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– – Marco, sei nicht so stumm, sagte Marianne, als sie an einem sinkenden Nachmittag auf dem Rasenhaupt der Tagnola rasteten. Sie saß von der strahlenden Weiße der in tausend Zacken und Nadeln aufschießenden Palakette abgekehrt und war von der Starrheit seiner Augen, die unverwandt an den Linien ihres Gesichtes hafteten, so betroffen, daß sie wiederholte:

So sprich doch, Marco, sei nicht so entgeistert.

Was soll ich sagen? antwortete er zu sich kommend. Ich weiß nichts, ich bin ja so dumm. Sprich du, Tante Marianne, dir möchte man immer zuhören.

Schnell begann sie zu erzählen:

Es war einmal ein Geschlecht von Riesen, das wollte die Himmelsburg stürmen und dem Göttervater seinen Blitz entreißen. Darum türmten sie Felsen auf Felsen höher, immer höher, bis hinauf in die Wolken. Mächtige Keulen schwangen sie, an ihren ungeheuren Armen hingen kleine runde, spiegelnde Schilde von Metall. Aber als sie oben waren und ihre Arme mit den Keulen und spiegelnden Schilden erhoben, da schüttelte der Göttervater seine Locken, daß ihnen unermeßliche Wasserfluten entstürzten. – Hörst du mich, Marco? Was habe ich gesagt?

Daß ihnen unermeßliche Wasserfluten entstürzten, wiederholte er mit weitgeöffneten Augen.

Er schleuderte seinen Blitz, der ihre Burgen in Trümmer schlug. Aber ihre Schädel waren fester als ihre Burgen, die konnte er nicht zersplittern. Deshalb griff er nach seinem Schild mit den großen Quasten, darauf war das Angesicht eines Ungeheuers abgebildet, wer das sah, der wurde augenblicklich zu Stein. Die Riesen schlugen nach dem Schild, aber die ausgereckten Arme blieben ihnen stehen, Kälte durchlief ihr Gebein, die Glieder erstarrten und hafteten am Boden. Kennst du die Riesen, Marco? Die versteinerten Riesen?

Die Dolomiten, sagte er freudig erstaunt, daß er sie verstanden hatte.

Ihre Keulen sind im Blitz zu Asche gebrannt, Marco, aber ihre Schilde, die schönen, blanken, spiegelnden Schilde, die liegen in den Hochtälern verstreut und spiegeln noch immer. Kennst du auch die Schilde, Marco?

Es sind die Seen, lachte er fröhlich auf, die blauen und grünen Bergseen. Die Seen von Colbricon.

Die Riesen sind zu Stein geworden, fuhr sie fort. Aber einmal am Tage, nicht jeden Tag, sondern nur, wenn der Göttervater sehr gut gelaunt ist, und bloß für wenige Minuten, erlaubt er ihnen ins Leben zurückzukehren. Dann fängt das Blut in ihrem Innern wieder zu kreisen an, die Röte scheint durch die harte Steinhaut, man sieht sie atmen, sich regen. Aber ehe sie sich dem Stein entwinden, faßt sie der Tod aufs neue.

Während ihres Redens hatte sich wie auf ein Stichwort die Dolomitenkette entzündet, die makellose Weiße ihrer steilen Häupter und geborstenen Flanken ward zu roter Glut. Beide schwiegen, bis die Verklärung vorüber war.

Warum tut der Göttervater das? sagte Marianne. Ist's Gnade, weil das Leben so schön ist, oder ist's Strafe, weil das Sterben wehe tut? – Komm Marco, starre nicht schon wieder, es ist spät, wir müssen aufbrechen.

Du weißt schöne Geschichten, Tante Marianne, sagte er auf dem Heimweg. Du mußt mir noch mehr erzählen. Auch die Schmuggler erzählen mir Geschichten, wenn wir die Säcke Tabak des Nachts über die Feltriner Berge hinunterschaffen. Aber so schön sind ihre Geschichten nicht wie die deinigen.

Um Gotteswillen, Marco, warum schmuggelst du denn, du, ein Sohn aus gutem Hause?

