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Zwölftes Kapitel.

Wahl eines sibirischen Kosakenregiments. – Furchtbare Feuersbrunst beim Pagenkorps. – Beginn der Reaktion. – Ich erhalte das Offizierspatent.

 

Mitte Mai 1862, wenige Wochen ehe wir das Pagenkorps verlassen sollten, beauftragte mich eines Tages der Hauptmann, ich sollte ein Verzeichnis der Regimenter aufsetzen, in die wir eintreten wollten. Wir konnten uns irgend ein Garderegiment wählen, in das wir dann mit dem untersten Offiziersgrade eintraten, oder irgend ein anderes Regiment, in dem wir sofort den dritten Leutnantsgrad bekleideten. Ich schrieb die Schüler unserer Klasse auf und machte bei meinen Kameraden die Runde. Jeder war schon längst darüber schlüssig geworden, welchem Regiment er sich anschließen wollte, trugen doch die meisten bereits im Garten die Offiziersmützen der betreffenden Regimenter.

»Die Kaiserin-Kürassiere«, »Die Leibgarde Preobraschensky«, »Garde-Kavallerie« waren die Antworten, die ich einzuschreiben hatte.

»Aber du, Krapotkin? Artillerie? Kosaken?« fragte man mich von allen Seiten. Ich hatte auf diese Fragen keine Antwort, und schließlich bat ich einen Kameraden, diese Liste fertig zu machen, und begab mich in mein Zimmer, noch einmal über meinen endgültigen Entschluß nachzudenken.

Daß ich nicht in ein Garderegiment treten und mein Leben Paraden und Hofbällen widmen wollte, darüber war ich mir längst klar. Es war mein Traum, die Universität zu besuchen, mich dem Studium zu weihen, ein Studentenleben zu führen. Das bedeutete natürlich einen völligen Bruch mit meinem Vater, dessen Ehrgeiz ganz andere Ziele hatte, und ich hätte dann meinen Lebensunterhalt nur durch Stundengeben erwerben können. Tausende von russischen Studenten leben so, und eine solche Existenz hatte für mich ganz und gar nichts Schreckliches. Aber wie sollte ich über die erste, schwierigste Zeit hinwegkommen? In einigen Wochen verließ ich die Schule; dann mußte ich eigene Kleider anziehen, eigene Wohnung haben, und ich sah keine Möglichkeit, auch nur das wenige, selbst bei der bescheidensten Einrichtung unerläßliche Geld zusammenzubringen. War es demnach mit der Universität nichts, so hatte ich in letzter Zeit öfters an den Eintritt in die Artillerie-Schule gedacht. Das hätte mich auf zwei Jahre von der Plackerei des militärischen Drills freigemacht, und ich konnte dort auch außer den militärischen Wissenschaften Mathematik und Physik studieren. Aber es blies ein reaktionärer Wind, und die Offiziere der Kriegsschulen waren im letzten Winter wie Schulbuben behandelt worden; in zwei Militärakademien hatten sie sich dagegen empört, und in einer waren sie sogar in corpore ausgetreten.

So wendeten sich meine Gedanken mehr und mehr Sibirien zu. Die Amurgegend war kurz vorher von Rußland in Besitz genommen worden. Ich hatte alles über jenen Mississippi des Ostens gelesen, über die Gebirge, die er durchbricht, die subtropische Flora seines Nebenflusses, des Usuri, und meine Gedanken schweiften weiter – zu den tropischen Gegenden, die Humboldt geschildert hatte, und zu Ritters großartigen Theorien, deren Lektüre mich entzückte. Außerdem, sagte ich mir, bietet Sibirien ein ungeheures Arbeitsfeld zur praktischen Durchführung von großen bereits beschlossenen oder noch zu erwartenden Reformen: nur wenige sind dort an der Arbeit, und ich werde einen Wirkungskreis nach meinem Geschmacke finden. Das Schlimmste war, daß ich von meinem Bruder Alexander scheiden sollte. Aber er hatte nach den letzten Unruhen die Universität Moskau verlassen müssen, und in einem oder zwei Jahren, dachte ich mir – und meine Vermutung war richtig – würden wir so oder so wieder zusammenkommen. So hatte ich nur noch das Regiment in der Amurgegend auszuwählen. Der Usuri zog mich am meisten an, aber ach! am Usuri stand nur ein Regiment Kosaken-Infanterie. Ein Kosak ohne Pferd – das war für den Knaben, der ich immer noch war, unerträglich, und ich entschied mich für die ›berittenen Amur-Kosaken‹.

