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Zehntes Kapitel.

Lagerleben in Peterhof. – Militärische Uebungen in Gegenwart des Kaisers. – Praktischer Unterricht. – Ausbreitung revolutionärer Ideen. – Aufhebung der Leibeigenschaft. – Bedeutung und Folgen dieser Aufhebung.

 

Jeden Sommer bezogen wir, zusammen mit den übrigen Militärschulen des Petersburger Bezirkes, bei Peterhof ein Feldlager. Im ganzen führten wir dort ein recht angenehmes Leben, und auf alle Fälle war es für unsere Gesundheit sehr zuträglich. Wir schliefen in geräumigen Zelten, badeten uns im Meere und verbrachten unsere Zeit während der sechs Wochen zum großen Teil mit Übungen in freier Luft.

Der Hauptzweck des Lagerlebens bestand offenbar in dem militärischen Drill, der uns allen sehr zuwider war, dessen Öde aber hin und wieder durch unsere Teilnahme an Manövern gemildert wurde. Eines Abends, als wir gerade zur Ruhe gehen wollten, ließ Alexander II. Alarm blasen, was natürlich das ganze Lager in Aufregung brachte. In wenigen Minuten war alles auf den Beinen, ein paar tausend Knaben sammelten sich um ihre Fahnen, und die Kanonen der Artillerieschule donnerten durch die Stille der Nacht. Was von Offizieren in Peterhof war, kam nach dem Lager geritten, nur der Kaiser blieb infolge eines Mißverständnisses zu Fuß. Ordonnanzen sprengten nach allen Richtungen, ein Pferd für ihn herbeizuschaffen, fanden aber keins, und da er kein guter Reiter war, wollte er auch kein anderes als eins von seinen Pferden reiten. Er war sehr ärgerlich und machte seiner Stimmung rücksichtslos Luft. »Dummkopf, hab' ich denn nur ein Pferd?« hörte ich ihn einer Ordonnanz zurufen, die ihm meldete, sein Pferd wäre in einem andern Lager.

Durch das Dunkel der Nacht, das Dröhnen der Kanonen und das Rasseln der Kavallerie wuchs die Aufregung bei uns Knaben immer mehr, und als Alexander einen Angriff befahl, marschierte unsere Kolonne gerade auf ihn los. Dicht gedrängt in Reih und Glied mit gefälltem Bajonett vorgehend, müssen wir einen gefährlichen Anblick gewährt haben, und ich sah, wie der Kaiser, der immer noch nicht beritten war, mit drei mächtigen Sätzen der Kolonne Platz machte. Da wurde mir klar, was es heißen will, wenn eine Kolonne in gedrängten Reihen unter der aufregenden Wirkung der Musik und des Marsches selbst vorwärts rückt. Dort stand vor uns der Kaiser, unser Kommandierender, den wir alle verehrten; aber ich hatte das Gefühl, daß in dieser in Bewegung befindlichen Masse nicht ein Page oder Kadett um seinetwillen einen Zoll beiseite gewichen wäre oder Halt gemacht hätte. Wir waren die vorwärts marschierende Kolonne, er war nur ein Hindernis, und die Kolonne wäre darüber hinwegmarschiert. »Warum stand er uns im Wege?« sagten die Pagen nachher. In solchen Fällen sind Knaben mit dem Gewehr in der Hand noch furchtbarer als alte Soldaten.

Als wir im folgenden Jahre an den großen Manövern der Petersburger Garnison teilnahmen, konnte ich ein wenig hinter die Kulissen des Kriegführens blicken. Zwei Tage hintereinander war unsere einzige Beschäftigung, auf einem Raume von vier Meilen hin und her zu marschieren, ohne die geringste Ahnung davon zu haben, was um uns her vorging, oder zu welchem Zwecke wir diesen oder jenen Marsch machten. Bald donnerten die Kanonen nahe bei uns, bald in weiter Ferne; irgendwo auf den Höhen oder im Walde knatterte scharfes Gewehrfeuer; Ordonnanzen sprengten ab und zu und brachten bald den Befehl zum Vorrücken und bald wieder zum Rückzug; und wir marschierten, marschierten wieder, marschierten unaufhörlich und konnten in all diesen Bewegungen und Gegenbewegungen keinen Sinn sehen. Kavalleriemassen hatten sich auf derselben Straße bewegt, so daß sie ein tiefes, loses Sandbett darstellte, und dieses mußten wir mehrmals vorwärts und wieder rückwärts durchwaten, bis am Ende unser Zug jede Fessel der Disziplin durchbrach und mehr einer zusammenhanglosen Menge von Wanderern glich als einer militärischen Einheit. Nur die Fahnengarde blieb auf dem Wege, alle übrigen schlichen langsam neben dem Wege im Gehölz dahin. Alles Befehlen und Bitten der Offiziere war umsonst.

Plötzlich erscholl von hinten der Ruf: »Der Kaiser kommt! Der Kaiser!« Die Offiziere rannten hin und her und baten uns, die Reihen zu schließen; niemand hörte auf sie.

Der Kaiser kam und gab aufs neue den Befehl zu einem Rückzug.

»Marsch!« erging das Kommando. »Der Kaiser ist hinter uns, wenden Sie, bitte, um,« riefen uns die Offiziere leise zu, aber das Bataillon achtete kaum auf den Befehl und verhielt sich gegen die Anwesenheit des Kaisers völlig gleichgültig. Glücklicherweise war Alexander II. kein fanatischer Soldat, und nachdem er uns ein paar aufmunternde Worte zugerufen und baldiges Ausruhen versprochen hatte, galoppierte er fort.