Weil es mir Vergnügen macht, Tante Marianne, sagte er mit dem unschuldigsten Gesicht von der Welt. Es gibt nichts schöneres als in einer mondlosen Nacht auf den Schleichpässen durch das Gebirge klettern und die Grenzwächter hinterher. Einmal wurde ich angeschossen, aber es hat nichts zu sagen. Ich konnte die Kugel selber ausschneiden, sie haben zu Hause gar nichts gemerkt.

Marianne war entsetzt.

Das ist ja ein Verbrechen, was du begehst. Du hilfst den Staat bestehlen.

I wo, antwortete er gemütsruhig. Der Staat ist der größte Dieb, der armen Leuten ihr Geld wegnimmt. Das sagen alle.

Marianne mühte sich ihm eine bessere Meinung vom Staate beizubringen, aber sie merkte, daß sie selber über seine Einrichtungen und seinen Wert nicht so recht im klaren war. Marco dagegen sang ihr die Wonnen und Rechte des Schmugglerlebens, und es war gegen so grundeinfache Auffassungen nicht gut aufkommen.

Ich hoffe wenigstens, daß du von der Beute nichts annimmst!

O eine Handvoll Zigarren stecke ich wohl ein oder einen Beutel Taback. Aber vom Erlös will ich nichts, der ist für die armen Leute.

Du wilderst wohl auch, Marco?

Was ist das? fragte er zurück.

Sie mußte das Wort erklären. Da nickte er lebhaft mit dem Kopf:

Wie käme ich denn sonst zum Schießen und Jagen? E das ist etwas wunderschönes, Tante Marianne. Du mußt auch einmal mit. Du wirst sehen, wie schön das ist. Du hängst ganz still am Berggrat, und die Gemse kommt in Sicht. Sie stellt die Vorderfüße zusammen und trak trak geht es bergab in so langen Sprüngen. (Er deutete mit ausgebreiteten Armen die Sprungweite des Tieres an.) Du nimmst die Flinte auf, hältst dich mit den Füßen an der Felswand fest und drückst los. Den Bock versteckst du in einer Schlucht, und in der Nacht, wenn alles still ist, kommst du wieder mit dem Rucksack –

Marianne setzte sich überwältigt auf einen Stein. Die Art, wie Marco über ihre Person verfügte, war unwiderstehlich. Sie sah auf einmal zwei Mariannen vor sich, die eine, Ivo Geiers Freundin, die berühmte Sängerin, und eine andere, die in Nagelschuhen mit Marco Ehrland wildern ging. Die zweite schien ihr in diesem Augenblick sogar näher zu stehen. Es fiel ihr ein, wie Franz am ersten Tag von seinem Sohn gesagt hatte, er sei eine atavistische Form. Wahrscheinlich bin ich auch eine atavistische Form, dachte sie, weil mir der Junge so viel Spaß macht.

Sie wurden beide immer aufgeräumter. Marco erzählte Jagdgeschichten. Natürlich schnitt er auf. Aber Marianne in ihrer Unerfahrenheit glaubte ihm alles. Nur wenn jene seltsame Starrheit in seine Pupillen kam, wurde ihr unbehaglich, und sie dachte, er könnte doch am Ende geistig nicht gesund sein.

Ein andermal saßen sie an dem türkisblauen See von Colbricon, den Marianne besonders liebte. Die glashellen Uferwasser spiegelten das Gestrüpp der verblühenden Alpenrosen und das Polster des spätsommerlichen Rasens goldgrün zurück, aber schon wenige Schritte vom Uferrand fiel der See ins Unergründliche. Jenseits erhob der Monte Colbricon sein Haupt, dessen Grün sich schon mit den herbstlichen Farben eines türkischen Schals mischte. Marianne ruhte behaglich ausgestreckt, den Kopf auf Marcos Rucksack, den dieser mit wohlriechenden Alpenkräutern zu einem schwellenden Kissen ausgestopft hatte. Ein paar Schritte von ihr lag der Junge zusammengerollt wie ein Wächterhund im Heidelbeergestrüpp am Boden. Er war von der Hitze des Nachmittags und vom Plätschern des Quells, der sich in den türkisblauen See ergießt, eingeschlafen.