Dies schrieb ich zur größten Bestürzung aller meiner Kameraden auf das Verzeichnis. »Es ist so weit,« sagten sie, während mein Freund Daurow das Offiziersbuch zur Hand nahm und daraus zum Entsetzen aller Anwesenden vorlas: »Uniform, schwarz mit einfachem rotem Kragen ohne Borte; Pelzkappe aus Hundefell oder anderm Pelz; Beinkleid grau.«

»Betrachte nur diese Uniform!« rief er aus. »Bitt' dich, die Kappe! Nun, du kannst eine aus Wolfs- oder Bärenpelz tragen; aber denk nur an das Beinkleid! Grau, wie beim Trainsoldaten!« Die Bestürzung stieg nach dieser Schilderung der Uniform auf den Gipfel.

Ich gab der Sache eine möglichst scherzhafte Wendung und trug das Verzeichnis zum Hauptmann.

»Krapotkin muß immer seinen Spaß haben,« rief er. »Sagte ich Ihnen nicht, ich müßte die Liste heute an den Großfürsten schicken?«

Erstaunen und Mitleid malten sich auf seinem Gesicht, als ich ihm sagte, daß meine Erklärung in vollem Ernste gemacht sei.

Am nächsten Tage geriet aber mein Entschluß beinahe ins Wanken, als ich sah, wie Klasowsky meine Entscheidung aufnahm. Er hatte gehofft, mich in der Universität zu sehen, und hatte mir zu diesem Zwecke lateinischen und griechischen Unterricht erteilt. Ich wagte ihm aber nicht den wahren Grund mitzuteilen, weshalb ich nicht zur Universität ging; ich wußte, er hätte mir, wenn er die Wahrheit erfuhr, angeboten, das wenige, was er besaß, mit mir zu teilen.

Dann telegraphierte mein Vater an den Direktor, er verbiete mir, nach Sibirien zu gehen, und es wurde dem Großfürsten als Chef der Militärschulen darüber Bericht erstattet. Ich mußte vor seinem Stellvertreter erscheinen und redete von der Vegetation am Amur und dergleichen, weil ich gute Gründe zu der Annahme hatte, daß mir, wenn ich sagte, ich wollte zur Universität gehen, hätte aber keine Mittel dazu, ein Stipendium von irgend einem Mitgliede der kaiserlichen Familie angeboten worden wäre – ein Anerbieten, – das ich auf alle Fälle zu vermeiden wünschte.

Es ist nicht zu sagen, wie die Sache noch ausgegangen wäre, wenn nicht ein bedeutsames Ereignis, die große Feuersbrunst in Petersburg – indirekt eine Lösung der Schwierigkeit herbeigeführt hätte.

 

Am Montag nach Trinitatis, dem Tage des heiligen Geistes, der in jenem Jahre auf den 26. Mai alten Stils fiel – brach ein furchtbares Feuer in dem sogenannten ›Apraxin Dwor‹ aus. Der Apraxin Dwor war ein ungeheurer Platz, der mehr als ein Quadratkilometer umfaßte und ganz und gar von kleinen Kramläden, bloßen Holzbuden, wo alle möglichen ›alten‹ Sachen feilgeboten wurden, bedeckt war. Alte Möbel und Betten, gebrauchte Kleider und Bücher strömten aus allen Teilen der Stadt dorthin zusammen und wurden in den Buden, auf den Gängen dazwischen und sogar auf den Dächern aufgestapelt. Hinter dieser gewaltigen Masse von feuergefährlichem Material lag das Ministerium des Innern mit seinen Archiven, wo alle die Aufhebung der Leibeigenen betreffenden Urkunden aufbewahrt wurden, und vor dem Dwor, der hier durch eine Reihe kleiner Verkaufsläden aus Stein abgeschlossen war, erhob sich die Staatsbank. Eine schmale ebenfalls von Steinhäuschen bestandene Gasse trennte den Apraxin Dwor von einem Flügel unseres Pagenkorps, in dessen unterem Stockwerk eine Spezerei-Handlung und Ölläden sich befanden, während darüber Offizierswohnungen eingerichtet waren. Dem Ministerium des Innern beinahe gegenüber lagen jenseits eines Kanals ausgedehnte Holzhöfe. In diesem Labyrinth von Baracken und in den Holzniederlagen gegenüber brach fast in demselben Moment, nachmittags vier Uhr, Feuer aus.

