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Fünfzehntes Kapitel.

Als Händler verkleidet durch die Mandschurei. – Den Sungari hinauf bis Kirin. – Von den Goldminen nach Tschita.

 

Ein Blick auf die Karte von Asien zeigt, daß die russische Grenze, die in Sibirien im großen und ganzen den fünfzigsten Breitengrad innehält, sich in Transbaikalien plötzlich nach Norden wendet. Sie folgt sechzig Meilen weit dem Argunflusse, wendet sich dann, nachdem sie den Amur erreicht hat, nach Südosten, so daß Blagowestschensk wieder etwa in der Breitenhöhe des fünfzigsten Grades gelegen ist. Vom südöstlichen Teile Transbaikaliens (Neu-Zuruchaitu) bis Blagowestschensk am Amur beträgt die Entfernung in gerader Linie von West nach Ost hundert Meilen, dagegen den Argun und Amur entlang mehr als das Doppelte. Dazu ist der Verkehr längs des nicht schiffbaren Argun äußerst beschwerlich, im Unterlauf des Flusses wird er nur durch einen Gebirgspfad gefährlichster Art vermittelt.

Transbaikalien ist sehr reich an Vieh, und die in seinem südöstlichen Winkel ansässigen Kosaken, die wohlhabende Viehzüchter sind, wünschten lebhaft eine direkte Verbindung mit dem mittleren Amur, wo ihre Produkte guten Absatz finden konnten. Von den Mongolen, mit denen sie in Handelsverbindung standen, hatten sie erfahren, daß es keine Schwierigkeit machen würde, nach Osten zu über das Große Chingangebirge den Amur zu erreichen. Ginge man gerade nach Osten, hieß es, so käme man auf eine alte Chinesenstraße, die über den Chingan nach der mandschurischen Stadt Mergen am Nonni, einem Zufluß des Sungari, führe, von wo man auf einer vorzüglichen Straße an den mittleren Amur gelange.

Man bot mir an, die Leitung einer Handelskarawane, die die Kosaken zur Auffindung dieses kürzeren Weges aussenden wollten, zu übernehmen, was ich mit Begeisterung annahm. Kein Europäer hatte diese Gegend je besucht, und ein russischer Topograph, der vor wenigen Jahren den Weg einschlug, war getötet worden. Nur zwei Jesuiten waren noch zur Zeit des Kaisers Kan-si vom Süden aus bis nach Mergen gekommen und hatten die geographische Breite des Ortes bestimmt. Das ganze ungeheure Gebiet nördlich davon, hundert Meilen in der Länge und hundertundvierzig Meilen in der Breite, war völlig unbekannt. Ich schlug in allen Büchern, deren ich habhaft werden konnte, nach, um mich über diese Gegend zu orientieren. Niemand, nicht einmal chinesische Geographen, wußten etwas davon. Außerdem war es von großem Werte, den mittleren Amur mit Transbaikalien in Verbindung zu setzen, wie auch Zuruchaitu im südöstlichen Transbaikalien jetzt der Ausgangspunkt der transmandschurischen Eisenbahn werden soll. So waren wir die Pioniere jenes großen Unternehmens.

Es bestand aber eine Schwierigkeit. Der Vertrag mit China gestand den Russen freien Handel mit dem ›Kaiserreich China und der Mongolei‹ zu. Die Mandschurei war im Vertrage nicht erwähnt und konnte ebensogut als ausgeschlossen wie als eingeschlossen gelten. Die chinesischen Grenzbehörden vertraten jene, die Russen diese Deutung. Da überdies in dem Vertrage nur von Handelsverkehr die Rede war, so würde man einen Offizier in die Mandschurei nicht eingelassen haben. Ich mußte daher die Rolle eines Händlers übernehmen, kaufte in Irkutsk verschiedene Waren ein und machte mich, als Kaufmann verkleidet, auf den Weg. Der Generalgouverneur ließ mir einen Paß ausstellen ›für den Kaufmann der zweiten Gilde zu Irkutsk, Peter Alexejew, und seine Begleiter‹ und ermahnte mich, wenn die chinesischen Behörden mich verhaften und nach Peking und von da durch die Wüste Gobi nach der russischen Grenze bringen sollten – sie pflegten die Gefangenen durch die Mongolei in Käfigen auf Kamelen zu transportieren – ihn durch Nennung meines Namens nicht bloßzustellen. Natürlich ging ich auf alle Bedingungen ein; der Versuchung, ein Land zu betreten, das noch kein Europäer gesehen hatte, konnte mein Forschungseifer unmöglich widerstehen.