Marianne schlief nicht, sie hob die Augen zu der grünen Cavalazza über ihrem Haupt, die ihr das Horn des gewaltigen Cimone verdeckte, und sagte zu sich selbst: Wer bin denn ich? Hab' ich noch einen Namen und eine Geschichte oder bin ich ein Stück blauer Himmel und grüner Rasen geworden? – Ihr Inneres lag unbeweglich, verzaubert, wie der türkisenblaue See, dessen Rand nur die einströmende Quelle leise durchzitterte. Vom Monte Colbricon tönte ein ferner Ruf durchstreifender Jäger, dem ein zweiter, lang nachhallender antwortete; es klang so fern und fremd, als käme es aus einer andern Welt.

Marianne brach gewaltsam den Bann und richtete sich auf, um ihr Ich nicht ganz an die Natur zu verlieren. Sie zog aus Marcos Rucksack ein schmächtiges, in grünen Safian gebundenes Büchlein, Ivos Gedichte, die sie beim Weggehen in eine Seitentasche gesteckt hatte. Mit diesen setzte sie sich auf die Bank vor der Hütte, über deren Tür ein kunstloses Muttergottesbild diese Einsamkeit schirmte, und begann zu lesen. Aber seltsam, die Strophen, die sie sonst berauscht hatten, sahen sie heute fremd und künstlich an. Es waren weiche, schmeichelnde, üppige, mitunter dämmernde, sinnlich-übersinnliche Verse, bestimmt, bei brennenden silbernen Kandelabern und kostbaren, mit fremden Blumen gefüllten Vasen auf einer mit Pelzwerk und orientalischen Teppichen bedeckten Ottomane gelesen zu werden. Hier oben in der kräftigen, schneegekühlten Bergluft, wo das Nadelholz duftete und der Quell mit leichtem Sprung aus dem Gestein hüpfte, weckten sie keine Nachempfindung, sondern blieben ein leerer Schall. Marianne schlug die schönsten der an sie gerichteten auf; heute zerfielen sie vor ihr wie welke Rosen. Der balsamische Duft der Alpenkräuter der sich den Blättern des Büchleins mitgeteilt hatte, machte den Gegensatz noch fühlbarer. Dann suchte sie sich Ivos Gesicht vorzustellen, aber auch das gelang ihr nicht. Ihre Gedanken glitten wie im Halbtraum über ihn hin und blieben an dem Schläfer haften, dessen leise Atemzüge sie durch die Stille vernahm.

Armer Marco, nun war es bald mit seiner schönen Freiheit zu Ende. Der Konsul hatte nach den letzten Fehlversuchen mit der Schule den Beschluß gefaßt, den verlorenen Sohn auf die See zu bringen, und nur die eigene Lässigkeit hatte ihn bisher an der Ausführung verhindert. Seit der Junge Mariannens Begleiter geworden war, beschäftigte man sich wieder mehr mit ihm, und der Vater dachte jetzt ernstlich daran ihn unterzubringen, aber so fern wie möglich vom Elternhause. Die Meinung, die man in der Familie von ihm hatte, stand so fest, daß Niemand sehen wollte, wie seine Untugenden zum Teil im Schwinden waren. Freilich sein Bestes trat an Orten hervor, wohin Vater und Stiefmutter niemals kamen. Und gewiß war, was Isa von ihm erzählte, nicht minder wahr; daß er erst kürzlich wieder den elterlichen Weinkeller erbrochen hatte, um die Flaschen an die Gesellen seiner Abenteuer zu verteilen. Aber was hatte Isa je getan, um sein Inneres zu veredeln? Marco erhob nie einen Vorwurf gegen sie, er verband mit dem Namen »Mutter« die Vorstellung eines Wesens, das auf dem Kanapee lag und sich entsetzt die Ohren zuhielt, wenn er mit seinen groben Schuhen und seiner viel zu lauten Stimme ins Zimmer trat; seine leibliche Mutter, eine Venetianerin, hatte es auch nicht anders gehalten. Und so schien ihm die Sache ganz in der Ordnung. »Die Frau« sagte er, wenn er von seiner Stiefmutter sprach, nicht aus Abneigung, sondern weil er sich selbst zu grob fand um ein so feines Wesen Mutter zu nennen. Dem Vater blieb er am liebsten aus dem Wege. Die kühle Härte, die Franz gegen seinen Sohn bewahrte, machte die Künstlerin immer aufs neue schaudern.