Wäre an jenem Tage starker Wind gewesen, die halbe Stadt samt der Bank, verschiedenen Ministerien, dem Gostinoi Dwor, einem anderen ausgedehnten Ladenviertel beim Newsky-Prospekt, dem Pagenkorps und der National-Bibliothek wäre in Flammen aufgegangen.

Ich befand mich an dem Nachmittage im Korps, wo ich bei einem unserer Offiziere zu Tisch geladen war, und wir eilten an Ort und Stelle, sowie wir von den Fenstern aus in unserer unmittelbaren Nachbarschaft Rauchwolken aufsteigen sahen. Der Anblick war schreckenerregend. Gleich einer ungeheuren Schlange stürzte sich das Feuer prasselnd und pfeifend nach allen Richtungen hin, rechts und links, umfaßte die Buden und erhob sich plötzlich in einer mächtigen Säule, seine fauchenden Zungen ausstreckend, um noch mehr Buden samt ihrem Inhalt zu verzehren. Mächtige Wirbel von Rauch und Feuer bildeten sich, und als die brennenden Federn aus den Bettenhandlungen auf dem ganzen Platze herumzuwirbeln anfingen, wurde ein ferneres Verweilen auf dem brennenden Markte zur Unmöglichkeit. Man mußte den Kampf aufgeben.

Die Behörden hatten völlig den Kopf verloren. Damals gab es in Petersburg noch keine einzige Dampfspritze, und Arbeiter schlugen vor, eine von den Kolpinoer Eisenwerken, die nur durch eine Eisenbahnfahrt von vier Meilen von Petersburg zu erreichen waren, zu holen. Als die Spritze endlich auf der Eisenbahnstation ankam, wurde sie vom Volke zur Brandstätte gezogen. Von ihren vier Schläuchen war einer von unbekannter Hand beschädigt, die andern drei wurden auf das Ministerium des Innern gerichtet.

Die Großfürsten erschienen am Platze und fuhren wieder fort. Spät nachmittags, als die Bank nicht mehr bedroht war, kam auch der Kaiser und sagte, was auch so schon jeder wußte, das Wichtigste wäre nun die Rettung des Pagenkorps, an die man alle Kräfte setzen müßte. Es war offenbar, wenn das Korps Feuer fing, so war auch die National-Bibliothek und der halbe Newsky-Prospekt verloren.