Meine Identität in Transbaikalien zu verhehlen, war nicht leicht. Die Kosaken sind ein außerordentlich neugieriges Volk – in dieser Beziehung echte Mongolen – und ein Fremder, der in ein Kosakendorf kommt, wird zwar von dem Hausherrn, bei dem er ein Unterkommen findet, mit größter Gastfreundschaft behandelt, aber dabei auch einem förmlichen Verhör unterworfen.

»Eine unangenehme Reise, wie?« so leitet er wohl die Unterhaltung ein; »ein weiter Weg von Tschita, nicht wahr? Und vielleicht noch weiter für einen, der noch hinter Tschita zu Hause ist. Etwa in Irkutsk? Treiben da Handel vermutlich, viele Handelsleute machen diesen Weg. Sie wollen auch nach Nertschinsk, nicht? Ja, Leute in Ihrem Alter sind gewöhnlich verheiratet, und ich denke, Sie haben auch eine Familie daheim gelassen. Viel Kinder? Nicht lauter Knaben, denk' ich?« Und so geht's eine ganze halbe Stunde fort.

Der dortige Chef der Kosaken, Hauptmann Buxhöwden, kannte seine Leute, und wir hatten dementsprechend unsere Maßregeln getroffen. In Tschita und Irkutsk hatten wir uns oft mit theatralischen Aufführungen vergnügt und zumeist Stücke von Ostrowsky dargestellt, deren Stoffe fast durchweg dem Leben des Kaufmannsstandes entnommen sind. Ich spielte in solchen Stücken mehrmals mit und fand an der schauspielerischen Tätigkeit solches Gefallen, daß ich sogar einmal an meinen Bruder einen begeisterten Brief schrieb, in dem ich ihm meinen leidenschaftlichen Wunsch gestand, die militärische Laufbahn aufzugeben und zur Bühne zu gehen. Meist stellte ich junge Kaufleute dar und hatte ihre Art zu reden und sich zu bewegen und aus der Untertasse Tee zu trinken – die ich damals bei meinen Nikolskojer volkswirtschaftlichen Studien kennen zu lernen, gute Gelegenheit gehabt hatte – so ziemlich heraus. Jetzt konnte ich diese meine Fertigkeit zu einem guten Zwecke verwerten.

»Nehmen Sie Platz, Peter Alexejewitsch,« sagte Hauptmann Buxhöwden zu mir, wenn der kochende Teekessel Dampfwolken aussendend, auf dem Tische stand.

»Danke ergebenst, wir wollen hier bleiben,« erwiderte ich, setzte mich in gehöriger Entfernung auf eine Stuhlecke und fing an, meinen Tee in der unverfälschten Art eines Moskauer Kaufmanns zu schlürfen, während Buxhöwden fast bersten wollte vor Lachen, wenn ich ›mit stieren Augen‹ auf meine Untertasse blies und in ganz besonderer Weise mikroskopische Stückchen von einem kleinen Zuckerwürfel abbiß, der für ein halbes Dutzend Tassen reichen sollte.

Wir wußten, daß die Kosaken bald die Wahrheit betreffs meiner Person herausbringen würden, aber es war von Wichtigkeit, ein paar Tage zu gewinnen, damit ich noch unerkannt die Grenze überschreiten konnte. Ich muß meine Rolle nicht übel gespielt haben, denn die Kosaken behandelten mich wie einen kleinen Kaufmann. In einem Dorfe winkte mir, als ich vorüberging, eine alte Frau und fragte mich: »Kommen noch mehr Leute hinter Ihnen auf der Straße, mein Lieber?«

»Niemand, Großmutter, soviel ich weiß.«

»Es heißt, ein Fürst, Rapotsky, wird kommen. Kommt er?«

»Ach, so; Ihr habt recht, Großmutter; Seine Hoheit wollten auch von Irkutsk kommen. Aber wie können sie? So eine Reise! Paßt nicht für Sr. Gnaden. So sind Sr. Gnaden geblieben, wo sie gewesen sind.«

