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– – Für den folgenden Tag, Mariannens Geburtstag, der auf den ersten Oktober fiel, war die Vorlesung des Mysteriums festgesetzt. Isa hatte ihrer Schwester die Gewohnheiten und Neigungen des verwöhnten Minnesängers abgefragt und eigens ein Mädchen nach Venedig gesandt, um aus der verschlossenen Wohnung edle Stoffe, Felle und Silbergerät heraufzuschaffen. Sie zeigte, was sie war, wenn einmal ihr Geist in Tätigkeit trat. Zwei schlanke, geschälte und in dunklem Rot gestrichene Tannenstämme hatte sie als Säulen aufrichten lassen, die sie selber von unten bis oben mit festlichen Laubgehängen umwand. Zwischen die Säulen wurde ein niedriger Auftritt gestellt und mit einem kostbaren Teppich bedeckt, worauf der Stuhl und ein hohes dreifüßiges Tischchen zu stehen kam. Dann hatte sie selbst in den Farbentopf gegriffen und die hölzernen Pfosten zwischen den Fensterrahmen mit einem anmutigen pompejanischen Muster bedeckt, die Scheiben wurden mit Stoffen verhüllt um das Tageslicht auszuschließen. Für die Hörer gab es niedere Sitze am Boden, mit Teppichen und Fellen belegt. Sonst blieb der ganze Raum leer. Nur hohe Vasen mit Zweigen voll metallisch glänzender Beeren und später Blumen standen rechts und links der Lesebühne, und in der großen silbernen Schale schwelte Räucherwerk. Auf dem hohen Tischchen halbseits hinter dem Stuhle des Vortragenden in mehrarmigen Kerzenträgern brannten die dicken Kerzen, die Ivo selbst aus Primiero herbeigeschafft hatte; sie bildeten einen Strahlenkranz um seine Stirne. Alle andere Beleuchtung blieb ausgeschaltet mit Ausnahme eines altetruskischen Ämpelchens, das im Hintergrunde aufgehängt war und mehr zur Zierde des römischen Gemaches diente als um Helle zu spenden. Am Harmonium, das grünes Laubwerk halb verdeckt, saß Marianne und bereitete durch ein Bachsches Präludium auf die Stimmung des Mysterienspiels vor. Sie wollte heute ganz im Hintergrund bleiben und hatte gebeten ihren Geburtstag nicht zu ewähnen, um dem Dichter die Ehren des Tages allein zu lassen. Dieser begann.

Er führte seine Hörer in das kaiserliche Rom des zweiten Jahrhunderts, in ein reiches Patrizierhaus, wo die Vermählung Caecilias mit dem vornehmen Jüngling Valerianus gefeiert wird. Unter verwirrendem Festgepräng, wie es dem Prunksinn der Kaiserzeit und dem des Verfassers entsprach, erschien die Neuvermählte, von Musik empfangen, von Chören tanzender Jünglinge und Jungfrauen begleitet. An der Hand des jungen Gatten betritt sie das Brautgemach. Während außen vor der Tür von dem Brautgeleite das Hymen Hymenäus mit Cimbeln und Beckengerassel gesungen und abgestampft wird – der Dichter hatte sein Stück für Musikbegleitung geschrieben –, enthüllt Caecilia dem Geliebten, daß sie Christin ist und dem Himmel das Gelübde der Jungfräulichkeit dargebracht hat. In diesem ersten Zwiegesang der Liebenden ließ der Dichter, getreu der Überlieferung die Glaubenskraft den schweren Sieg über die Leidenschaft erkämpfen, und zu dem Versprechen des ergriffenen Valerianus, daß er das Gelübde seines jungen Weibes ehren wolle, die Engel des Herrn in den Lüften jubilieren. Von hier an wuchsen nun die Züge Caeciliens mehr und mehr in die Mariannens hinüber. Sie ist allein, die Seele der Musik erwacht. In einer Ecke des Gemachs entdeckt sie ein ihr unbekanntes Saiteninstrument, das sie schon öfter im Traum vor sich gesehen hat, ohne seine Gesetze verstehen zu können. Eine glänzende Jünglingsgestalt erscheint im Zimmer und lehrt sie schweigend, wie sie die Finger setzen muß. Die ersten Orgeltöne rauschen mit Strömen himmlischen Entzückens durch das Haus.