Alles, was geschah, um das immer weitere Umsichgreifen des Feuers zu verhindern, ging von der versammelten Menge aus. Eine Zeitlang stand die Bank ernstlich in Gefahr. Man hatte die Waren aus den gegenüberliegenden Läden auf die Sadowajastraße geworfen, und sie waren dabei in großen Mengen auf die Mauern des linken Flügels der Bank gefallen. Die auf der Straße selbst liegenden Gegenstände fingen beständig Feuer, aber die Leute, von der fast unerträglichen Hitze geröstet, verhinderten, daß die Flammen auch auf die Warenballen der andern Seite übergriffen. Dabei schimpften sie auf alle Behörden, weil nicht eine Spritze zur Stelle war. »Was wollen sie nur alle beim Ministerium des Innern, wenn die Bank und das Findelhaus zunächst gefährdet sind? Sie haben allesamt den Kopf verloren!« »Wo ist der Polizeichef? Warum schickt er keine Feuerwehrbrigade zur Bank?« hieß es. Ich kannte den Chef, General Annenkow, persönlich, da ich ihn ein- oder zweimal mit seinem Bruder, dem bekannten Kritiker, bei unserm Subinspektor gesehen hatte, und machte mich aus eigenem Antrieb auf den Weg, ihn zu suchen. Ich fand ihn wirklich ziellos in einer Straße schlendernd, und als ich ihm den Stand der Dinge mitteilte, hieß er, so unglaublich es scheinen mag, mich, einen ganz jungen Menschen, eine von den Feuerwehrbrigaden vom Ministerium des Innern nach der Bank bringen. Natürlich stellte ich ihm vor, die Leute würden nicht auf mich hören, und ersuchte ihn um einen schriftlichen Befehl; aber General Annenkow hatte nach seiner Behauptung oder in Wahrheit kein Stückchen Papier bei sich, so daß ich einen unserer Offiziere, L. L. Gosse, bat, mit mir zu gehen und mir bei der Ausführung des Befehls beizustehen. Es gelang uns schließlich, den Hauptmann der einen Brigade, der die ganze Welt und seine Chefs dazu verfluchte, dahin zu bringen, daß er seine Leute zur Bank gehen ließ.

Das Ministerium selbst blieb verschont, aber seine Archive brannten, und viele junge Leute, zumeist Kadetten und Pagen, trugen zusammen mit den Ministerialbeamten Aktenbündel aus dem brennenden Gebäude und luden sie in Droschken. Oft fiel ein Bündel hinaus, ein Windhauch ergriff die Blätter und streute sie über den Platz. Durch den Rauch hindurch sah man auf den Holzhöfen jenseits des Kanals ein mächtiges Feuer lodern.

Die schmale Gasse, die das Pagenkorps vom Apraxin Dwor schied, befand sich in trauriger Verfassung. Die anliegenden Läden waren voll Schwefel, Öl, Terpentin und dergleichen, und ungeheure, vielfarbige, durch Explosionen verursachte Stichflammen züngelten nach den Dächern des Korpsflügels, der die Straße auf der andern Seite begrenzte. Die Fenster und Pfeiler unter dem Dache fingen schon an zu schwelen, während die Pagen und ein paar Kadetten, nachdem sie die Zimmer ausgeräumt hatten, eine kleine Feuerspritze in Tätigkeit setzten, die in langen Zwischenräumen aus altmodischen mittels Eimer gefüllten Fässern dürftig mit Wasser versehen wurde. Ein paar Feuerwehrmänner standen auf dem heißen Dach und schrien beständig in geradezu herzzerreißenden Tönen: »Wasser! Wasser!« Das konnte ich nicht anhören, ich stürzte in die Sadowajastraße und zwang den Kutscher eines zur Polizei-Feuerwehrbrigade gehörenden Wasserwagens einfach mit Gewalt, in unsern Hof zu fahren und unsere Spritze mit Wasser zu speisen. Als ich aber noch einmal den gleichen Versuch machte, weigerte sich der Kutscher unbedingt, indem er sagte: »Ich komme vors Kriegsgericht, wenn ich Ihnen gehorche.« Von allen Seiten drängten mich die Kameraden: »Geh und suche jemanden, den Polizeichef, den Großfürsten, irgendwen, und sage ihnen, ohne Wasser müßten wir das Korps dem Feuer überlassen.« »Sollten wir's nicht dem Direktor melden?« bemerkte einer. »Bitt' dich, die ganze Bande! Die findst du mit der Laterne nicht. Geh und tu's selbst!«

Ich ging noch einmal, General Annenkow zu suchen, und erfuhr schließlich, er sei im Hofe der Bank. Verschiedene Offiziere umringten dort einen General, in dem ich den Generalgouverneur von Petersburg, den Fürsten Suwarow, erkannte. Das Tor war aber geschlossen, und ein Bankbeamter, der dort stand, weigerte sich anfangs, mich hineinzulassen. Ich wandte mich drin sofort an den Fürsten Suwarow, der auf der Schulter seines Adjutanten einen Brief schrieb.