Ich weiß, daß er sich als Jagdhund eine schöne Stellung machen könnte, hatte er eisig erwidert, als sie ihm Marcos Geschicklichkeiten rühmte, da er aber leider auf zwei Beinen geht, weiß ich ihm in der Kulturwelt keine Verwendung.

Und Schwester Isa hatte dazu gelächelt und mit ihrer sanftesten Stimme gesagt; Marianne muß immer etwas besonderes haben. Nun findet sie gar an unserem Caliban Gefallen, an dem noch nie ein Mensch etwas menschliches entdeckt hat.

Dieser Name Caliban, den sie ihm selber gedankenlos angehängt hatte, gab ihr jedesmal einen Stich ins Gewissen, denn nun klebte er an ihm fest wie Pech.

Der Schläfer wurde unter ihren Blicken unruhig. Auf einmal richtete er sich auf.

Ich fühlte, daß du mich ansahst. Wolltest du etwas, Tante Marianne?

Nein, Marco, ich möchte nur wissen, worüber du im Schlaf gelacht hast.

Ich habe ja gar nicht geschlafen, versicherte er treuherzig. Ich war nur so stille um dich nicht zu stören. Und da fiel mir ein, wie du vorhin vor der Kuh erschrakst. Darüber werde ich wohl gelacht haben.

Sie wußte es längst; seine Gedanken waren im Schlafen und Wachen mit ihr beschäftigt, daß er beide Zustände kaum noch unterschied. Aber das Kuhabenteuer hatte auch ihr einen Eindruck hinterlassen. Beim Aufstieg waren plötzlich unter ihnen am Berghang zwischen den Felsen zu Mariannens unliebsamer Überraschung gehörnte Häupter aufgetaucht, und eine junge Kuh, vielleicht durch das tiefe Blau ihres sommerlichen Leinenkleides aufgereizt, hatte sich mit einem kecken Sprung ihr gerade in den Weg gestellt, sie mit ihren großen Augen anstarrend, daß Marianne eilig zurückwich. Ein derber Schlag von Marcos Alpenstock hatte das Tier bewogen, wieder über den Abhang hinunterzuspringen, dann aber hatte es sich umgewandt und ihnen laut und lange nachgebrüllt.

Da du die Sprache der Bestien verstehst, Marco, so sag mir doch, was die Kuh eigentlich von mir wollte.

Gar nichts wollte sie von dir, Tante. Das arme Ding dachte bloß: Wenn ich doch auch schon soweit wäre!

Wie weit? Was willst du sagen?

Sie möchte eben auch schon eine Menschenfrau sein und so schöne blaue Kleider tragen wie du.

Wie kommst du auf den wunderlichen Gedanken?

Du weißt doch, Tante, daß wir alle einmal Kälber gewesen sind und Hunde oder Pferde. Ich habe ein Buch gelesen, darin stand, daß die Menschen alle zuvor Tiere, Pflanzen, und ich glaube sogar Steine waren, und daß alle Tiere einmal Menschen werden müssen.

Marianne lächelte, aber er versicherte eifrig: Du darfst es glauben, ich habs gelesen. Es steht in einem Buch mit vielen anderen sonderbaren Sachen.

Du liest also Bücher?

Ja, Warum nicht? Ich lese gerne, nur keine Schulbücher.

Höre, Marco, es ist doch ein Jammer um dich. Dein Vater schickt dich auf die See, weil du nicht gut tun willst, und ich weiß doch, daß du die See nicht liebst.

Siehst du, sagte er ruhig, ich bin am Wasser geboren, ich kenne das Wasser, kann mit Segeln und Tauwerk umgehen wie Einer. Aber das Wasser langweilt mich, in den Bergen möchte ich immer sein. Ist es nicht in den Bergen am schönsten?

Lieber Junge, das Leben ist nicht blos zur Kurzweil da. Einen Beruf mußt du haben, wenn du ein Mann wirst.

Ich möchte Bergführer werden.

Das werden deine Eltern schwerlich zugeben.

Das ists. Sie wollen einen Schiffsjungen aus mir machen. Ist denn ein Schiffsjunge was besseres?

Sie denken eben, daß aus einem Schiffsjungen mit der Zeit ein Kapitän werden kann.

Nein, das denken sie nicht. Sie denken einfach, daß ich ihnen dann aus dem Wege bin.