Da begriff ich, wieviel im Kriege von der Stimmung der Truppen abhängt, und wie wenig es mit der Disziplin allein getan ist, wenn den Soldaten eine außerordentliche Leistung zugemutet wird. Was vermag die Disziplin, wenn ermüdete Truppen eine letzte, äußerste Anstrengung machen sollen, um das Schlachtfeld zu bestimmter Stunde zu erreichen! Sie ist völlig ohnmächtig; Begeisterung und Vertrauen allein sind in solchen Momenten imstande, die Soldaten zur Leistung des ›Unmöglichen‹ zu vermögen, und eben nur durch beständige Ausführung des scheinbar Unmöglichen kann der Erfolg gesichert werden. Wie oft kam mir diese praktische Erfahrung in den Sinn, als es später auf unseren wissenschaftlichen Expeditionen in Sibirien gleichfalls galt, das ›Unmögliche‹ zu vollbringen.

 

Immerhin widmeten wir unsere Zeit während unseres Aufenthalts im Lager nur zu einem verhältnismäßig geringen Teile dem militärischen Drill und den Manövern. Zum guten Teil verwandten wir sie auf praktische Übungen im Feldmessen und im Errichten von Befestigungen. Nach einigen vorbereitenden Übungen erhielt einer von uns einen Spiegelkompaß mit der Weisung: »Gehen Sie und machen einen Plan (z. B.) von diesem See oder von jenen Straßen oder von jenem Park; die Winkel sind mit dem Kompaß zu messen und die Entfernungen abzuschreiten.« Früh am Morgen steckte sich der betreffende Page oder Kadett nach einem hastigen Frühstück ein tüchtiges Stück Roggenbrot in seine weiten Taschen, ging vier oder fünf Stunden weit weg in die Parkanlagen und nahm dabei mittels des Kompasses und durch Abschreiten die schönen schattigen Wege, die Bäche und die Seen auf. Nachher wurde seine Arbeit mit genauen Plänen verglichen und ihm bei guter Leistung nach seiner Wahl ein optisches oder geometrisches Instrument als Preis verliehen. Für mich waren diese Aufnahmen eine Quelle großen Vergnügens. Die Selbständigkeit des Arbeitens, das Alleinsein unter den Jahrhunderte alten Bäumen, der ungestörte, genußreiche Aufenthalt im Walde, wie das Interesse an der Arbeit selbst regten mich mächtig an und hinterließen einen tiefen Eindruck. Als ich dann ein sibirischer Forscher wurde und verschiedene von meinen Kameraden Forschungsreisen in Zentralasien unternahmen, zeigte es sich, daß diese Feldmeßübungen eine vorzügliche Vorbereitung gewesen waren.

Als wir schließlich in der letzten Klasse waren, wurden wir in Abteilungen von vier Schülern jeden zweiten Tag in verschiedene vom Lager weitab liegende Dörfer geführt, wo wir mit Hülfe des Meßtisches und des Teleskops detaillierte Aufnahmen von größeren Landstrecken zu machen hatten, von Zeit zu Zeit ließen sich Generalstabsoffiziere sehen, die an unserer Arbeit Verbesserungen vornahmen und uns Anweisungen gaben. Das Leben unter der Dorfbevölkerung übte den besten Einfluß auf unsere geistige und sittliche Entwicklung aus.

Außerdem hatten wir uns auch in der Konstruktion von Befestigungsprofilen in natürlicher Größe praktisch zu üben. Unter Leitung eines Offiziers mußten wir auf freiem Felde eine Bastion im Querschnitt herstellen oder auch einen komplizierten Brückenkopf, wobei wir Latten und Pfähle zusammennagelten, genau wie es die Ingenieure beim Trassieren einer Eisenbahn machen. Wenn es dann an die Stückpforten und Geschützbänke ging, gab es viel zu berechnen, um die Neigungen der verschiedenen Ebenen richtig herauszubekommen, und nach solchen Übungen bereitete die Flächengeometrie unserm Verständnis keine Schwierigkeiten mehr.

Derartige Arbeiten gewährten uns das größte Vergnügen, und als wir einmal in der Stadt in unserem Garten einen Haufen Lehm und Kies fanden, fingen wir an, eine wirkliche Befestigung in verkleinertem Maßstabe zu bauen mit richtig berechneten geraden und geneigten Stückpforten und Geschützbänken. Alles war hübsch ausgeführt, und unser eifrigstes Bestreben ging nun dahin, Bretter zu Plattformen für die Kanonen zu bekommen und die Kanonenmodelle aus unsern Klassenzimmern daraufzustellen. Aber entsetzlich! Unsere Hosen sahen nun nichts weniger als parademäßig aus! »Was treiben Sie da?« schrie unser Hauptmann. »Sehen Sie sich mal an! Sie sehen aus wie Erdarbeiter« (darauf waren wir ja gerade stolz). »Wenn der Großfürst kommt und Sie in solchem Zustande sieht!«

»Wir wollen ihm unsere Befestigung zeigen und um Gerätschaften und Bretter zur Herstellung der Plattformen bitten.«

Alle Proteste waren umsonst. Ein Dutzend Arbeiter mußten am nächsten Tage unsern schönen Bau wegkarren, als wenn es ein bloßer Schmutzhaufen wäre!