Aber Asmodeus, der Teufel der Sinnenlust, entzündet durch den Mund einer alten Sklavin, die Caecilien das Brautbad bereitet hat, in Valerian die Begier nach dem Anblick ihrer verborgenen Reize. Nicht mit der Absicht sein Gelöbnis zu brechen, nur um seine Augen zu weiden, schleicht er heimlich von dem bösen Geiste geleitet, vor das Bett der Schläferin und löst ihre über der Brust gekreuzten Hände. Damit hebt er die Macht des Kreuzes über ihr auf und überliefert auch sie dem Dämon, der alsbald mit sehnsüchtigen Bildern von ihrem Traum Besitz ergreift. Vergeblich rauscht ein warnender und wehrender Orgelton, den der Heide nicht vernehmen kann, durch das Gemach, der Feind hält auch der Getauften die Ohren zu, sie streckt die Arme verlangend nach dem Geliebten aus, und beide erliegen.

Allen Sinnenglanz einer ausgesuchten Sprachkunst hatte der Dichter über das Zusammensein der Liebenden unter den Fittichen des Bösen ausgegossen. Bald berückend süß, bald dämonisch mißlautend, mit tiefdunklen gleichmäßigen Kadenzen wie Orgeltönen dazwischen, fielen die Verse aus seinem Mund, die dem Tonsetzer, auf den sie berechnet waren, kaum noch etwas zu tun übrig ließen. Er begleitete ihren Rhythmus mit leisen Schulterbewegungen, die bei dem geringen Wechsel der Tonhöhe einen seltsamen Bann ausübten und an indische Schlangenbeschwörer erinnerten. Die Hörer verhielten den Atem. In der dunkelsten Ecke saß Isa auf einem Schemel oder niederen Hocker und starrte völlig hingegeben zu dem Gesicht des Sprechers hinauf, während ihr Oberkörper sich unbewußt im gleichen Rhythmus wie der seine hin und her bog, nur stärker bewegt wie ein Halm, mit dem Windstöße spielen. Ihr Auge schwamm und ihre Nasenflügel bebten. Sie suchte das Auge des Vorlesers, das über sie wie über die andern Zuhörer hinweg in eine unbestimmte Ferne ging.

Er machte eine kleine Pause mit geschlossenen Augen und ohne sich vom Platze zu rühren, ehe er wieder begann. Danach sah man die sündige Heilige verzweifelt zu den Füßen ihres alten Bischofs liegen, zu jeder Buße, die er verhängen will, bereit, nur nicht zur Reue die ihr versagt ist, weil der Dämon den Sitz in ihr noch immer nicht verlassen hat. Der heilige Urban, die verkörperte Strenge der Amtsgewalt, verwirft ihre Halbheit und reuelose Zerknirschung. Buße ohne Reue, sagt er, ist eine leere Hülse, ist ein Körper ohne Seele. Vergeblich kreuzigt sie sich und wischt mit ihren Haaren den Staub des Coemeteriums, sie fühlt sich selbst verloren, bis sie das wunderbare Saitenspiel wiederfindet, das ihr geheimnisvoll in ihre rohe Klause gefolgt ist. Wie unter ihren Fingern die heiligen Saiten wieder erwachen, entweicht der Böse, und die befreite Seele steigt, weit über irdische Schuld und Reue erhaben, zu ihrem Ursprung auf. Vor der hingerissenen Gemeinde und dem segnenden Bischof wird sie selbst zum Genius der Tonkunst, in dem der Dichter noch einmal Mariannens persönliche Züge, ins Überirdische verklärt, durchscheinen ließ. Von ihrer kommenden Glorie schon leise umleuchtet, vermag sie nun auch den unterdessen tief gesunkenen Valerianus zu retten, sein Haus von den wüsten, dort stattgehabten Ausschweifungen zu entsündigen und den noch immer, aber jetzt mit heiliger Liebe geliebten Mann zu Füßen des Kreuzes zu führen. – War der Dichter bis hierher seinen eigenen sinnenglühenden Eingebungen gefolgt, so bog er am Schlusse wieder in die fromme Einfalt der alten Heiligenlegende ein, indem er die beiden Gatten zusamt den mitbekehrten Brüdern des Valerian sich in stiller Beseligung zum gemeinsamen Märtyrertode bereiten ließ.