Marianne wußte, daß er Recht hatte, und konnte ihm nicht widersprechen.

Höre, sagte sie nach einer Pause, ich kann dich doch nicht so deinem Schicksal überlassen. Ich will mit deinen Eltern reden, daß sie noch ein Jahr Geduld haben. Aber du mußt mir versprechen dich zusammenzunehmen. Versuch es noch einmal mit dem Lernen. Spanne deine ganze Aufmerksamkeit an, damit sie den guten Willen sehen. Dann wirst du schon zurecht kommen. Tu' es mir zuliebe; willst du?

Marco sah sehr niedergeschlagen drein.

Wenn du immer dagewesen wärst, Tante Marianne, so hätte ich vielleicht ebensogut etwas lernen können wie andere. Aber jetzt ist es zu spät.

Es ist nie zu spät, wenn der Wille gut ist. Sag mir nur, daß du's versuchen willst.

Ich wills versuchen, Tante Marianne, sagte er am Ende sehr beklommen, und es war ihm anzuhören, daß er selber auf diesen Versuch nur geringes Vertrauen setzte. Ihn hatte die Natur für die Berge bestimmt. Als Träger konnte er jetzt schon sein Brot verdienen, und wenn er das Alter dazu hatte, so würde ihm nicht viel fehlen um die Führerprüfung zu bestehen. Seine Augen glänzten, als er von dieser Aussicht sprach.

Alle Führer kennen mich, sagte er. Frage den alten Béttega, den Zagonèl (er nannte die Ersten), was sie von mir halten. Wenn sie unter sich sind und einen neuen Gipfel in Angriff nehmen wollen, den noch keiner bestiegen hat, oder dem Cimone von einer anderen, gefährlicheren Seite beikommen, mich nehmen sie gerne mit, mich können sie brauchen.

Marianne zweifelte nicht, daß er die Wahrheit sprach. Sie hatte mehr als einmal die achtungsvolle Vertraulichkeit gesehen, mit der diese erprobten Männer den hintangesetzten Jungen grüßten, wenn sie ihm unterwegs begegneten, und sie wußte längst, daß das Wirtszimmer, in dem sie ihn am ersten Abend hatte sitzen sehen, keine Lasterhöhle, sondern der abendliche Versammlungsplatz der tüchtigsten Leute war. Mit einem von ihnen war sie kürzlich ins Gespräch geraten, als er im Gasthof seinen Fremden abholte, und der Mann hatte ihr gesagt: Mit Konsuls Marco können Sie gehen, wohin Sie wollen, der ist so sicher wie Unsereiner – und dieses Lob hatte ihr für den armen Ausgestoßenen von Herzen wohlgetan. Wenn sie ihm doch helfen konnte! Aber es war ihr klar, daß der Vater ihm seinen Herzenswunsch nie erfüllen würde. Franz kannte für einen Sohn aus gutem Hause nur einen Lebensweg, den durch die Schule in Amt und Stellung. Wer den nicht gehen konnte, für den gab es in Europa keinen Raum. Mochte der Tunichtgut auf der See verderben oder in einem fremden Erdteil Kulidienste tun, das war ihm gleich, wenn er nur dieses Zerrbild eines Sohnes nicht mehr sehen mußte. Und Isa, die sanfte Isa, stimmte ihm bei, nur daß sie in ihrer nachlässigen Schönseherei meinte, wer so anstellig in praktischen Dingen sei, der werde sich überall auf seine Weise durchzuhelfen wissen. Vielleicht hatte sie sogar Recht, vielleicht öffnete man ihm die Tore des Lebens, indem man ihn in irgend ein fernes Neuland versetzte. Auf dem ganzen Heimweg sann Marianne, was sie an Isas Stelle mit dem Knaben angefangen hätte. Ganz warm und mütterlich wurde ihr zu Mut, indem sie sich vorstellte, wie sie das verwahrloste Kind ins Herz geschlossen hätte, und unbedacht fuhr es ihr heraus:

Wäre doch ich deine Mutter geworden.

Da sah der Knabe sie mit großen Augen an, in denen ein Schein aus unerreichbaren Paradiesen aufglänzte.

