene Wild aufs neue zu umschleichen, als wenn es ruhig in seinem Garn geblieben wäre. Über den Ausgang hegte er keinen Zweifel, denn er glaubte in jedem Winkel ihrer Seele Bescheid zu wissen.

Und sie glitt allmählich in den Ton des Vertrauens hinüber, da er immer in der gleichen Haltung beharrte.

Nicht weit von der Villa Ehrland begegneten sie Isa und Franz, die mit dem Schrittmesser ihren täglichen Pflichtspaziergang machten und die sichs jetzt nicht nehmen ließen, mit den beiden umzukehren und ihnen eine Tasse Tee auf der Veranda anzubieten.

Vor dem Hause war Marco damit beschäftigt, eine frische Hütte aus Arven- und Lärchenzweigen für seine kleinen Schwesterchen zu bauen. Beim Anblick des fremden Herrn, der neben Marianne ging, verzerrte sich sein Gesicht, als befiele ihn ein gräßlicher Schmerz, und er warf sich, ohne ihr Herankommen abzuwarten, ins Waldgebüsch.

Am Teetisch wollte sich keine Stimmung einstellen. Isa wußte nicht, was aus diesem Besuche machen, sie musterte den Gast mit einem Gemisch von Neugier und Beklemmung, wie man eine schöne gefährliche Schlange betrachtet. Ivo fing diesen Blick der ihm in Frauenaugen nicht neu war, auf, er schmeichelte ihm und belustigte ihn zugleich. Seine Haltung war dabei eine höflich abwartende, indem er dem Hausherrn die Führung des Gesprächs überließ. Marianne war innerlich zu erregt, um viel zu der Unterhaltung beizutragen, außerdem dachte sie an Marco; was war nur dem zugestoßen? Durch die breite Glasscheibe der Veranda sah sie, wie er vorsichtig aus dem Gebüsch herausgeschlichen kam und das Haus in der Entfernung umstrich. Während Ivo sich mit ihrem Schwager in ein Gespräch über das spanische Drama einließ, schlüpfte sie hinaus, um nach dem Jungen zu sehen, dessen Gebahren ihr unheimlich war. Aber bei ihrem Anblick ergriff er augenblicklich die Flucht, und sie mußte lange rufen, bis der verscheuchte Querkopf herbeikam.

So sei doch vernünftig, Marco, ich habe dir etwas zu sagen.

Sein Gesicht verzerrte sich aufs neue, er machte eine flehende Gebärde.

Sag mir nichts, ich brauche ja nichts zu wissen – oder sag es mir morgen, sag es mir übermorgen, aber nicht heut.

Jetzt verstand ihn Marianne wieder, und er dauerte sie in seiner wilden Angst, daß da Einer sei, der sie wegnehmen wolle.

Ich will dir ja weiter gar nichts sagen, als daß du nicht wie ein Wilder vor meinen Freunden weglaufen darfst, wenn wir selber Freunde bleiben sollen. Es ist ein Herr, der nächster Tage nach Indien reist und zuvor noch deine Eltern kennen lernen wollte.

Aber der Knabe war nicht so schnell zu beruhigen, seine Gesichtsmuskeln zuckten, und wenn er ein Wort zu sprechen versucht hätte, so wäre er in ein Geheul ausgebrochen.

Als jetzt Ivo an der Seite ihres Schwagers mit leichtem Anstand aus dem Hause trat und sie sich an ihn wandte um ihm ihren jungen Führer und Pfadfinder vorzustellen, wurde der Knabe vollends ganz verstockt, gab auf eine freundliche Anrede keine Antwort, und nach einer herben Zurechtweisung seines Vaters entwich er mit einem Laut, der etwas ganz tierisches hatte.

Schön ist er nicht, dein Schützling, und auch kein angehender Hofmann, aber er hat ein gutes Gesicht, sagte Ivo wohlwollend, als sie auf dem dämmernden Waldweg zurückwanderten. Und sie erzählte ihm von Marcos Tüchtigkeit und seiner falschen Stellung im Hause, für die sie seine Eltern nicht von der Verantwortung lossprechen konnte und daß sie sich vorgenommen habe, für seine Zukunft zu sorgen.

Ivo billigte ihr Vorhaben.

Es gibt eigentlich keine mißratenen Menschen, sagte er mit einer seiner kühnen Paradoxen, es gibt nur Menschen am falschen Platz. Mancher wird daheim ein Verbrecher, der, hätte man seine Anlagen zeitig erkannt, in den Kolonien ein Held geworden wäre. Da lobe ich mir die Engländer, bei denen solche Rückfälle in Frühzeitformen häufig sind. Die zwingen keinen in eine bürgerliche Erziehung, der für eine bürgerliche Erziehung ungeeignet ist, sie haben für jeden die rechte Verwendung. Willst du meine Hilfe annehmen, daß wir zusammen für deinen Schützling suchen? Ich weiß eine Erziehungsanstalt in Mitteldeutschland, die in ganz freiem Geiste geleitet wird und jede Anlage berücksichtigt. Dort kann er den Tag in freier Luft verbringen, kann schlossern, schreinern oder sich sonstwie nach seiner Neigung entwickeln und wird nur leise von oben her geleitet. Wenn es dir recht ist, schreibe ich heut noch dahin, du wirst sehen, wenn er so ist wie du ihn schilderst, woran ich nicht zweifle, so machen wir noch einen brauchbaren Menschen aus ihm.

Sein Eifer ihr behilflich zu sein rührte Marianne. Es war gerade ihr schwachster Punkt, wo er sie faßte. Als sie Marco versprochen hatte, für seine Zukunft zu sorgen, war sie völlig im Unklaren, wie sie es zu machen habe. Was sollte sie dem Schwager oder der Schwester – denn jede Entscheidung mußte über Isa gehen – stichhaltiges vorschlagen? Wie gut von Ivo, daß er ihr die Sorge abnehmen wollte. Es war doch auch soviel schlichte menschliche Güte in ihm! Aber später, als sie seiner Nähe entronnen war und allein auf ihrer Veranda in der Abendstille den Tag überdachte, fiel ihr auf, daß sie ihn ganz in Ivos Gesellschaft verbracht hatte. Ein sonderbarer Anfang ihrer Trennung. Und die sanfte Sicherheit, mit der er in ihre persönlichsten Angelegenheiten eingriff, ohne doch seine vorgezeichnete Stellung zu verlassen, fast mit derselben Bewegung, mit der er ihr das Schirmchen aus der Hand nahm, beängstete sie. So durfte das nicht weitergehen. Sie mußte sich ihrer Freiheit besser wehren. Doch nun ging er ja auf so lange Zeit, und wer konnte wissen, ob man sich jemals wiedersah!

* * *

 


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