Als Ivo geendet hatte, verschwand er in den Nebenraum, aber die tiefe Stille dauerte fort. Er wollte den Anwesenden Zeit lassen, das Gehörte fester zu erfassen, ehe der Flugsand gesellschaftlicher Nichtigkeiten darüber hinging. Als er wieder heraustrat, drückte der Hausherr ihm dankend die Hand. Ermutigt fanden sich auch die Geladenen herbei, und Ivo nahm ihre Bewunderung mit der Bescheidenheit des großen Selbstgefühls entgegen. Da die Schönheit seiner Dichtersprache von allen gepriesen wurde, entgegnete er lächelnd, die deutsche Sprache sei seine Geliebte, seine ewige Braut; sie reicher, geschmückter zu hinterlassen als er sie gefunden habe, sei der einzige Zweck seines Daseins. Er streite für sie wie der irrende Ritter für seine Dame und hoffe noch der Welt zu beweisen, daß sie nicht nur unendlich reicher, tiefer, anpassungsfähiger als die andern sei, sondern den musikalischen Sprachen des Südens auch an Klangschönheit ebenbürtig.

Nun trat auch die Sängerin aus ihrem grünen Versteck hervor, wo sie die Stichworte abgewartet hatte um die Dichtung mit leisem Spiel zu begleiten, und wurde gleichfalls umringt. Ihr war zu Mute gewesen wie im Traum. An vielen Stellen der Dichtung hatte sie sich selber wiedererkannt, wie sie in den ersten Tagen ihrer Liebe vor dem Ansturm der Leidenschaft Zuflucht bei der Musik gesucht hatte. Da und dort klangen sogar Worte, die sie selbst einmal gesprochen, verklärt in der Dichtersprache wieder. Ihr Blut kam und ging, und sie war froh sich hinter dem Gezweige zu bergen, denn es war ihr, als stünde sie vor aller Augen entkleidet. Aber da war ja nur Einer, der sie so gekannt hatte. Auch hatte er keinen Zug der tatsächlichen Wirklichkeit in seine Dichtung gebracht; dennoch war in der heiligen Caecilie ihre eigene musikdurchrauschte Seele noch einmal verkörpert. Das war keine Entweihung, wie sie sich sagte, es war ein Gruß aus gemeinschaftlichen verlorenen Paradiesen, den sie und er allein verstanden. Nur ein Dichter durfte bei der Stellung, die sie jetzt gegeneinander einnahmen, eine solche Kühnheit wagen. Ihre Vergangenheit tat sich mit einer unermeßlichen, ganz von Ivo erfüllten Tiefe vor ihr auf, und es war süß, in dieser Tiefe noch einmal unterzutauchen.

Alle wogten jetzt um den Dichter her und redeten durcheinander. Die Hausfrau allein saß noch an derselben Stelle und starrte mit weitoffenen Augen wie in einen fremden Glanz. Sie war noch nicht in die Wirklichkeit zurückgekehrt. An ihrer Stelle lud der Hausherr die Anwesenden zu einem kleinen Imbiß in den Nebenraum.