Ich erwähne dies, um zu zeigen, wie sehr es Kinder und junge Leute nach praktischer Anwendung des in der Schule erworbenen abstrakten Wissens verlangt, und wie töricht die Jugendbildner sind, die nicht einzusehen vermögen, welch mächtiges Hilfsmittel ihnen nach dieser Richtung zu Gebote steht, um ihren Schülern das wahre Verständnis des Gelehrten beizubringen. In unserer Schule zielte alles darauf ab, uns zur Kriegsführung tüchtig zu machen; wir würden aber mit derselben Begeisterung an das Trassieren einer Eisenbahn, das Erbauen eines Blockhauses oder das Bestellen eines Feldes oder Gartens gegangen sein. Aber all dieser Drang unserer Jugend nach wirklicher Arbeit ist umsonst und das nur, weil sich unsere Auffassung von der Aufgabe und der Methode der Schule noch immer nicht von den mittelalterlichen Anschauungen der Scholastik und des Klosters freigemacht hat.

 

Der Zeitraum von 1857 bis 1861 war für Rußland eine Periode reicher Entwicklung der geistigen Kräfte. Alles, was im letzten Jahrzehnt die in der russischen Literatur durch Turgenjew, Tolstoi, Herzen, Bakunin, Ogarjow, Kawelin, Dostojewski, Grigorowitsch, Ostrowski und Nekrasow vertretene Generation nur heimlich im vertrauten Freundeskreise hatte laut werden lassen, fing nun an, allmählich in die Presse zu dringen. Noch wurde die Zensur rücksichtslos geübt, aber was sich nicht offen in politischen Artikeln sagen ließ, das schmuggelte man unter der Hülle einer Novelle, einer humoristischen Skizze oder durchsichtiger Kommentare über westeuropäische Begebenheiten ein, und jeder las zwischen den Zeilen und verstand den wahren Sinn.

Da ich, von der Schule und einem engen Kreise von Verwandten abgesehen, keine Bekannten in Petersburg hatte, stand ich insofern eigentlich außerhalb der radikalen Bewegung jener Jahre, oder vielmehr meilenweit davon. Und dennoch, gerade das war das Bezeichnendste dieser Bewegung, daß sie sogar in eine so ›gutgesinnte‹ Schule, wie es unser Korps war, eindringen und in einem Kreise, wie ihn meine Petersburger Verwandten darstellten, ein Echo finden konnte.

Zu jener Zeit pflegte ich meine Sonntage und Feiertage im Hause meiner Tante zuzubringen, die ich in einem früheren Kapitel unter dem Namen einer Fürstin Mirski erwähnt habe. Der Fürst Mirski interessierte sich nur für gastronomische Genüsse, während seine Frau und seine junge Tochter ein sehr heiteres Leben führten. Meine Cousine war ein schönes, höchst liebenswürdiges Mädchen von neunzehn Jahren, und fast alle ihre Vettern waren sterblich in sie verliebt. Auch sie verliebte sich in einen von ihnen und hätte ihn gern geheiratet. Nach den Lehren der russischen Kirche ist es aber eine große Sünde, einen Vetter zu heiraten, und vergeblich versuchte die alte Fürstin von hohen geistigen Würdenträgern einen Dispens zu erhalten. Nun brachte sie ihre Tochter nach Petersburg, in der Hoffnung, sie würde sich aus der großen Zahl ihrer Bewunderer einen passenderen Gatten als den eigenen Vetter wählen. Es war übrigens verlorene Liebesmüh, aber in ihrem eleganten Salon drängten sich die vornehmsten Gardeoffiziere und jungen Diplomaten.

In einem solchen Hause hätte man am wenigsten revolutionäre Ideen gesucht, und doch lernte ich dort zuerst die damalige revolutionäre Literatur kennen. Der große Flüchtling Herzen hatte soeben in London seinen ›Polarstern‹ herauszugeben begonnen, der Rußland bis in die Palastkreise hinein in Erregung versetzte und insgeheim in Petersburg eine weite Verbreitung fand. Irgendwie verschaffte sich meine Cousine die Zeitschrift, die wir dann zusammen zu lesen pflegten. Ihr Herz empörte sich gegen die Hindernisse, die sich vor ihrem Glücke auftürmten, und um so empfänglicher war sie für die scharfe Kritik, die der große Autor gegen die russische Autokratie und das ganze verrottete System der Mißregierung richtete. Fast anbetend schaute ich auf das dem Umschlag des ›Polarsterns‹ aufgedruckte Medaillon, das die edlen Züge der fünf ›Dezembristen‹ aufwies, die Nikolaus I. nach der Empörung vom 14. Dezember 1825 hatte hängen lassen – Bestuschew, Kachowsky, Pestel, Rylejew und Murawjew-Apostol.

Der schöne Stil Herzens, von dem Turgenjew mit Recht sagte, er schreibe in Tränen und Blut und kein anderer Russe habe je geschrieben wie er, die Weite seiner Ideen und seine heiße Liebe zu Rußland ergriffen mich ganz, und immer wieder las ich diese noch mehr das Herz als den Verstand befriedigenden Seiten.

 

Im Jahre 1859 oder im Anfang des folgenden Jahres fing ich an, meine erste revolutionäre Zeitschrift herauszugeben. Was konnte ich damals bei meiner Jugend anderes sein als ein Konstitutioneller? So erklärte ich mich in meiner Zeitschrift für die Notwendigkeit einer russischen Konstitution. Ich schrieb über die unsinnige Verschwendung bei Hofe, über die Summen Geldes, die es kostete, in Nizza der Kaiserin-Witwe, die dann 1860 starb, ein ganzes Schiffsgeschwader zur Verfügung zu stellen. Ferner erwähnte ich die Vergehungen der Beamten, von denen ich beständig reden hörte, und betonte nachdrücklich die Notwendigkeit einer konstitutionellen Regierung. Ich machte drei Abschriften von meiner Zeitung und steckte sie heimlich in die Pulte dreier Kameraden aus höheren Klassen, von denen ich annahm, daß sie sich für öffentliche Angelegenheiten interessierten. Ich bat meine Leser, ihre schriftlichen Mitteilungen hinter der schottischen Uhr in unserem Bibliothekszimmer niederzulegen.