»Freilich, freilich, wie kann er?«

Kurz, wir kamen ohne Schwierigkeit über die Grenze, wir waren elf Kosaken, ein Tunguse und ich selbst, alle zu Pferde, wir führten vierzig Pferde zum Verkaufen mit, sowie zwei Karren, von denen einer, ein zweiräderiger, mir gehörte und das Tuch, den Falbel und anderes, was ich in meiner Eigenschaft als Kaufmann mitgenommen hatte, enthielt. Ich besorgte meine Pferde selbst und sah nach meinem Karren. Den einen Kosaken hatten wir zum ›Ältesten‹ der Karawane bestimmt, und als solcher hatte er allein mit den chinesischen Behörden zu verkehren. Alle Kosaken sprachen mongolisch, und der Tunguse verstand mandschurisch. Natürlich wußte jeder von den elf Kosaken, wer ich war – einer von ihnen kannte mich von Irkutsk her – aber keiner verriet mich, da sie wohl begriffen, daß der Erfolg des Unternehmens davon abhing. Ich trug wie alle andern ein langes blaues baumwollenes Gewand, und die Chinesen schenkten mir keine Beachtung, so daß ich unbemerkt die Kompaßaufnahmen machen konnte. Am ersten Tage, als noch alle möglichen chinesischen Soldaten in der Hoffnung auf ein Glas Branntwein sich an uns drängten, konnte ich oft nur einen verstohlenen Blick auf meinen Kompaß werfen und mußte die Höhe und Entfernungen in meiner Tasche hinkritzeln, ohne mein Papier herauszunehmen. Waffen führten wir gar nicht. Nur unser Tunguse, der auf Freiersfüßen ging, hatte seine Luntenschloßflinte mitgenommen und erlegte damit Damwild, dessen Fleisch wir verzehrten, während er die Pelze als Kaufpreis für seine Zukünftige behielt.

Als sie keinen Branntwein mehr bekamen, ließen uns die chinesischen Soldaten allein. Nun schlugen wir eine rein östliche Richtung ein, suchten uns einen Weg, so gut es ging, über Berg und Tal und stießen wirklich nach vier oder fünf Tagen auf die chinesische Straße, die uns über den Chingan nach Mergen führen sollte.

Zu unserem Erstaunen fanden wir, daß der große Höhenrücken, der sich auf unseren Karten so schwarz und schrecklich erhebt, sehr leicht zu überschreiten war. wir holten auf dem Wege einen alten, ganz erbärmlich aussehenden chinesischen Beamten ein, der in einem zweiräderigen Karren reiste. In den letzten zwei Tagen ging die Straße bergauf, und man erkannte auch aus der Beschaffenheit des Landes die beträchtliche Höhenlage. Der Boden wurde sumpfig und der Weg kotig; der Graswuchs war dürftig, und die Bäume zeigten einen dünnen, unentwickelten Wuchs und waren oft verkrüppelt und mit Flechten bedeckt. Waldlose Berge erhoben sich rechts und links, und schon malten wir uns aus, welche Mühsale uns die Übersteigung der Wasserscheide bereiten würde, als wir sahen, wie der alte chinesische Würdenträger vor einem ›Obo‹, das heißt, einem Haufen von Steinen und Baumzweigen, an denen Bündel von Pferdehaaren und kleine Stücke Stoff hingen, ausstieg. Er zog Haare aus der Mähne seines Pferdes und befestigte sie an den Zweigen. »Was ist das?« fragten wir. »Der Obo; das Wasser vor uns fließt jetzt zum Amur.« »Und der Chingan?« »Den haben wir nun hinter uns. vom Amur trennen uns keine Berge mehr, nur noch Hügel.«

Unserer Karawane bemächtigte sich eine beträchtliche Aufregung. »Die Flüsse gehen zum Amur, zum Amur!« rief einer dem andern zu. All ihre Lebtage hatten die alten Kosaken von dem großen Strome sprechen hören, wo die Weinrebe wild wächst, wo die Wiesen sich an hundert Meilen weit ausdehnen und Millionen von Menschen Reichtum geben könnten. Als dann der Amur von Rußland annektiert war, hörten sie von der langen Reise dahin, von den Schwierigkeiten für die ersten Ansiedler und von dem gedeihlichen Zustande, dessen sich ihre Verwandten am oberen Amur erfreuten, und nun hatten wir einen kurzen Weg dahin gefunden! Vor uns lag ein steiler Abfall, und im Zickzack führte die Straße hinunter zu einem kleinen Flusse, der sich durch ein wirres Meer von Bergen seinen Lauf bahnte und zum Amur floß. Kein Hindernis gab es mehr zwischen uns und dem großen Strome. Ein Reisender wird mein Entzücken bei dieser unerwarteten geographischen Entdeckung verstehen. Was die Kosaken betrifft, so sprangen sie eiligst ab und hängten auch ihrerseits Büschel von den Haaren ihrer Pferde an die auf den Obo geworfenen Zweige. Die Sibirier empfinden allgemein eine gewisse Scheu vor den Götzen der Heiden. Sie achten sie nicht sehr hoch, »aber,« sagen sie, »diese Götter sind bösartige Geschöpfe, die auf Unheil sinnen, und es tut nimmer gut, mit ihnen auf schlechtem Fuße zu stehen. Es ist weit vorteilhafter, durch kleine Ehrfurchtsbezeigungen ihre Gunst zu erkaufen.«