Man war überrascht, als man aus dem Halbdunkel des römischen Gemaches trat und sich noch einmal im hellen Tageslicht fand. Die Sonne, schon tiefer stehend, schielte durch die hohen Fichten ins weit geöffnete Fenster herein und vergoldete Alles. Man ließ sich noch einmal nieder, es wurde Tee gereicht mit allerhand Leckerbissen und Schlagsahne. Zuletzt holte der Konsul eine Flasche Sekt herbei und hielt eine kleine Ansprache, worin er Meister war, um die beiden berühmten Gäste zu feiern, die er dabei auf eine feine Weise zusammenbrachte. Ivo dankte für seine bescheidene Person und für die hohe Mitwirkende, wie er sich ausdrückte. Man trank sich zu, die Danksagungen gingen hin und her, nur Isa schien nicht zu sehen und zu hören und bewegte sich wie im Nachtwandel. Dann erklärte Franz Ehrland, die stumme Hoffnung der Anwesenden in Worte kleiden zu wollen, indem er die Schwägerin zu singen bat. Alles fuhr wie elektrisiert in die Höhe. Niemand war so kühn gewesen, das zu hoffen, da man wußte, daß Marianne Sebald ihre Stimme zu schonen hatte. Die Sängerin war betreten; was konnte sie singen, womit sie nicht dem Dichter nachträglich den Erfolg des Tages minderte? Sie hatte mehr als einmal mit Bedauern erlebt, wie die Urgewalt der Musik die leisere Wirkung der Dichtkunst fortschwemmte. Aber sie konnte nicht Nein sagen, die Gesellschaft drängte in das römische Gemach zurück, wo unterdessen die Kerzen gelöscht und die Vorhänge weggezogen waren. Isa setzte sich jetzt ans Harmonium. Marianne besann sich, blätterte eine Weile in den Noten, dann flüsterte sie der Schwester ein paar Worte zu und sang die Stimme dämpfend, die Arie aus dem Messias: Ich weiß, daß mein Erlöser lebt. Damit ergänzte sie, was der Dichter notwendig dem künftigen Tonsetzer hatte überlassen müssen: Sancta Caecilias Grabgesang.

Während des Singens schien es ihr einen Augenblick als schaue von außen das Gesicht ihres Caliban plattgedrückt durch die Scheibe, aber das Fenster ging von dieser Seite auf einen Abgrund, also glaubte sie sich getäuscht zu haben. Daß der unglückliche Knabe halb irrsinnig vor Schmerz und Eifersucht, um das Haus schlich, um irgendwie ihren Anblick zu erhaschen, und als er ihre Stimme vernahm, sich nicht länger halten konnte, sondern mit Lebensgefahr das Fenster erkletterte, indem er sich wie eine Katze an der Mauer festkrallte, konnte sie nicht erwarten. Und gleich darauf hatte sie die Erscheinung schon vergessen unter dem Bann, den Ivos Gegenwart ausübte.

Dieser fühlte, daß er Mariannen wiederum einen großen Schritt näher gekommen war, und daß es jetzt höchste Zeit sei, sich das Eisen, das er schon so lang im Feuer hielt, zurechtzuschmieden. Es gibt im Leben des Menschen Tage, wo ihn die Welle höher trägt als sonst, und wo ihm das scheinbar Unerreichliche plötzlich von selber zufällt. Einen solchen Tag glaubte Heinz Ivo heute zu haben. Der Trinkspruch des Konsuls hatte fast auf Braut und Bräutigam gelautet. Die Gäste hatten ihnen gemeinsam wie einem verbundenen Paare zugetrunken, er hatte für sich und sie gedankt. Mariannens Widerstand war heimlich schon gebrochen, der Luftkreis von Lohme umhüllte sie wieder; wenn sie sich noch wehrte, war es aus Eigensinn oder geschah zum Schein.

Beim Aufbruch verwickelte er sich und sie noch in ein kurzes Gespräch mit den Wirten, während die Andern vorangingen. Als sie aus dem Ehrlandschen Besitz in den Wald heraustraten, lenkte er unbemerkt auf den oberen Weg ab, der in geringer Höhe über dem unteren und eine Strecke weit in der gleichen Richtung wie dieser hinlief; sie hörte noch die Stimmen der Vorausgehenden ohne genau zu unterscheiden, wo sie gingen.

Wie kann ich dir danken, Marianne, daß du meinem Gedicht einen so herrlichen Abschluß gegeben hast?

Da ist nichts zu danken. Es war der Geist deiner Dichtung selbst, der in dem Lied ausströmen wollte.

Du zürnst mir auch nicht, daß ich meiner heiligen Caecilie Züge aus deiner Seele lieh? Ich hätte sie ohne das nicht schaffen können. Wer weiß, ob nicht auch in Goethes Frauengestalten gelebte Stunden wie Goldblicke eingesprengt sind. Darf ja der Maler sogar die leiblichen Reize der geliebten Frau zum Vorbild nehmen, warum sollte der Dichter nicht mit der Schönheit ihres innersten Wesens das Gleiche tun?

Ich habe nie daran gedacht, die Rechte des Dichters beschränken zu wollen.