Mit klopfendem Herzen ging ich am nächsten Tage, um nachzusehen, ob sich etwas für mich hinter der Uhr befände. Wirklich lagen zwei Papiere da. Zwei Kameraden schrieben mir, sie wären mit meinen Ansichten völlig einverstanden und rieten mir nur, nicht zu viel zu wagen. Ich verfaßte meine zweite Nummer, in der ich noch eindringlicher auf die Notwendigkeit hinwies, im Namen der Freiheit alle Kräfte zu sammeln. Doch diesmal fand sich keine Zuschrift hinter der Uhr; statt dessen kamen die beiden Kameraden selbst zu mir.

»Wir zweifeln nicht daran,« sagten sie, »daß Sie der Verfasser der Zeitung sind, und wollen mit Ihnen darüber reden. Wir sind mit Ihnen völlig einer Meinung und sind gekommen, Ihnen zu sagen: ›Laßt uns Freunde sein!‹ Ihre Zeitung hat ihren Zweck erfüllt, sie hat uns zusammengebracht, aber sie fortzusetzen ist unnötig. In der ganzen Schule finden sich außer uns nur noch zwei, die für derartige Bestrebungen Sinn haben, während andrerseits die Entdeckung einer solchen Zeitung für uns alle schreckliche Folgen haben würde. Wir wollen einen Kreis bilden und alles zusammen besprechen; vielleicht können wir auch noch ein paar andere für uns gewinnen.«

Das war so vernünftig, daß ich nur zustimmen konnte, und wir besiegelten unsern Bund mit einem herzlichen Händedruck, von dieser Zeit an wurden wir treue Freunde, lasen viel gemeinschaftlich und sprachen über alles mögliche.

 

Die Frage, die damals alle denkenden Köpfe vornehmlich beschäftigte, war die Aufhebung der Leibeigenschaft.

Schon die Bewegung des Jahres 1848 hatte einen schwachen Widerhall im Herzen der russischen Bauern gefunden, und von dem Jahre 1850 an wurden die Aufstände unbotmäßiger Leibeigener immer bedenklicher. Als seit dem Ausbruch des Krimkrieges in ganz Rußland Aushebungen stattfanden, breitete sich der Aufruhr mit bis dahin unerhörter Heftigkeit aus. Mehrfach wurden die Grundherren von ihren Leibeigenen getötet, und die Bauernaufstände nahmen einen so ernstlichen Charakter an, daß man ganze Regimenter mit Artillerie zu ihrer Unterdrückung ausrücken lassen mußte, während früher kleine Truppenabteilungen genügt hatten, die Bauern zum Gehorsam zurückzubringen.

Diese Aufstände auf der einen Seite und andrerseits die tiefe Abneigung gegen die Leibeigenschaft innerhalb der Generation, die mit der Thronbesteigung Alexanders II. in den Vordergrund trat, machten die Freigebung der Bauern zu einer immer gebieterischeren Notwendigkeit. Der Kaiser, der selbst der Leibeigenschaft abgeneigt war und von Angehörigen seiner eigenen Familie, von seiner Frau, seinem Bruder Konstantin und der Großfürstin Helene Pawlowna, in dieser Beziehung unterstützt oder vielmehr beeinflußt wurde, unternahm die ersten Schritte in dieser Richtung. Seine Absicht war, es sollte die Initiative zu dieser Reform von dem Adel, den Grundherrn selbst, ausgehen. Aber in keiner russischen Provinz ließ sich der Adel bewegen, zu jenem Zwecke eine Petition an den Zaren zu senden. Im März 1856 richtete er selbst an den Moskauer Adel eine Ansprache, in der er einen solchen Schritt als notwendig erklärte, aber auf diese Rede antwortete man nur mit hartnäckigem Stillschweigen, so daß Alexander II. voll Zorn mit Herzens denkwürdigen Worten schloß: »Es ist besser, meine Herren, es kommt von oben, als daß man wartet, bis es von unten kommt.« Selbst diese Worte hatten keinen Erfolg, und man mußte seine Zuflucht zu den altpolnischen Provinzen Grodno, Wilna und Kowno nehmen, wo Napoleon I. 1812 die Leibeigenschaft (auf dem Papier) aufgehoben hatte. Dem Gouverneur dieser Provinzen, Nasimow, gelang es, vom polnischen Adel die gewünschte Adresse zu erhalten. Im November 1857 wurde das berühmte ›Reskript‹ an den Gouverneur der litauischen Provinzen erlassen, worin des Kaisers Absicht, die Leibeigenen freizumachen, angekündigt wurde, und mit Tränen in den Augen lasen wir Herzens schönen Artikel ›Du hast gesiegt, Galiläer‹, in dem die Londoner Flüchtlinge erklärten, sie würden Alexander II. nicht mehr als Feind betrachten, sondern ihn in dem großen Werke der Befreiung unterstützen.