Als ich meinen Bericht beendet hatte, war seine erste Frage: »Wer hat Sie geschickt?« »Niemand – meine Kameraden,« erwiderte ich. »Sie sagen, das Korps wird bald in Brand stehen?« »Ja.« Er machte sich sofort auf; auf der Straße ergriff er eine dort liegende leere Hutschachtel, stülpte sie sich über den Kopf und rannte schleunigst zum Pagenkorps. Leere Fässer, Stroh, hölzerne Kisten und dergleichen bedeckten die Straße zwischen den lodernden Ölläden und den Gebäuden unseres Korps, dessen Fensterrahmen und Holzpfeiler bereits zu glimmen begannen. Fürst Suwarow handelte mit schneller Entschlossenheit. »In Ihrem Garten steht eine Kompagnie Soldaten,« sagte er zu mir. »Nehmen Sie eine Abteilung und machen Sie die Straße frei – sofort! Es wird auf der Stelle ein Schlauch der Dampfspritze hierher gelegt werden. Halten Sie ihn in Betrieb! Ich verlasse mich auf Sie!«

Die Soldaten zum Verlassen des Gartens zu bewegen, war nicht leicht. Sie hatten die Fässer und Kisten ihres Inhalts beraubt, ihre Taschen mit Kaffee gefüllt, Stücke von Zuckerhüten unter ihren ›Käppis‹ versteckt und freuten sich, behaglich unter den Bäumen Nüsse knackend, des warmen Sommerabends. Erst als ein Offizier dazwischentrat, bequemten sie sich dazu, dem Befehle zu gehorchen. Schnell war die Straße freigemacht, zum Entzücken meiner Kameraden die Spritze in Gang gesetzt, und alle zwanzig Minuten lösten wir, in der Hitze fast schmorend, die Spritzenleute ab.

Um drei oder vier Uhr morgens war das Feuer offenbar auf seinen Herd beschränkt und jede Gefahr für das Pagenkorps vorüber. Wir stillten dann unseren Durst mit einem halben Dutzend Gläsern Tee in einer kleinen, ›Weißen Wirtschaft‹, die zufällig noch offen war, und sanken dann, halb tot vor Müdigkeit, auf das erste freie Bett, das wir im Krankensaale des Korps fanden.

Nach wenigen Stunden Ruhe stand ich auf und ging, mir die Stätte der Feuersbrunst anzusehen. Als ich zum Korps zurückging, begegnete ich dem Großfürsten Michael, den ich, wie es meine Pflicht war, auf seinem Rundgang begleitete. Die Pagen, die sich schlaftrunken aus den Kissen erhoben, gewährten mit ihren rauchgeschwärzten Gesichtern, geschwollenen Augen, versengten Lidern, oder auch verbrannten Haaren einen sonderbaren Anblick; kaum konnte man sie erkennen. Doch waren sie stolz, in dem Gefühl, ihre zarten Hände nicht geschont und so schwer wie irgend einer gearbeitet zu haben.

Dieser Besuch des Großfürsten ebnete meinen weiteren Plänen den Weg. Er fragte mich, wie ich auf den wunderbaren Gedanken gekommen wäre, nach dem Amur zu gehen, – ob ich dort Freunde hätte, ob ich mit dem Generalgouverneur bekannt wäre. Auf meine Erwiderung, daß ich keinen Verwandten oder Bekannten in Sibirien hätte, rief er: »Aber weshalb gehst du dann? Man schickt dich vielleicht in ein einsames Kosakendorf, was willst du dort machen? Ich will lieber deinetwegen an den Generalgouverneur einen Empfehlungsbrief schreiben.«

Nach diesem Anerbieten war ich sicher, die Einwilligung meines Vaters zu erlangen, und so war es in der Tat. Der Weg nach Sibirien stand mir frei.