Wirst du aber auch gestatten, daß ich das fertige Werk als öffentliche Huldigung zu deinen Füßen lege? Es ist mein Traum, seit ich daran arbeite, auf der Widmungsseite deinen Namen leuchten zu sehen.

Frägt man auch um Erlaubnis, wenn man Jemand so reich beschenken will?

So wird es dir nicht unlieb sein, deinen Namen neben dem meinigen zu lesen?

Was soll mir dabei unlieb sein? Die uns zusammen kannten, erfahren nichts Neues, und für die andern ist es bedeutungslos.

Da war nicht ganz, was er erwartet hatte, aber er sagte: Du denkst königlich, Marianne. – O sieh, unterbrach er sich, die glühenden Herbstzeitlosen! In solcher Größe und in so flammendem Rot habe ich sie noch nie gesehen. Die ganze Wiese scheint ein einziges Rosenbeet. Und wie weit sie ihrem letzten Sonnenschein die Kelche öffnen! Die Natur will zeigen, daß sie auch im Oktober noch lieben kann.

Mariannens Angesicht verdunkelte sich, die Bedeutung des heutigen Tages fiel ihr wieder ein; sie hatte nun das dreißigste Jahr vollendet, das Tor der Jugend fiel hinter ihr zu.

Ivo las wie so oft ihre Gedanken.

Schönes Herbstkind, Göttin des zweiten Frühlings, sagte er, ihr nahe ins Gesicht blickend. Freue dich, heute hast du deine erste Jugend beschlossen, morgen trittst du in die zweite, schönere.

Gott gebe es, antwortete sie aus tiefster Seele. Die zweite Jugend ist die ewige Jugend der Kunst.

Ja und Nein, Marianne. Die Kunst allein erhält dir die Jugend nicht. Du bedarfst noch anderes. Du bist kein Theaterblut. Deine Seele wohnt in Tiefen, wohin das Auge der Alltäglichen nicht dringt. Meinst du, ich hätte eine Operndiva lieben können, und wäre sie auch noch schöner als du bist?

Mariannens Atem ging schwerer. Auf einmal sagte sie stehenbleidend: Wir sind fehlgegangen.

Ich hab' es schon bemerkt, aber es hat nichts zu sagen. Gleich senkt sich unser Weg und mündet in den unteren.

Das fiel jedoch dem Wege gar nicht ein. Er senkte sich zwar und überschritt eine leichte Brücke, aber nur um sich gleich wieder höher zu schwingen und nach rechts in eine köstliche Waldeinsamkeit abzubiegen. Ivo hatte im Gehen und Reden seinen Arm wie unbewußt unter den ihren geschoben, es war ganz wie in aller Zeit. Die körperliche Vertrautheit erwachte wieder und drängte die beiden enger zusammen. So waren sie hunderte von Malen durch stille Wälder gegangen, Seite an Seite wie mit Fugen aneinander geschlossen. Aber er hütete sich wohl, durch irgend eine Übereilung den Zauber zu brechen.

Ich muß dir die schöne Stelle zeigen, wo ich des Morgens sitze und schreibe. Da ist der größte Teil des Mysteriums entstanden. Du warst immer dabei, du wirst es gespürt haben.

Marianne schloß die Augen. Wie seltsam, das alles von vorn zu erleben. Es war ganz wie in der ersten Zeit ihrer Liebe. Sie gingen langsamer und atmeten beklemmter. Von unten hörte man Stimmen, aber aus großer Entfernung. In beiden erwachte die gleiche Erinnerung.

Weißt du noch den Buchenwald von Lohme? flüsterte Ivo.

O wie gut sie den wußte! Dort liefen auch zwei Wege übereinander. Den einen hart überm Meere waren die andern gegangen. Sie beide gingen den oberen, und wie heute schien die Abendsonne durch den Laubgang. Marianne fühlte wieder etwas von der ungeheuren Sehnsucht, die sie in jener Stunde zusammenriß.

Laß uns wieder gut zu einander sein, sagte er leise, wir armen Menschenkinder haben nichts Besseres.