Sehr beachtenswert war die Haltung der Bauern. Kaum hatte sich die Nachricht verbreitet, die lange mit Seufzen ersehnte Befreiung sei nahe, so hörten die Aufstände fast völlig auf. Nun warteten sie, und auf einer Reise, die Alexander damals in Mittelrußland machte, sammelten sich, als er durchkam, die Bauern in großer Zahl und flehten ihn an, ihnen die Freiheit zu gewähren, eine Petition, die er jedoch mit großem Widerstreben entgegennahm. Es ist sehr merkwürdig – so groß ist die Kraft der Tradition –, daß unter den Bauern das Gerücht ging, Napoleon III. hätte dem Zaren beim Friedensschluß die Bedingung auferlegt, er müsse die Leibeigenen frei geben. Oft kam mir dies Gerücht zu Ohren, und noch kurz vor der Befreiung erschien es den Bauern zweifelhaft, ob sie ohne Druck von außen wirklich eintreten würde. »Wenn Garibaldi nicht kommt, wird nichts daraus,« sagte ein Bauer in Petersburg zu einem meiner Kameraden, der mit ihm über ›die kommende Freiheit‹ sprach.

Aber auf diese Momente allgemeiner Freude folgten Jahre der Ungewißheit und Unruhe. In den Provinzen wie in Petersburg berieten Spezialkomitees über die vorgeschlagene Befreiung der Leibeigenen, doch Alexander II. schien sich nicht entschließen zu können. Auf die Presse wurde beständig ein Druck ausgeübt, und eine eingehende Besprechung der Frage war verboten. Düstere Gerüchte liefen in Petersburg um und erreichten auch unser Korps.

Zahlreich waren die jüngeren Vertreter des Adels, die mit Ernst für eine rückhaltlose Aufhebung des alten Joches eintraten, aber die an der Leibeigenschaft festhaltende Partei schloß sich immer enger um den Kaiser und gewann Einfluß auf ihn. Nach ihren Einflüsterungen mußte man erwarten, daß die Aufhebung der Leibeigenschaft für die Bauern das Signal zum Massenmorde ihrer Grundherren bilden, und Rußland eine neue Auflage des Pugatschowschen Aufstandes erleben würde in noch viel schrecklicherer Weise als 1773. Der weichmütige Alexander lieh solchen Prophezeiungen nur zu bereitwillig sein Ohr. Aber schon war der gewaltige Apparat zur Ausarbeitung eines Befreiungsgesetzes in Bewegung gesetzt worden. Die Ausschüsse hielten ihre Sitzungen ab. Dutzende von Entwürfen zur Verwirklichung des Befreiungsplanes, die sich an die Adresse des Kaisers richteten, waren handschriftlich in Umlauf oder wurden in London gedruckt. Die verschiedenen Pläne wurden von Herzen, den sein Mitarbeiter Turgenjew über alle Vorgänge in Regierungskreisen auf dem laufenden erhielt, in seiner ›Glocke‹ und seinem ›Polarstern‹ bis ins einzelne besprochen und ebenso von Tschernischewsky in seinem ›Zeitgenossen‹. Die Panslawisten, insbesondere Aksakow und Beljajew, hatten die ersten Momente der verhältnismäßigen Freiheit, die man der Presse gewährte, dazu benutzt, dem Gegenstande in Rußland eine weite Publizität zu geben und mit gründlichem Verständnis für die technische Seite der Frage die Befreiung in ihren Details zu besprechen. Die gesamte Petersburger Intelligenz war mit Herzen und noch mehr mit Tschernischewsky einig, und ich erinnere mich, wie die Garde-Kavallerie-Offiziere, die ich Sonntags nach der Kirchenparade im Hause meines Vetters (Dimitri Nikolajewitsch Krapotkins, des Regimentsadjutanten und Adjutanten des Kaisers) sah, sich für Tschernischewsky, den Führer der Fortschrittspartei im Befreiungskampfe, zu erklären pflegten. Die ganze Stellungnahme der Hauptstadt, im Salon wie auf der Straße, war derart, daß ein Zurückweichen nicht möglich war. Die Befreiung der Leibeigenen mußte durchgeführt werden, und dazu war noch ein zweiter wichtiger Punkt gewonnen: Die freigegebenen Bauern sollten außer ihren Heimstätten das Land, das sie bisher bestellt hatten, zu eigen erhalten.

Trotzdem gab der alte Adel den Kampf nicht auf. Seine Anstrengungen konzentrierten sich jetzt darauf, einen Aufschub der Reform zu erlangen, den Umfang der Landlose geringer zu machen und den freigegebenen Bauern für das Land einen so hohen Ablösungspreis aufzuerlegen, daß ihre wirtschaftliche Freiheit illusorisch wurde, und dies gelang nur zu gut. Alexander II. entließ den, der in Wahrheit die Seele des Unternehmens war, Nikolaus Miljutin, den Bruder des Kriegsministers, mit den Worten: »Ungern trenne ich mich von Ihnen, aber es muß sein, der Adel stellt Sie als einen von den Roten hin.« Die ersten Ausschüsse, die den Plan der Aufhebung ausgearbeitet hatten, wurden ebenfalls entlassen, und neue Ausschüsse arbeiteten den ganzen Plan im Interesse der Grundbesitzer um, während die Presse von neuem geknebelt wurde.

Die Aussichten wurden immer trüber, und man fragte sich, ob es überhaupt noch zur Befreiung kommen würde. Was mich betrifft, so folgte ich dem Kampfe mit fieberhafter Spannung, und jeden Sonntag befragte ich meine Kameraden, wenn sie von Hause zur Schule zurückkehrten, eifrig, was ihre Eltern gesagt hätten. Mit dem Ausgang des Jahres 1860 wurden die Nachrichten immer schlechter. »Die Walujew-Partei hat die Oberhand gewonnen.« »Der ganze Plan soll wieder umgearbeitet werden.« »Die Verwandten der Fürstin X. (einer Freundin des Zaren) bieten ihren ganzen Einfluß auf.« »Die Befreiung wird aufgeschoben; man befürchtet eine Empörung.«

Im Januar 1861 gingen wieder etwas bessere Gerüchte um, und allgemein hoffte man, am Tage der Thronbesteigung des Kaisers, am 19. Februar, würde eine auf die Befreiung bezügliche Kundgebung erfolgen.