Aber seinen besten Ruhmestitel lernte sie erst beim Aufstieg zur Rosetta kennen, als sie an den Trümmermassen eines ungeheuren Bergsturzes vorüberkamen. Eine tief eingeschürfte, blendend weiße Schlucht, über die der neue Rosettaweg in vielen Kehren hinanführte, zeigte die Rutschbahn dieser Felsenstücke, und an einem freistehenden Bergzinken hoch oben im Gebirg, der auffallend einem Eckzahn glich und davon auch den Namen hatte, erkannte man deutlich die Abbruchstelle.

Wie lange ist es her, daß der Dente eingestürzt ist? fragte sie.

Etwas über zwei Jahre.

Hast du es miterlebt? Das muß ja gedonnert haben wie zum jüngsten Gericht.

Ja, das kannst du glauben, es war prächtig. – Marcos Augen glänzten auf, und er begann zu erzählen.

Die Eltern hatten ihn einem Grafen aus Budapest, der ein Freund des Hauses war, zur Begleitung auf die Rosettahütte mitgegeben. Den Herrn, der etwas fettleibig war, hatte der Aufstieg aber so angegriffen, daß man die Nacht in der Hütte verbringen mußte. Außer ihnen war niemand oben als der Hüter mit seiner Frau. Da begann mit einem Male ein ungeheures, erderschütterndes Gekrach, als ob der Weltball selber in Trümmer falle. Als sie hinaus rannten, sahen sie sich durch den Bergsturz vollkommen abgesperrt. Unablässig brachen mit Donnergepolter gewaltige Felsbrocken herunter. Sie verschütteten den alten Weg zur Rosettahütte, kollerten über das Neuaufgehäufte hinweg, und stürzten, die nahen Lärchenstämme niederreißend, tief ins Tal hinab, wo sie eine gräßliche Verwüstung anrichteten. Es sah aus, als sei der ganze Berg in Bewegung. Drunten in San Martino hörte mans Tag und Nacht donnern wie Salven vom schwersten Geschütz. Nach ein paar Tagen trat ein Stillstand ein, der Hüter, der selber ein alter Bergführer war, hielt den Augenblick für günstig zum Abstieg, der Graf mit seinem jugendlichen Begleiter schloß sich an. Die beiden andern gingen voraus und kamen glücklich über die gefährliche Stelle hinweg, die nur fünfzig Schritte breit war, denn alle Steine nahmen denselben Weg. Dann hieß der Führer scharf auslugend auch den Knaben mit dem fremden Herrn folgen. Aber kaum waren sie in der Mitte, als er ihnen zurief – Achtung! und Marco hatte eben noch Zeit, den Grafen mit sich hinter ein Felsstück zu ziehen, als ein ganzer Regen von Steinen über sie wegging. Endlich eine Pause. Der Hüter rief ihnen zu: Jetzt schnell herüber! Und sie rannten in großen Sätzen, wobei der Junge den schweren Herrn mit sich reißen mußte, über den ausgesetzten Weg. Kaum waren sie auf sicherem Boden, als ein Felsbrocken, zweimal größer als das größte Haus, herunterkrachte und gerade die Stelle zudeckte, auf der sie sich eben noch gekauert hatten.

Er zeigte mit dem Bergstock auf einen Riesenblock hinunter, der eine Strecke unterhalb des Weges lag und schon ganz mit Moos bekleidet war.

Das ist er; hier war die Stelle. Du darfst glauben, daß uns allen die Knie zitterten, keiner hatte mehr einen Blutstropfen im Gesicht, als wir in San Martino ankamen, und das Krachen und Poltern ging noch immer weiter.

Er lachte in sich hinein, das wilde Abenteuer freute ihn noch in der Erinnerung.

Ich war dabei, als in Venedig der Marcusturm einstürzte und die Leute weißbestaubt wie Müller durcheinander rannten, aber das war nur ein Mückensummen gegen dieses Gepolter. Acht volle Tage währte der Bergsturz. Dann mußte man den Rosettaweg höher legen, denn der frühere war ganz verschüttet.

Und dein Graf, Marco, was sagte der dazu, daß du ihm das Leben gerettet hast?

Er hat mir zum Andenken seinen Chronometer zurückgelassen, antwortete der Knabe, indem er eine kostbare goldene Uhr mit Krone und Monogramm aus der Tasche zog. – Er war sehr gut zu mir und wollte mich später ganz zu sich nehmen.