»Schau, hier ist ein sonderbarer Baum, das muß eine Eiche sein!« riefen sie, als wir den Abhang hinunterritten. Die Eiche gedeiht in Sibirien überhaupt nicht und findet sich erst am Ostabhang der großen Hochebene. »Sieh nur, Nußbäume!« rief der nächste. »Und was für ein Baum ist das?« sagten sie, wenn sie eine Linde oder andere in Sibirien nicht vorkommende Bäume sahen, die mir als zur mandschurischen Flora gehörig bekannt waren. Die Nordländer, die so lange von wärmeren Ländern geträumt hatten und sie nun vor sich sahen, waren entzückt. Sie warfen sich auf den mit üppigem Graswuchs bedeckten Boden und betrachteten ihn mit verliebten Blicken, am liebsten hätten sie ihn geküßt. Nun brannten sie vor Verlangen, den Amur so schnell wie möglich zu erreichen, und als wir vierzehn Tage später vier Meilen vom Flusse entfernt unser letztes Lagerfeuer anzündeten, ergriff sie eine kindliche Ungeduld. Bald nach Mitternacht fingen sie an, ihre Rosse zu satteln, lange vor der Morgendämmerung ließ ich auf ihren Wunsch aufbrechen, und als wir schließlich von einer Anhöhe den gewaltigen Strom zu Gesicht bekamen, da glänzten die Augen dieser sonst so gleichgültigen, poetischen Stimmungen wenig zugänglichen Sibirier beim Anblick der blauen Gewässer des majestätischen Amur von poetischem Feuer. Zweifellos kam es früher oder später mit oder ohne den Beistand der russischen Regierung, vielleicht sogar gegen ihren Wunsch, zu einer Besiedelung der jetzt so öden, aber einer reichen Entwicklung fähigen Landstrecken auf beiden Seiten des Flusses durch russische Ansiedler und stand dasselbe Los dem ungeheuren menschenleeren Gebiete der nördlichen Mandschurei bevor in der gleichen Weise, wie die Ufer des Mississippi von den kanadischen ›voyageurs‹ kolonisiert wurden.

Übrigens hatte uns, wie ich noch erwähnen muß, der halbblinde chinesische Beamte, mit dem wir den Chingan überschritten, nach Anlegung seines blauen Mantels und seines Würdenhutes mit einem Glasknopf an der Spitze am nächsten Morgen erklärt, er würde uns nicht weiter gehen lassen. Unser Ältester hatte ihn und seinen Gehilfen in unserm Zelte empfangen, und der Alte erhob gegen unsere Weiterreise alle möglichen Einwendungen, die ihm sein Begleiter zuflüsterte. Wir sollten an der Stelle bleiben, er werde unsern Paß nach Peking schicken, um weitere Befehle einzuholen, worauf wir uns aber in keinem Falle einlassen wollten. Dann nahm er wieder Anstoß an unserm Paß.

»Was ist das für ein Legitimationspapier?« sagte er, verächtlich auf unsern Paß blickend, der aus wenigen auf einen gewöhnlichen Bogen Papier in russischer und mongolischer Sprache geschriebenen Zeilen bestand und nur ein einfaches Siegel trug. »Das können Sie selbst geschrieben und mittels einer Kupfermünze untersiegelt haben,« bemerkte er. »Sehen Sie meinen Paß, der sieht doch nach etwas aus;« und dabei entrollte er vor unsern Augen ein zwei Fuß langes mit chinesischen Schriftzeichen bedecktes Papier.

Ich saß während dieser Konferenz ruhig daneben und packte etwas in meinen Koffer. Da fiel mir eine Nummer der ›Moskauer Zeitung‹ in die Hände. Dieses Blatt, Eigentum der Moskauer Universität, hatte am Kopfe der ersten Seite einen Adler ausgedruckt. »Zeige ihm dies,« sagte ich zu unserem Ältesten. Er entfaltete das mächtige Blatt und zeigte auf den Adler. »Den andern Paß haben wir zum Vorweisen,« sagte unser Ältester, »aber diesen haben wir für uns selbst.« »Wie, ist das alles über euch geschrieben?« fragte der Alte erschreckt. »Alles über uns,« erwiderte unser Ältester, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.

Der Chinese – eine echte Beamtenseele – schaute ganz betäubt auf solche Fülle von Schriftwerk. Er musterte uns alle, den Kopf schüttelnd. Aber sein Begleiter flüsterte ihm wieder ins Ohr, worauf er erklärte, er werde uns die Reise nicht fortsetzen lassen.