Der 19. kam, und es geschah nichts. An diesem Tage war ich im Palast. Es fand vormittags nur in kleinem Kreise Morgenempfang statt, und zu solchen Empfängen wurden auch Pagen der zweiten Klasse, um das Hofzeremoniell kennen zu lernen, befohlen. Damals war ich gerade an der Reihe. Als ich einer Großfürstin, die zum Palast gekommen war, um der Messe beizuwohnen, zur Tür folgte, war ihr Gatte nicht da, und ich ging, ihn zu holen. Man rief ihn aus dem Arbeitszimmer des Kaisers, und ich berichtete ihm in halb scherzhaftem Tone von der Verlegenheit seiner Frau, ohne die geringste Ahnung von der Wichtigkeit der Verhandlungen zu haben, die damals im Arbeitszimmer vor sich gehen mochten. Außer wenigen Eingeweihten ahnte kein Mensch im Palast, daß das Manifest am 19. Februar unterzeichnet worden war und nur darum zwei Wochen zurückgehalten wurde, weil am nächsten Sonntag, dem 26., die Karnevalswoche anfing und man fürchtete, daß infolge des übermäßigen Trinkens, das in den Dörfern während des Karnevals stattfindet, Bauernaufstände ausbrechen könnten. Man verlegte sogar den Karnevalsmarkt, der in Petersburg gewöhnlich auf dem freien Platze unweit des Winterpalastes abgehalten wurde, in jenem Jahre aus Furcht vor einer Volkserhebung in der Hauptstadt auf einen andern Platz. Dem Heere waren sehr strenge Weisungen zur Unterdrückung etwaiger Bauernrevolten zugegangen.

Zwei Wochen später, am letzten Sonntag der Karnevalszeit, es war am 5. März oder vielmehr 17. März neuen Stils, befand ich mich im Korps, da ich an der militärischen Parade in der Reitschule teilnehmen mußte. Ich war noch im Bette, als mein Bursche, Iwanow, mit dem Teebrett hereinstürzte und rief: »Fürst, Freiheit! Das Manifest ist drüben am Gostinoi Dwor (dem Kaufhause gegenüber dem Korps) angeschlagen!«

»Hast du es selbst gesehen?«

»Ja. Die Leute stehen herum; einer liest vor, und die andern hören zu. Es ist Freiheit!«

In wenigen Minuten war ich angezogen und wollte hinaus. Da kam mein Kamerad herein.

»Krapotkin, Freiheit!« schrie er. »Hier ist das Manifest. Mein Onkel erfuhr gestern abend, es würde bei der Frühmesse in der Isaakskathedrale verlesen werden; wir gingen also hin. Es waren nicht viele Leute da, ausschließlich Bauern. Das Manifest wurde nach der Messe verkündet und verteilt. Sie verstanden seine Bedeutung recht wohl. Als ich hinausging, sagten zwei Bauern, die am Ausgange standen, in so komischer Weise zu mir: ›Wie, Herr, nun – alles verloren?‹« Und er machte die Handbewegung nach, mit der sie ihn hinausgewiesen hätten. Jahre des Harrens verkörperten sich in dieser den Herrn fortweisenden Geste.

Ich las das Manifest mehrmals durch. Es war von dem Moskauer Metropoliten, Philarete, in erhabenem Stile, aber sehr überflüssigerweise in einem den Sinn verdunkelnden Gemisch von Russisch und Altslawisch verfaßt. Es war Freiheit, aber noch nicht sofort, da die Bauern noch zwei Jahre länger, bis zum Februar 1863, leibeigen bleiben sollten. Trotz alledem, eins stand fest, die Leibeigenschaft wurde aufgehoben, und die freien Bauern sollten in den Besitz ihrer Heimstätten und des Landes kommen. Sie sollten das Land nur gegen Entgelt haben, aber der alte Makel der Sklaverei war getilgt; sie sollten keine Sklaven mehr sein; die Reaktion hatte nicht die Oberhand gewonnen.

Wir gingen zur Parade; und als sie vorüber war, rief Alexander II., im Sattel bleibend, laut: »Die Offiziere hierher!« Sie sammelten sich um ihn, und er richtete an sie mit lauter Stimme eine Ansprache über das große Ereignis des Tages.

»Die Offiziere … die Vertreter des Adels im Heere« – diese abgerissenen Worte drangen bis an unser Ohr – »jahrhundertelange Ungerechtigkeit hat ein Ende gefunden … Ich erwarte Opfer vom Adel … der loyale Adel wird sich um den Thron scharen« … und so fort. Begeisterte Hurras ertönten aus den Kehlen der Offiziere, als er schloß.

Mehr laufend als marschierend, kehrten wir zum Korps zurück, um nicht die italienische Oper zu versäumen, da auf diesen Nachmittag die letzte Vorstellung in der Saison angesetzt war, bei der wir sicher irgend eine Kundgebung erwarteten. Schnellfüßig eilten wir in ziemlicher Anzahl in die Galerie des sechsten Ranges. Das Haus war überfüllt.

Während des ersten Zwischenaktes füllte sich das Rauchzimmer mit aufgeregten jungen Leuten, die, ganz gleich, ob miteinander bekannt oder nicht bekannt, eine allgemeine lebhafte Unterhaltung führten. Sofort wurde der Plan gefaßt, in den Zuschauerraum zurückzukehren und mit dem gesamten Publikum im Massenchor die Hymne ›Gott erhalte den Zaren‹ zu singen.