 

Die geschilderte gewaltige Feuersbrunst wurde ein Markstein und Wendepunkt nicht nur für Alexanders II. Politik, sondern in der russischen Geschichte jener Periode überhaupt. Offenbar lag hier kein bloßer Unglücksfall vor. Trinitatis und der Heilige-Geist-Tag sind hohe Feiertage in Rußland, und es befand sich außer ein paar Wächtern kein Mensch auf dem Markte. Dazu kam, daß das Feuer zugleich auf dem Markte und auf den Holzhöfen ausbrach, und daß auf den Petersburger Brand ähnliche Katastrophen in verschiedenen Provinzialstädten folgten. Das Feuer war angelegt, aber von wem? Eine sichere Antwort auf diese Frage steht heute noch aus.

Katkow, der Exliberale, der von persönlichem Haß gegen Herzen und ganz besonders gegen Bakunin, mit dem er sich einmal duellieren mußte, erfüllt war, beschuldigte gleich am Tage nach dem Brande die Polen und die russischen Revolutionäre der Anstiftung, eine Ansicht, die in Petersburg und Moskau die vorherrschende war.

Polen bereitete sich damals auf die Revolution vor, die im nächsten Januar zum Ausbruch kam, und das geheime revolutionäre Komitee war mit den Londoner Verbannten in Verbindung getreten, es hatte auch seine Vertreter mitten im Herzen der Petersburger Regierung. Bald nach dem Brande schoß ein russischer Offizier auf den Statthalter von Polen, den Grafen Lüders, und als der Großfürst Konstantin an seiner Statt ernannt wurde – wie es hieß, um Polen zu einer Sekundogenitur zu machen –, wurde auch sofort, am 26. Juni, auf ihn geschossen. Ähnliche Attentate erfolgten im August gegen den Marquis Wielopolsky, den polnischen Leiter der russophilen Unionspartei. Napoleon III. nährte unter den Polen die Hoffnung auf eine bewaffnete Intervention zugunsten der Wiederherstellung ihrer Unabhängigkeit. Bei dieser Lage der Dinge konnte man vielleicht von dem gewöhnlichen beschränkten militärischen Standpunkt aus die Zerstörung der russischen Bank und verschiedener Ministerien und die Erregung einer Panik in der hauptstädtischen Bevölkerung für ein erfolgversprechendes Kampfmittel halten, aber nie hat sich auch nur die Spur eines tatsächlichen Beweises für diese Hypothese auffinden lassen.

Auf der andern Seite erkannte die fortschrittliche Partei in Rußland, daß man in keiner Weise mehr auf Alexanders Initiative auf der Bahn der Reformen hoffen konnte; offenbar trieb er völlig im reaktionären Fahrwasser. Den Weiterdenkenden war es zweifellos, daß die Freigebung der Leibeigenen unter den ihnen auferlegten Loskaufsbedingungen ihren sicheren Untergang bedeutete. So erschienen im Mai in Petersburg revolutionäre Proklamationen, in denen an Volk und Heer der Ruf zu einem allgemeinen Aufstand erging und die gebildeten Klassen zu energischer Forderung einer Nationalkonvention gedrängt wurden. Es konnten daher Revolutionäre etwa auf den Plan verfallen, die Regierungsmaschine in Unordnung zu bringen.

Schließlich hatte die unvollkommene und unkluge Art der Leibeigenenbefreiung eine Menge Gärungsstoff unter den Bauern, die einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung in allen russischen Städten ausmachen, erzeugt; so oft aber im Laufe der russischen Geschichte solche Gärung Platz griff, hat es an anonymen Brandbriefen und auch an Brandstiftungen nicht gefehlt.

Möglicherweise konnte der Gedanke, den Apraxinmarkt in Brand zu setzen, diesem oder jenem im revolutionären Lager kommen, aber weder die schärfste Untersuchung noch Massenverhaftungen, wie sie sogleich nach dem Feuer in Rußland und Polen stattfanden, haben den geringsten tatsächlichen Anhalt ergeben. Hätte sich irgend etwas derart herausgestellt, so würde die reaktionäre Partei daraus Kapital geschlagen haben, viele Memoiren und Bände von Korrespondenzen aus jener Zeit sind seitdem veröffentlicht worden, aber es findet sich nichts darin, das jenen Argwohn begründen könnte.