»Genug geredet,« sagte ich zum Ältesten, »gib den Befehl zum Aufsitzen.« Die Kosaken waren derselben Meinung, und im Augenblick brach unsere Karawane auf, doch versprachen wir dem alten Beamten noch, als wir uns von ihm verabschiedeten, wir würden in unserm Bericht erklären, er habe, abgesehen von der Anwendung von Gewalt, die unter den Umständen unmöglich war, alles getan, was in seiner Macht stand, uns vom Eindringen in die Mandschurei abzuhalten, und es sei nicht seine Schuld, wenn wir doch hineingekommen seien.

Wenige Tage darauf waren wir in Mergen, wo wir ein paar unbedeutende Handelsgeschäfte abschlosssen, und bald erreichten wir die chinesische Stadt Uigun auf dem rechten Ufer des Amur und auf dem linken die russische Stadt Blagowestschensk. Wir hatten den direkten Verbindungsweg und sonst noch manches Interessante entdeckt, wie den Randgebirgscharakter des Chingan, seine leichte Überschreitbarkeit, die Lage der tertiären Vulkane in der Gegend von Ujun Choldontsi, die in der geographischen Literatur so lange rätselhaft waren, und anderes. Daß ich mich als ein geriebener Handelsmann bewährt hätte, kann ich nicht behaupten, denn in Mergen forderte ich (in gebrochenem Chinesisch) für eine Uhr hartnäckig fünfunddreißig Rubel, als mir der chinesische Käufer schon fünfundvierzig geboten hatte; aber die Kosaken verstanden das Handeln um so besser. Sie verkauften alle ihre Pferde sehr gut, und als sie auch meine Pferde, meine Waren und alles übrige verhandelt hatten, stellte es sich heraus, daß das ganze Unternehmen die russische Regierung die bescheidene Summe von ganzen zweiundzwanzig Rubeln – fünfundvierzig Mark – gekostet hatte.

 

Diesen ganzen Sommer brachte ich mit Fahrten auf den Amur hin. Ich kam bis an seine Mündung oder vielmehr sein Ästuarium, bis Nikolajewsk, wo ich mit dem Generalgouverneur zusammentraf, in dessen Begleitung ich dann im Dampfer den Usuri hinauffuhr. Im Herbste machte ich aber eine noch interessantere Reise den Sungari hinauf, mitten in das Herz der Mandschurei, bis nach Girin oder – nach der südlichen Aussprache – Kirin.

Viele asiatischen Ströme entstehen durch die Vereinigung zweier gleich mächtigen Flüsse, so daß der Geograph in Verlegenheit gerät, welchen er als Hauptstrom und welchen als Nebenfluß ansehen soll. Ingoda und Onon bilden vereinigt die Schilka, aus der Vereinigung von Schilka und Argun entsteht der Amur, und Amur und Sungari zusammen bilden wieder den mächtigen Strom, der nach Nordosten fließt und in den unwirtlichen Breiten der tartarischen Straße sich in den Stillen Ozean ergießt.

Bis zum Jahre 1864 war der große mandschurische Strom, der Sungari, kaum bekannt. Das wenige, das wir von ihm wußten, stammte noch von den Jesuiten her. Jetzt, wo die Erforschung der Mongolei und Mandschurei von neuem in Angriff genommen werden sollte und sich die bis dahin in Rußland herrschende Furcht vor China als übertrieben herausstellte, drangen wir Jüngeren sämtlich in den Generalgouverneur, den Sungari erforschen zu lassen. Gerade vor den Toren der Amurprovinz ein ungeheures Gebiet zu haben, das kaum besser bekannt war als die afrikanische Wüste, erschien uns wie eine Herausforderung. Wirklich entschloß sich auch General Korsakow, einen Dampfer den Sungari hinaufgehen zu lassen und zwar unter dem Vorwand, er wolle dem Statthalter der Giriner Provinz eine Freundschaftsbotschaft senden. Ein russischer Konsul aus Urga sollte diese Botschaft überbringen. Ein Arzt, ein Astronom und meine Person, sämtlich unter dem Kommando des Obersten Tschernjiajew, wurden auf einem kleinen Dampfer, dem Usuri, der noch außerdem eine Barke voll Kohlen im Schlepptau führte, auf die Expedition ausgesandt. Es begleiteten uns auf unserer Fahrt noch fünfundzwanzig Soldaten, die ihre Gewehre sorgfältig in den Kohlen versteckt hatten.

Da die Vorbereitungen zu dem ganzen Unternehmen in größter Eile erfolgten, war der kleine Dampfer in keiner Weise für eine so zahlreiche Gesellschaft eingerichtet, aber wir waren alle voll Begeisterung und nisteten uns, so gut es eben ging, in den winzigen Kabinen ein. Freilich mußte einer von uns auf einem Tische schlafen, und es stellte sich nach der Abfahrt heraus, daß nicht einmal Messer und Gabeln für uns alle da waren, von andern Bedürfnissen nicht zu reden. Einer bediente sich daher beim Essen seines Federmessers, und mein chinesisches Messer mit zwei Stäbchen, das die Stelle einer Gabel vertrat, bildete eine willkommene Ergänzung unserer Ausstattung.