Hätte er es doch getan.

Er ist schon ein halbes Jahr danach gestorben. Es hieß, der Schrecken habe sein Blut zersetzt. Aber ich glaube, er ist zuvor schon krank gewesen.

Marianne sah ihren Neffen an, als hätte sie den Veteranen eines berühmten Schlachttags vor sich, der sein Ehrenzeichen vorweist. Das war also der Steinschlag, den Franz Ehrland an jenem ersten Abend auf dem Lesserweg seinem unglücklichen Sohn an den Hals gewünscht hatte. Ein solches Kind konnte der eigene Vater hassen, bloß weil seine Lenkung Schwierigkeiten machte, und weil eine andere Frau ihm jetzt andere Kinder gebar! Marianne fühlte sich fast als Mitschuldige dieses Unrechts, weil sie Isas Schwester war. Wie er ihr jetzt mit der rauhen Ritterlichkeit der Bergführer über den steilen, schlüpfrigen Plattenweg hinaufhalf, wo sie bald ins Rutschen kam, bald bis ans Knie in halbgefrorenen Schnee einbrach, und wie er sie nach kurzer Rast in der Hütte vollends über das wilde Steingeröll zum Gipfel schleppte, erschien er ihr überhaupt nicht mehr wie ein Knabe, sondern wie ein gereifter fertiger Mensch.

Eben auf der höchsten Felsplatte, deren schiefe Fläche nur für wenige Platz hat, mußte sie sich zu Boden sinken lassen, so überwältigte sie der Anblick dieser sie rings umschließenden Gebirgszüge, die sich nach allen Himmelsrichtungen bis in die fernste Ferne kreisförmig hintereinander aufbauten, als wäre der Planet mit lauter Ringgebirgen wie die Mondoberfläche umzogen, und nirgends dazwischen Raum für menschliche Siedelungen außer der kleinen grünen Oase mit dem Campanile tief da unten zu ihren Füßen. In liegender Stellung schob sie sich nach dem Rand der Platte vor und streckte den Kopf darüber hinaus um ohne Schwindelgefahr in den ungeheuren Abgrund zu blicken, während Marco, von der Last des Rucksacks unbeschwert, mit gespreizten Beinen ganz vorne stand und ihr von unten gesehen groß wie ein Erwachsener erschien.

Aber schnell zog sie den Kopf wieder zurück und barg ihn ganz erschüttert an der Ende.

Wird dir schwindlig, Tante Marianne? fragte der Knabe, indem er sich besorgt neben sie setzte. Sie schüttelte den Kopf, sie hatte etwas gesehen, das über ihre Fassung ging. Zwei steile Bergzinken, die ihr beim Aufstieg als spitze Nadeln erschienen waren, lagen jetzt hunderte von Metern unter ihr und sahen sich von oben wie flache runde Teller an. Marco wunderte sich über ihre Verwunderung; das war doch in den Dolomiten immer so. Und nun begann er von Gratwanderungen und vom Erklettern überhängender Felswände zu erzählen, daß seiner Tante, die bisher dem Schwindel widerstanden hatte, vor der Vorstellung des blauen Nichts, über dem der tollkühne Junge an ein paar winzigen Griffen und Tritten zu schweben gewohnt war, ein Wirbel durchs Hirn ging. Wenig unterhalb der vorstehenden Platte leuchtete eine einsame Blume aus dem Gestein, blau und durchsichtig wie der Äther, der sie nährte. Beide hatten sie gleichzeitig erblickt, und schon warf Marco ein Bein über den gähnenden Rand, um sich zu ihr hinabzulassen. Marianne sprang entsetzt in die Höhe und hatte eben noch Zeit sich auf ihn zu werfen und ihn bei den Schultern zurückzureißen. Er wurde weiß wie Kreide und setzte sich zu Boden wie Jemand, der auf einmal die Kraft verliert. Eine Zeitlang saß er unbeweglich, dann sah sie wie ihm große Tränen langsam über die Backen flossen. Zum erstenmal hatte ein Mensch sich um sein Leben gesorgt! Er wußte nicht, ob es wohl oder wehe tat, daß da auf einmal etwas festes und hartes in seinem Innern sich löste und zerschmolz. Sie wollte ihm tröstend die Hand auf die Schulter legen, da brach ein jäher Verzweiflungskrampf an dem Jungen aus. Er schluchzte, daß es ihm Stöße gab und wälzte sich in beängstigender Weise auf der engen Steinplatte hin und her. Marianne fühlte alles mit, was in ihm vorging, wenn er es auch nur mit halben, zerrissenen Worten von sich gab. Niemand in der Familie hatte ihn je zu verstehen gesucht und menschlich gehandelt außer ihr! Er klagte seine Mutter an, die eigene, weil sie ihm keine Liebe geschenkt hatte; gegen Isa sagte er auch jetzt kein Wort. War's Zartgefühl, weil sie Mariannens Schwester war, oder war's die große Liebe zur Schönheit, die den häßlichen Knaben gegen alles Zarte und Feine nachsichtig machte?