Doch Musikklänge erreichten unsere Ohren, und wir eilten alle auf unsere Plätze zurück. Die Opernkapelle spielte bereits die Hymne, die aber sofort von begeisterten Hurras aus allen Teilen des Hauses übertönt wurde. Ich sah, wie Bawerie, der Kapellmeister, seinen Taktstock schwang, aber man konnte nicht einen Ton hören, obwohl es eine starke Kapelle war. Da hörte Bawerie auf zu spielen, doch die Hurras dauerten fort. Von neuem sah ich den Taktstock bewegen, ich sah, wie die Geiger über die Saiten strichen und Trompeter und Hornisten ihre Instrumente bliesen, aber immer noch ging der Klang der Musik völlig unter in dem überwältigenden Stimmengewirr. Von neuem fing Bawerie an, das Spiel der Hymne zu dirigieren, und erst am Ende dieser dritten Wiederholung drangen einzelne Töne von den kräftigsten Instrumenten durch den Klang der menschlichen Stimmen hindurch.

Die gleiche Begeisterung herrschte auf den Straßen. In großen Scharen standen Bauern wie gebildeteres Publikum hurraschreiend vor dem Palast, und sobald der Zar sich sehen ließ, lief die Menge huldigend hinter seinem Wagen her. Mit Recht schrieb Herzen zwei Jahre später, als Alexander den polnischen Aufstand in Blut ertränkte und der ›Henker Murawjew‹ ihn auf dem Schafott erdrosselte: »Alexander Nikolajewitsch, warum bist du nicht an jenem Tage gestorben? Dein Name würde in der Geschichte als der eines Helden leben!«

Wo blieben die Aufstände, die von den Befürwortern der Leibeigenschaft vorausgesagt waren? Eine unsichere Lage als die durch das Befreiungsgesetz geschaffene hätte man sich gar nicht ausdenken können. Wenn irgend etwas, so hätte gerade die peinliche Unsicherheit und Unbestimmtheit der neuen Lage zum Aufruhr treiben müssen. Und doch, wenn wir von zwei Stellen, wo es zur Empörung kam, und von einzelnen andern Orten absehen, wo unbedeutende aus bloßen Mißverständnissen entstandene und sofort wieder beseitigte Unruhen stattfanden, blieb ganz Rußland ruhig, sogar ruhiger als je. Mit ihrem gewöhnlichen gesunden Menschenverstande hatten die Bauern begriffen, daß die Sklaverei beseitigt und daß ›die Freiheit gekommen war‹, und sie nahmen daher die ihnen auferlegten, wenn auch noch so schweren Bedingungen in Kauf.

Im August 1861 und dann wieder im Sommer 1862 hielt ich mich in Nikolskoje auf und war überrascht, daß die Bauern sich in so ruhiger, verständnisvoller Weise in die neuen Lebensbedingungen gefunden hatten. Es war ihnen völlig klar, wie schwer es ihnen fallen würde, die Loskaufsteuer für das Land aufzubringen, eine Steuer, die in Wahrheit eine Entschädigung des Adels für die entgangenen Frondienste darstellte. Aber die Befreiung von persönlicher Knechtschaft schätzten sie so hoch, daß sie in dem Moment, da man ihnen persönliche Freiheit bot, auch wirtschaftlich erdrückende Lasten – zwar nicht ohne Murren, aber als bittere Notwendigkeit hinnahmen. In den ersten Monaten feierten sie an zwei Tagen der Woche, da es, wie sie sagten, eine Sünde wäre, am Freitag zu arbeiten; als aber der Sommer kam, nahmen sie die Arbeit mit noch größerer Energie als vorher wieder auf.

Als ich unsere Bauern in Nikolskoje fünfzehn Monate nach der Befreiung sah, konnte ich sie nur bewundern. Ihre angeborene Gutmütigkeit und Sanftmut blieb ihnen, aber jede Spur von unterwürfigem Wesen war verschwunden. Zu ihren Herren redeten sie wie zu ihresgleichen, als hätten niemals andere Verhältnisse zwischen ihnen bestanden. Auch fanden sich in ihren Reihen Männer, die für ihre Rechte einstehen konnten. Das Befreiungsgesetz war ein dickes und schwieriges Buch, dessen volles Verständnis mich einen ziemlichen Aufwand von Zeit kostete. Als aber eines Tages Wisili Iwanow, der Älteste von Nikolskoje, zu mir kam und mich um die Erklärung einer dunklen Stelle bat, erkannte ich, daß er, der nicht einmal fließend lesen konnte, sich in dem Labyrinth von Gesetzesparagraphen bewundernswert zurechtgefunden hatte.

Die ›Hausleute‹, das heißt die Dienerschaft, kamen am schlechtesten weg. Sie erhielten kein Land und würden auch kaum gewußt haben, was sie damit anfangen sollten. Nur die Freiheit erhielten sie und weiter nichts. In unserer Gegend gingen fast alle Hausdiener von ihrer Herrschaft weg, im Haushalt meines Vaters verblieb z. B. kein einziger. Sie suchten sich sonst irgendwo eine Stelle, und viele fanden sie auch sofort bei Mitgliedern des Kaufmannsstandes, die stolz darauf waren, den Kutscher des Fürsten So und So oder den Koch eines bekannten Generals in Dienst zu haben. Wer irgend ein Handwerk verstand, erhielt in den Städten Beschäftigung; so blieb die Kapelle meines Vaters beisammen und fand in Kaluga ihr gutes Auskommen, hielt übrigens noch mit uns freundschaftliche Beziehungen aufrecht. Dagegen gingen die, welche kein Handwerk verstanden, schweren Zeiten entgegen. Dennoch wollten die meisten sich lieber auf irgend eine Weise durchschlagen, als bei ihren alten Herren bleiben.