Die Fahrt den Sungari aufwärts war keine leichte Aufgabe. In seinem Unterlauf, wo er dasselbe Tiefland wie der Amur durchfließt, ist er sehr flach, und obwohl unser Dampfer nur drei Fuß Tiefgang hatte, reichte die Flußrinne nicht einmal hierfür aus. An manchen Tagen rückten wir nur acht Meilen vorwärts und strichen nicht selten mit dem Kiel über das sandige Flußbett, so daß wir immer wieder mit einem Ruderboot nach tieferen Stellen des Flußbettes suchen mußten. Aber unser junger Kapitän hatte sich fest vorgenommen, noch in diesem Herbst bis Girin zu kommen, und wir rückten diesem Ziele täglich näher, wenn auch nur um eine kleine Strecke. Je höher wir den Fluß hinaufkamen, desto schöner fanden wir seine Ufer und desto leichter wurde die Schiffahrt; und als wir erst die Sandwüsten bei seiner Vereinigung mit seinem Bruderfluß, dem Nonni, hinter uns hatten, wurde unsere Fahrt bequem und angenehm. In wenigen Wochen erreichten wir so die Hauptstadt jener mandschurischen Provinz. Die Topographen hatten während der Fahrt eine vorzügliche Karte vom Flusse aufgenommen. Da leider keine Zeit zu verlieren war, landeten wir selten in einem Dorfe oder einer Stadt. Es fanden sich nur wenige weit voneinander liegende Ortschaften an den Ufern. Denn im Unterlauf durchschneidet der Sungari, wie wir gesehen haben, Tiefland, das regelmäßigen Überschwemmungen ausgesetzt ist, und bei der weiteren Fahrt segelten wir etwa zwanzig Meilen weit zwischen Sanddünen dahin. Erst am Oberlauf und als wir Girin näher kamen, fanden wir eine dichte Bevölkerung.

Hätten wir das Ziel verfolgt, freundliche Beziehungen mit der Bevölkerung der Mandschurei anzuknüpfen, und nicht nur den Sungari zu erforschen, so hätte man unser Unternehmen für einen völligen Fehlschlag erklären können. Die mandschurischen Behörden hatten es noch frisch im Gedächtnis, wie acht Jahre früher Murawjews ›Besuch‹ zur Einverleibung des Amur und des Usuri führte, sie konnten daher nicht ohne Argwohn auf diese neuen und ungeladenen Gäste blicken. Die fünfundzwanzig unter den Kohlen versteckten Gewehre, deren Vorhandensein man den chinesischen Behörden vor unserer Abreise pflichtgemäß gemeldet hatte, erregte ihren Verdacht noch mehr, und als unser Dampfer vor der volkreichen Stadt Girin vor Anker ging, hatten sich, wie wir fanden, alle Kaufleute daselbst mit verrosteten Schwertern aus irgend einem Arsenal versehen. Man hinderte uns zwar nicht, die Straßen zu betreten, aber sobald wir landeten, wurden alle Läden geschlossen, und die Kaufleute durften uns nichts verkaufen. Lebensmittel wurden an Bord unseres Dampfers als Geschenk geschickt und keine Bezahlung dafür angenommen.

Der Herbst näherte sich schnell seinem Ende, schon hatte der Frost eingesetzt, und wir mußten eilends umkehren, da wir am Sungari nicht überwintern konnten. Kurz, wir bekamen wohl Girin zu sehen, sprachen aber mit niemand als den beiden Dolmetschern, die jeden Morgen zu uns an Bord kamen. Doch unser Zweck war erfüllt: wir hatten festgestellt, daß der Fluß schiffbar ist, und von seinem Laufe von der Mündung bis Girin eine vorzügliche Karte entworfen, die es uns ermöglichte, den Rückweg unter Volldampf glatt zurückzulegen. Nur einmal lief unser Fahrzeug auf eine Sandbank. Aber die Giriner Behörden, die vor allem unsere Überwinterung auf dem Flusse zu vermeiden wünschten, schickten zweihundert Chinesen, mit deren Hilfe wir bald wieder flott wurden. Als ich ins Wasser sprang, einen Stock ergriff und unser Flußlied ›Dubinuschka‹ anstimmte, nach dessen Weise alle taktgemäß auf einmal angreifen können, machte dies den Chinesen ungeheuren Spaß, und nach verschiedenen solchen Rucken war unser Dampfer wieder im Fahrwasser. Durch dieses unbedeutende Ereignis wurden die herzlichsten Beziehungen zwischen uns und den Chinesen hergestellt; ich meine natürlich die Masse der Bevölkerung, die den anmaßenden mandschurischen Beamten nichts weniger als geneigt zu sein schien.