O du weißt nicht, wie schrecklich es ist, häßlich zu sein, – du bist so schön, Tante Marianne. Man möchte sich vor der Sonne verstecken, weil sie schön ist.

Er erfaßte einen Zipfel ihres Rocks und zog sich den übers Gesicht wie ein Kind.

Und sie tröstete ihn, wie man ein Kind tröstet:

Mein armer Bub! Mein häßliches Entchen! Auf die Schönheit kommt es ja nicht an. Werde du nur ein rechter Mann, so wird man dich schon lieb haben. Deine Tante hat dich heut schon lieb, das weißt du.

Er saß unbeweglich, als fürchtete er zu erwachen; eine so süße Sprache hatte er noch nicht gehört.

In der Nacht, die auf diesen anstrengenden Tag folgte, fand Marianne keinen Schlaf, sondern lag viele Stunden lang in dem leichten Fieberzustand der Übermüdung, der ihr jedoch köstlich war, denn er erhöhte ihr Lebensgefühl und gab allen Dingen um sie her einen gesteigerten Wert. In ihren geschlossenen Augen waren immerzu mit unbegreiflicher Deutlichkeit die grünen Legföhren und die Felsenfugen gegenwärtig, die sich am Tage ihrer Netzhaut eingeprägt hatten und nicht mehr verlöschen wollten. Zuweilen lachte sie leise vor sich hin, ohne zu wissen, weshalb. Das war ihre wiedergefundene Jugend, die über sich selber jubilierte. Es war also eine Selbsttäuschung gewesen, daß sie Ivo für den Schlüssel hielt, der ihr allein alle Schönheit der Erde erschließen konnte. Was sie von ihm empfangen hatte, das blieb ihr ja, und ein armer, von Allen verachteter Junge half ihr jetzt weiter als dieser glänzende, verwöhnte Mann. Sie kam sich auf einmal ganz wunderlich vor wie der verzauberte Merlin, der hinter einer Weißdornhecke liegt und das leichte Gezweig für ein gewaltiges Turmverlies hält. Mach' nur einen Schritt hinaus, so bist du frei, sagte sie zu sich selber. Und in dieser Nacht wurde sie wirklich frei. Ganz leicht und sicher war ihr zu Sinn, denn sie wußte jetzt, was sie zu tun hatte. Ein Wort ihres Freundes Robert, das er einmal in ihre Seelenkämpfe gesprochen hatte, kam ihr nachträglich zu Hilfe: Was dich jeden Tag aufs neue unglücklich macht, das kann doch unmöglich das Rechte sein.

Ehe sie einschlief, dachte sie noch lange gerührt an den, der ihr in seiner Einfalt den Weg der Erlösung geöffnet hatte. Der gute Junge, der prächtige Mensch! Wahrhaftig, wenn er das Alter dazu hätte, man könnte sich in ihn verlieben. Solcher Mut und solche Treue! Und wie er sie ansah! Sie hatte einmal einen Hund besessen, der ihr zugelaufen war und nicht mehr von ihr weichen wollte, bis ihn ein Auto anfuhr, daß er getötet werden mußte. Die Augen, womit der Hund sie anblickte, gingen ihr immer in der Erinnerung nach. So wird mich nie ein Mensch lieben wie dieses Tier, hatte sie oft gedacht und mochte seitdem keinen Hund mehr halten. Mit eben solchen Augen sah sie Marco an.

* * *

 


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