Was die Grundherren betrifft, so machten die größeren in Petersburg alle erdenklichen Anstrengungen, die alten Verhältnisse in dieser oder jener Form wieder einzuführen, was ihnen auch unter Alexander III. in gewissem Maße gelang; bei weitem die meisten ergaben sich aber in die Aufhebung der Leibeigenschaft wie in ein unabänderliches Geschick. Aus der jungen Generation erstand für Rußland jener achtungswerte Stamm von ›Friedensmittlern‹ und Friedensrichtern, die so viel zu einem friedlichen Ausgang des Befreiungswerkes beitrugen, während die alte Generation schon zum größten Teil die beträchtlichen Summen diskontiert hatte, die sie von den Bauern für das bei der Freigebung überlassene, übrigens weit über seinen Marktwert angerechnete Land empfangen hatte. Diese Herren überlegten, wie sie das Geld in den Restaurants der Hauptstädte oder am grünen Tische vergeuden könnten. Und sie vergeudeten es auch fast sämtlich, sobald sie es in Händen hatten.

Für viele Herren bedeutete die Freilassung der Leibeigenen ein ausgezeichnetes Geldgeschäft. So wurde Land, das mein Vater in Voraussicht der Emanzipation stückweise zu elf Rubel den Acker verkaufte, jetzt bei den Bauernlosen zu vierzig Rubel gerechnet, also dreieinhalbmal höher, als der Marktpreis betrug, und das war in der ganzen Nachbarschaft die Regel, während auf meines Vaters Gute Tambow in den Steppen der ›Mir‹, d. h. die Dorfgemeinde, sein ganzes Land auf zwölf Jahre pachtete und das zu einem Preise, der doppelt so hoch war, als das Einkommen, das er daraus bei Bestellung des Landes durch leibeigene Arbeit gezogen hatte.

Elf Jahre nach jener denkwürdigen Zeit kam ich nach Tambow, das ich vom Vater geerbt hatte. Ich blieb ein paar Wochen dort, und am Abend vor meiner Abreise machte unser Dorfpriester, ein intelligenter unabhängiger Mann, wie man sie hin und wieder in unseren südlichen Provinzen trifft, einen Rundgang um das Dorf. Der Sonnenuntergang war herrlich, und eine balsamische Luft wehte von der Steppe her. Da fand er einen Bauer mittleren Alters, Namens Anton Saweljew, auf einer kleinen Anhöhe beim Dorfe sitzen und im Psalter lesen. Der Bauer kannte kaum die altslawischen Buchstaben und las einen Psalm oft, von hinten nach vorn blätternd, eine Art des Lesens, die ihn besonders zu befriedigen schien; hin und wieder stach ihm ein Wort in die Augen, und seine Wiederholung machte ihm Freude. Er las gerade einen Psalm, bei dem jeder Vers mit dem Wort ›Freue dich‹ anfing.

»Was lesen Sie, Saweljew?« fragte der Pope.

»Nun, Vater, ich will's Ihnen sagen,« war seine Antwort. »Es sind vierzehn Jahre her, da kam einmal der alte Fürst ins Dorf. Es war mitten im Winter, und ich war halbverfroren eben heimgekommen. Draußen raste ein Schneesturm. Kaum hatte ich angefangen, mich auszuziehen, als wir ans Fenster klopfen hörten: es war der Älteste, der rief: ›Geh zum Fürsten! Er will dich haben!‹ Wir alle – mein Weib und unsere Kinder – waren wie vom Blitz getroffen. ›Was kann er von dir wollen,‹ schrie meine Frau ganz aufgeregt. Ich bekreuzigte mich und ging; wie ich über die Brücke kam, wurde ich vom Schneesturm fast geblendet. Nun, die Sache lief gut ab. Der alte Fürst hielt sein Nachmittagsschläfchen, und als er aufwachte, fragte er mich, ob ich was vom Tünchen verstände, und sagte nur: ›Komm morgen und tünche das Zimmer dort!‹ So ging ich froh heim. Wie ich aber an die Brücke komme, treffe ich da mein Weib. Sie hatte die ganze Zeit mit dem Kleinsten auf dem Arm im Schneesturm gestanden und auf mich gewartet. ›Was hat's gegeben, Sawelitsch,‹ rief sie. ›Nun,‹ sagt' ich, ›nichts Schlimmes; er hat mir nur gesagt, ich soll ein Zimmer tünchen.‹ Das, Vater, war unter dem alten Fürsten. Und nun ist der junge Fürst hergekommen, und ich bin gestern zu ihm gegangen und habe ihn im Garten gefunden, wo er am Teetisch im Schatten seines Hauses saß; Sie, Vater, saßen neben ihm und der Bezirksälteste mit seiner Amtskette auf der Brust. ›Willst du Tee, Sawelitsch?‹ fragte er mich. ›Setz dich! Peter Grigorjew‹ – das sagt' er zu dem Alten – ›hol' uns noch einen Stuhl!‹ Und Peter Grigorjew – Sie wissen, was für ein Schrecken er für uns war, wie er noch Verwalter des alten Fürsten war – holte den Stuhl, und wir saßen alle um den Tisch herum und redeten miteinander, und er goß uns allen Tee ein. Nun, sehen Sie, Vater, der Abend ist so schön, und von den Steppen kommt der Duft, und ich sitze und lese ›Freue dich! Freue dich!‹«

Das bedeutete die Aufhebung der Leibeigenschaft für die Bauern.

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