Wir legten bei verschiedenen von Verbannten des himmlischen Reiches bewohnten Dörfern an und fanden die herzlichste Aufnahme. Insbesondere hat sich ein Abend meinem Gedächtnis eingeprägt, wir kamen, als es schon dunkel wurde, zu einem malerisch gelegenen Dorfe. Ein paar von uns gingen an Land, und ich wanderte allein durch den Ort. Eine dichte Schar von etwa hundert Chinesen sammelte sich um mich, und obgleich ich kein Wort von ihrer Sprache verstand, so wenig, wie sie von der meinen, so unterhielten wir uns doch höchst freundschaftlich durch Gebärden und Handbewegungen. Einem zum Zeichen der Freundschaft die Hand leicht auf die Schulter zu legen, ist sicher ein internationales Verständigungsmittel und sich gegenseitig Tabak anzubieten und ein Licht angeboten zu erhalten, sind ebenfalls internationale Ausdrucksweisen freundschaftlicher Gesinnung. Eines interessierte sie vor allem: warum hatte ich trotz meiner Jugend einen Bart, den sie erst mit sechzig trugen? Als ich ihnen aber durch Zeichen zu verstehen gab, daß ich ihn, wenn ich weiter nichts zu essen hätte, verzehrte, ging der Scherz von Mund zu Mund. Sie wieherten vor Lachen und wiederholten ihre Liebkosungen, indem sie mir die Hände auf die Schultern legten, noch häufiger. Sie führten mich herum und zeigten mir ihre Häuser; jeder bot mir seine Pfeife an, und der ganze Haufen gab mir ein freundschaftliches Geleite zum Dampfer. Ich muß bemerken, daß es in diesem Dorfe keinen einzigen Boschko (Polizisten) gab. Auch in anderen Dörfern wurden unsere Soldaten und ich selbst schnell gut Freund mit den Chinesen; sobald sich aber ein Boschko zeigte, war alles vorbei. Dafür hätte man auch die ›Gesichter‹ sehen sollen, die sie hinter dem Boschko zu schneiden pflegten. Offenbar haßten sie diese Vertreter der Obrigkeit.

Die Expedition ist seitdem in Vergessenheit geraten. Der Astronom Th. Usoltsew und ich haben darüber in den Mitteilungen der Sibirischen Geographischen Gesellschaft berichtet; aber ein paar Jahre später gingen bei einem furchtbaren Brande in Irkutsk alle noch vorhandenen Exemplare der Mitteilungen, sowie die Originalkarte des Sungari in Flammen auf, und erst im Jahre 1898, als die Arbeiten an der transmandschurischen Bahn begannen, gruben russische Geographen unsere Berichte wieder aus und ersahen aus ihnen, daß der große Fluß schon vor fünfundzwanzig Jahren durch unsere Expedition erforscht war.

 

Da die Zeit der Reformen vorüber war, versuchte ich wenigstens so viel zu tun, als unter den gegebenen Verhältnissen noch ausführbar schien, mußte mich aber bald von der völligen Nutzlosigkeit derartiger Bemühungen überzeugen. In meiner neuen Eigenschaft als Attaché des Generalgouverneurs für die Kosakenangelegenheiten untersuchte ich zum Beispiel aufs gründlichste die wirtschaftliche Lage der Usuri-Kosaken, deren Ernten jedes Jahr mißrieten, so daß sie die Regierung, um sie vor einer Hungersnot zu retten, jeden Winter füttern mußte. Als ich mit meinem Berichte vom Usuri eintraf, beglückwünschte man mich allerseits, Beförderung und besondere Anerkennung wurden mir zuteil. Alle von mir empfohlenen Maßregeln wurden gutgeheißen und spezielle Summen zur Unterstützung der Auswanderung wie zur Anschaffung von Vieh für die Bleibenden meinen Vorschlägen gemäß ausgeworfen. Aber die praktische Ausführung der Maßregeln legte man in die Hände eines alten Trunkenbolds, der das Geld vergeudete und die armen Kosaken dadurch zu guten Ackerbauern machen wollte, daß er sie unbarmherzig peitschen ließ. Und so ging es allenthalben, vom Winterpalast in Petersburg an bis zum Usuri und Kamtschatka.