Die Gedanken gingen ihr unter, der verhaltene Atem löste sich in einem Seufzer, der ein halbes Schluchzen war. Willst du? fragte er noch näher an ihrem Gesicht, sie gab einen unverständlichen Laut, den er für ein Ja nahm und ihr mit schnellem, gierigem Zug vom Munde fing.

Da ertönte ein Jodler hinter ihnen und ein langgedehnter Ruf, daß Marianne erschreckt zurückfuhr und ihren Arm aus dem seinen zog. Umblickend sahen sie an der nächsten Kehre Isas hohe Gestalt auftauchen, zuerst nur mit halbem Leib, dann wuchs sie ihnen rasch entgegen. Sie war schon in Rufweite und bat, sie auch mitzunehmen, sie sei den ganzen Tag noch keinen Schritt gegangen. Eine unbezwingliche Unruhe und heimliche Eifersucht hatte sie den beiden nachgetrieben, und wo Isa war, da war auch Franz; er folgte ihr in einiger Entfernung.

Ein herrlicher Abend, sagte sie neben Ivo tretend, ein würdiger Abschluß eines herrlichen Tags.

Aber er war kühl und wortkarg gegen die gütige Veranstalterin des herrlichen Tags. Einen Augenblick dachte er daran, Marianne vor eine fertige Tatsache zu stellen, indem er sie für seine Braut erklärte, aber er hielt sich ihrer doch nicht genügend versichert, sie hatte auf einmal eine veränderte Miene angenommen. Er verwünschte die Tändelei, in die er sich halb aus Berechnung, halb aus Freude am Tändeln mit der Schwester verstrickt hatte. Jetzt zweigte ein schmalgetretener Fußpfad nach dem unteren Wege ab. Ivo schlug diesen ein, die andern folgten. Unter dem Durchgang des alten Klosters trennte er sich schnell von der Gesellschaft. Wenn ich diesen Torweg wieder betrete, hatte er sich beim Auszug gesagt, muß ich der Herr ihres Lebens sein. Isas Eifersucht hatte ihm das Spiel verdorben.

Marianne verbrachte den Rest des Abends in unerträglichem Zustand. Ivos Macht war wieder über ihr und zugleich der Schrecken vor seiner Macht. Wohin sollte das führen? Sie hatte geglaubt, das Steuer fest in der Hand zu halten, und nun erkannte sie, daß sie all die Zeit dem Kurs gefolgt war, den er mit Drehen und Wenden nahm, und sie wußte nun auch, wohin seine Fahrt ging. Aber man zürnt einem liebenden Verlangen nur, wenn man es nicht erwidert, und sie fühlte jetzt wieder die magische Schlinge um den Hals, die sich immer fester zuzieht, je mehr das Opfer sich dagegen sträubt. O Ivo, wenn du dich läutern konntet, daß man dich lieben dürfte! Sein Gutes und sein Böses rannen ihr beständig zusammen und wieder auseinander. Was beginnen? Sollte sie in die alte Sklaverei zurückkehren und sie gar noch vor dem Standesamt besiegeln? Das beste wäre schleunige Abreise, und richtig rückte sie ihren Koffer vor und begann fieberhaft zu packen. Aber wohin, daß er ihr nicht nachfolgte? Und durfte sie Marco gerade in diesem Augenblick seiner höchsten Not verlassen? Und doch, sollte sie um Marcos willen das eigene Schicksal aufs Spiel setzen, denn aus dieser Besessenheit gab es keine Rettung als durch die Flucht. Ach, und es war doch so süß gewesen all die Tage her, das Unbegreifliche was sie erlebte, dieses Zurückfinden auf die Pfade der ersten keimenden Neigung, die Wiederkehr des Vorfrühlings ihrer Liebe, unablässig wogte es in ihr auf und nieder. Tat sie am Ende Ivo Unrecht? Hatte er sich nicht vielleicht innerlich in Wahrheit gewandelt, und es hing nur von ihr ab, daß diese Wandlung eine dauernde ward? Alle Gaukelstimmen der Leidenschaft redeten auf sie ein, um das heimliche Nein ihres tiefsten Innern zu übertäuben. Sie riß das Gepäck wieder auseinander und schob den Koffer in seine Ecke zurück. Aber plötzlich fiel die ganze Wucht ihrer Zweifel auf die andere Seite. Was war das mit Isa gewesen? Warum war die Schwester ihr nachgestürzt? Sah sie eine Gefahr in ihrer Schwäche oder fürchtete sie etwas für sich selbst? War sie eifersüchtig? Hatte Ivo ihr einen Grund gegeben, ihn – sei's auch nur auf die zarteste Weise – für sich selber in Anspruch zu nehmen? War zwischen den Zweien mehr gewesen, als was sich den Augen darbot; das Wohlgefallen des Mannes an holdseliger Frauengüte und von der anderen Seite das frauliche Hegen und Helfenwollen? Wieder einmal mußte sie sich sagen, daß sie von diesem Mann, der ihr durch Jahre der Nächste und ein Stück ihrer Seele gewesen war, weniger wußte als von Irgendeinem.