Die sibirischen höheren Verwaltungsbehörden waren von den besten Absichten beseelt, und ich kann nur wiederholen, daß die dortige Verwaltung, alles in allem genommen, viel besser und aufgeklärter war und viel mehr die Wohlfahrt des Landes im Auge hatte als die Verwaltung irgend einer andern russischen Provinz. Aber es war eben doch eine Verwaltung, ein Zweig des in Petersburg wurzelnden Baumes, und das genügte völlig, die besten Absichten zu vereiteln und alle Regungen eines eigenen regionalen Lebens und Fortschritts lahmzulegen. Was von Persönlichkeiten des Bezirkes zum Besten des Landes in die Wege geleitet wurde, erregte Mißtrauen und stieß sofort auf zahlreiche unüberwindliche Schwierigkeiten, die nicht sowohl in dem bösen willen der maßgebenden Personen ihren Grund hatten, – die Personen sind meist besser als die Einrichtungen – sondern bloß darin, daß diese Personen einer pyramidenförmigen, zentralisierten Verwaltung angehörten. Gerade der Umstand, daß die sibirische Regierung ihre Quelle in einer fernen Hauptstadt hatte, veranlaßte sie, alles vom Gesichtspunkt eines Beamten anzusehen, der zuerst daran denkt, was seine Vorgesetzten sagen werden, und wie sich alles in die Verwaltungsmaschine einfügt, nicht aber an die Interessen des Landes.

Immer mehr wandte sich daher meine Tatkraft wissenschaftlicher Erforschung zu. 1865 richtete ich meine Aufmerksamkeit auf den westlichen Teil des Sajangebirges, wo ich einen neuen Einblick in den Aufbau des sibirischen Hochlands gewann und eine zweite ausgedehnte vulkanische Gegend an der chinesischen Grenze entdeckte. Das Jahr darauf unternahm ich zuletzt noch eine lange Reise, um eine direkte Verbindung zwischen den Goldminen der Provinz Jakutsk (am Vitim und an der Olokma) und Transbaikalien ausfindig zu machen, während der Jahre von 1860 bis 1864 hatten die Mitglieder der sibirischen Expedition eine solche Verbindung auffinden wollen und den Versuch gemacht, die verschiedenen äußerst wilden und steinigen, einander parallelen Höhenrücken, welche die Minen von Transbaikalien trennen, quer zu überschreiten. Als sie aber vom Süden her in diese Gegend kamen und die öden, anscheinend sich an hundert Meilen nordwärts erstreckenden Bergreihen vor sich sahen, kehrten sie außer einem um, und dieser eine wurde von den Eingeborenen getötet. Offenbar mußte die Expedition, um erfolgreich zu sein, die Richtung von Norden nach Süden einschlagen und so von der traurigen, unbekannten Öde zu wärmeren und bevölkerten Gegenden hinüberführen. Zufällig wurde mir auch während der Vorbereitungen für unsere Reise eine Karte gezeigt, die ein Eingeborener mit seinem Messer auf ein Stück Rinde gezeichnet hatte. Diese kleine Karte – nebenbei, ein glänzender Beweis von dem Nutzen, den der Sinn für Geometrie auch auf den tiefsten Stufen der Gesittung gewährt, – kam mir so überraschend naturähnlich vor, daß ich mich völlig darauf verließ und meine Reise nach ihren Angaben ins Werk setzte. Mit einem jungen vielversprechenden Naturforscher, Polakow, und einem Topographen ging ich zuerst die Lena hinunter zu den nördlichen Goldminen. Hier rüsteten wir die Expedition aus, indem wir uns mit Vorräten auf drei Monate versahen, und brachen dann nach Süden auf. Ein alter jakutischer Jäger, der einmal vor zwanzig Jahren den auf der tungusischen Karte verzeichneten Weg zurückgelegt hatte, übernahm unsere Führung durch das volle fünfzig Meilen breite Bergland längs den Flußtälern und Schluchten, wie sie das Messer des Tungusen in die Birkenrinde geschnitten hatte. Und er führte uns wirklich glücklich hinüber, obwohl es keinen Pfad gab, dem man folgen konnte, und alle die zahlreichen, sämtlich mit Wald bestandenen Täler, in die man von der Höhe eines Bergpasses schaute, dem ungeübten Auge völlig gleich erschienen.

Diesmal also wurde der Weg gefunden. Nachdem wir drei Monate lang in den fast unbewohnten Bergwüsten und über sumpfige Hochebenen gewandert waren, erreichten wir endlich unser Ziel, Tschita. Wie ich höre, ist dieser Weg jetzt von Nutzen, indem man auf ihm Vieh von Süden nach den Goldminen transportiert. Für mich persönlich war die Reise insofern von größtem Werte, weil sie mich allein später befähigt hat, den Schlüssel zu dem geographischen Aufbau der sibirischen Gebirge und Hochebenen zu finden – doch dies Buch will keine ausführlichen Reisebeschreibungen bieten, und so muß ich abbrechen.

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