An seinem Fenster drüben schimmerte Licht. Wenn sie auch das Letzte in ihm nicht kannte, so wußte sie doch, es stürmte jetzt in ihm wie in ihr. Plötzlich verdunkelte sich sein Fenster, und sie ahnte was kommen würde.

Ihr ganzes Innere raffte sich auf zur Gegenwehr. Sie löschte gleichfalls ihr Licht und trat vom Fenster zurück, daß sie nicht mehr gesehen werden, aber selbst noch, was unten geschah, überblicken konnte. Jetzt trat Ivos schlanke Gestalt aus dem Torbogen heraus und kam schlendernd gegen die Brücke. Dort machte er Halt, sah den eilenden Wassern nach und spähte heimlich herauf. Da sich oben nichts regte, begann er vor sich hin zu pfeifen. Ivos doppelstimmiges Pfeifen war eine Kunstübung, es erinnerte in seinem weichen Wohlklang an Flötentöne. Ganz deutlich klang es durch das leise Rauschen des Wassers herauf: Ihr, die ihr die Triebe – es war das Zeichen, das sie ehedem verabredet hatten für Fälle, wo ihm die Rücksicht verbot noch spät ihre Wohnung zu betreten. Er ließ eine Weile verstreichen und begann danach von neuem. Offenbar erwartete er, sie würde wie vor Zeiten sich in einen dunklen Mantel hüllen, und zu ihm hinunterhuschen, um sich an seiner Hand ungesehen in das bergende Dunkel zu verlieren. Nun setzte er langsam seinen Weg fort und schlenderte unter ihrem Fenster auf und nieder. Marianne hielt sich mit beiden Händen an ihrem Tische fest um nicht nachgezogen zu werden, denn es riß sie mit fast körperlicher Gewalt zu ihm hinunter. Jeder Blutstropfen verlangte wieder nach ihm. Aber sie wußte auch, in dieser Minute entschied sich ihr ganzes Schicksal. Die dämonische Flöte rief aufs neue. Marianne ging nicht. Jetzt machte er entschlossen kehrt und schritt wieder zu der Brücke hinunter, sie fühlte aus der Ferne seinen Schmerz und Zorn. Aber ein neuer Gedanke trieb ihn zurück, er wollte ihr augenscheinlich Zeit lassen, falls sie aufgehalten worden wäre, und ging nochmals den Kiesplatz auf und ab.

Ich kann ihn doch nicht in Ewigkeit warten lassen, dachte Marianne, ich muß ihm wenigstens sagen – und schon wollte sie nach dem schwarzen Umhang greifen, da legte sich eine unsichtbare Hand auf ihre Schulter.

Marianne stand wie angewachsen, sie kannte diese Hand, sie hatte sie schon wiederholt gespürt, wenn sie im Begriffe stand, etwas verderbliches zu unternehmen. Da sie weder auf dem Balkon noch unter der Tür erschien, wußte Ivo, daß das verdunkelte Zimmer kein »Ich komme«, sondern ein »Laß mich schlafen« bedeutete, und nun wandte er sich zum zweitenmal und verschwand flußabwärts in der Dunkelheit.

Marianne warf sich aufs Bett und schluchzte. Vom Campanile schlug es zehn Uhr.

In diesem Augenblick blieben verspätete Wanderer draußen stehen und sahen verwundert einem rötlichen Lichte zu, das an halber Höhe der Rosetta aufglomm, sich verlängerte, zwei weitauseinandergezogene Zacken bildete und sich zwischen den zwei Zacken durchwand wie eine Schlange. Zwei verschlungene Lettern, ein M und ein S leuchteten durch die Finsternis; Marianne Sebald! Das war Marcos Geheimnis gewesen, das er sich durch keine Folter hätte vorzeitig entreißen lassen. Unter unsäglicher Mühsal hatte er all den schweren Brennstoff da hinauf geschleppt und an unzugänglich scheinender aber weithin sichtbarer Stelle angebracht, um seiner Beschützerin einen Geburtstagsgruß zu senden. Seit Wochen beschäftigte ihn dieser Plan, und um ihn auszuführen, hatte er Tag für Tag da oben im Gebirge geschafft, hatte die Kasse seiner Stiefmutter beraubt und war mit dem Geld auf dem Wagen eines Fuhrmannes, der ihn aufsitzen ließ, zur Stadt gefahren um all das brennbare Zeug, das er brauchte, zu holen und nächtlicher Weile heraufzuschleppen. Daß er mit diesen Zurüstungen sich in den Augen seines Vaters zum Brandstifter und in denen seiner Mutter zum Dieb gemacht hatte, ging nicht in sein einfach eingerichtetes Hirn, er war vielmehr sehr stolz und zufrieden mit sich selber, daß er das alles ganz allein geschafft hatte. Nur ein andrer Junge, der Sohn eines Bergführers, mit dem er gute Freundschaft hielt, war ihm behilflich gewesen, das schwere Zeug über die Felsen heraufzubefördern, und hatte ihm auch seinen Lodenmantel zum Schutz gegen die Kälte dagelassen, denn Marco setzte sich in stillem Glück zu seinem Feuer und war von da nicht wegzubringen. Als er allein geblieben war, freute er sich erst recht. Er saß unter rotbeschienenen Felsblöcken mit den Sternen über seinem Haupt und sah dem himmlischen Zeiger zu, wie er langsam gegen die Mitte der Nacht vorrückte. Und er meinte die Augen Mariannens zu fühlen, die seit dem Schlag der zehnten Stande an diesen Feuerlettern hängen mußten, aus denen sie alles lesen konnte was er nicht imstande war zu sagen.

Aber ach, Mariannens Augen waren um diese Zeit geschlossen. Sie schlief, ohne sich bei dem verabredeten Glockenschlag an ihr gegebenes Versprechen erinnert zu haben. Sie schlief und träumte schwer, denn sie träumte von Ivo. Ihr Traum war sein Anwalt nicht und war es nie gewesen; über ihr unbestechliches, dem Bezauberer unerreichbares Unterbewußtsein hatte er keine Gewalt; die Eindrücke, die sein undurchsichtiges Sein und Handeln in ihrer Seele gelassen hatten, traten im Traumleben wie mit magischer Tinte geschrieben heraus, zumeist in Symbole verkleidet, die beim Erwachen leicht zu deuten waren. So auch jetzt. Nach einigen Stunden Schlafs der nicht erquickte setzte sie sich im Bette auf, in der Meinung, was durch die Spalten ihrer Läden schimmerte, sei die Morgenhelle. Und sie sann dem Traumbild nach, das sie nicht mehr zusammenbringen konnte, sie wußte nur, daß es sich um Ivo gehandelt hatte und daß er keine gute Rolle dabei spielte. Die Künstlerin erhob sich und stieß die Läden auf. Es war noch tiefe Nacht. Unter dem kalten meisten Licht der Bogenlampen lagen die totenstillen Plätze und Wege wie eine Gespensterstadt, ein eiskalter Hauch wehte vom Cismone herauf, und alles Leben schien wie von einem bösen Zauber gebunden. Nur auf halber Hohe der Rosetta geisterte ein rötlicher, ihr unverständlicher Schein wie von einem Riesenleuchtkäfer und war im nächsten Augenblick erloschen. Fröstelnd schlüpfte sie in ihr Bett zurück. Und niemals sollte die große Künstlerin erfahren, daß das arme verwahrloste Knabenherz ihr seine Liebe und seinen Dank mit Feuerzügen auf den steinernen Leib der Rosetta geschrieben hatte.

* * *

 


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