Ja, als in verschiedenen Städten an der Wolga, insbesondere in Simbirsk, ähnliche Brände ausbrachen und Schdanow, ein Mitglied des Senates, vom Zaren zum Zwecke einer Untersuchung hingeschickt worden war, kehrte er im Gegenteil mit der festen Überzeugung zurück, die Simbirsker Feuersbrunst sei das Werk der reaktionären Partei. Unter dieser Partei herrschte allgemein der Glaube, Alexander II. würde bewogen werden können, die endgültige Aufhebung der Leibeigenschaft, die am 19. Februar 1863 erfolgen sollte, hinauszuschieben. Sie kannten seinen weichen Charakter, und unmittelbar nach dem großen Feuer in Petersburg eröffneten sie einen leidenschaftlichen Feldzug für die Verschiebung und für die Revision des Befreiungsgesetzes betreffs seiner tatsächlichen Ausführung. In gut unterrichteten, durchaus gesetzlichen Kreisen hieß es, Senator Schdanow komme in der Tat mit positiven Beweisen von der Schuld der Reaktionäre in Simbirsk zurück, aber er starb auf dem Rückwege, sein Portefeuille verschwand und war nicht wieder aufzufinden.

Sei dem, wie ihm wolle, das Feuer auf dem Apraxinmarkte hatte die beklagenswertesten Folgen. Alexander II. ergab sich hinfort der reaktionären Partei, und – was noch schlimmer war – derjenige Teil der Petersburger und Moskauer Gesellschaft, der auf die Regierung den meisten Einfluß besaß und sich in der Öffentlichkeit bisher reformfreundlich gezeigt hatte, warf plötzlich seine liberale Hülle ab und nahm nicht nur gegen die vorgeschrittene Gruppe der Reformpartei, sondern auch gegen ihren gemäßigten Flügel Stellung. Ein paar Tage nach dem Brande ging ich Sonntags zu meinem Vetter, dem Adjutanten des Kaisers, in dessen Hause die Gardekavallerie-Offiziere oft in meiner Gegenwart ihre Sympathie für Tschernischewsky gezeigt hatten –, war doch mein Vetter selbst bis dahin ein beständiger Leser des ›Zeitgenossen‹, des Organs der vorgeschrittenen Reformpartei. Diesmal brachte er verschiedene Nummern dieser Zeitschrift, legte sie auf den Tisch, an dem ich saß, und sagte zu mir: »So, jetzt, nach dem, was geschehen ist, will ich nichts mehr von diesem Zündstoff wissen; genug davon,« – und diese Worte gaben der Ansicht von ›ganz Petersburg‹ Ausdruck, von Reform zu reden, galt für unanständig, die ganze Atmosphäre war hinfort mit reaktionärem Geiste geschwängert. Der ›Zeitgenosse‹ und andere ähnlichen Zeitschriften wurden unterdrückt, die Sonntagsschulen ließ man unter keiner Form bestehen, Massenverhaftungen erfolgten, die Hauptstadt wurde in Belagerungszustand erklärt.

 

Vierzehn Tage später, am 13. (25.) Juni, war der von uns Pagen und Kadetten schon so lange ersehnte Zeitpunkt endlich gekommen. Der Kaiser selbst nahm uns eine Art militärischer Prüfung in allen möglichen Übungen ab, wobei wir Kompagnien zu kommandieren hatten und ich stolz zu Roß vor dem Bataillon einherritt. Darauf erhielten wir unser Offizierspatent.

Als die Parade vorüber war, rief Alexander II. laut: »Die neuernannten Offiziere hierher!« Wir bildeten um ihn, während er zu Pferde blieb, einen Kreis.

Hier sah ich ihn in einem ganz neuen Lichte. Der Mann, der im folgenden Jahre die Rolle eines blutdürstigen und rachsüchtigen Unterdrückers des polnischen Aufstandes zu spielen vermochte, trat mir schon hier bei seiner Ansprache an uns in dieser Gestalt leibhaftig vor Augen.

In ruhigem Tone begann er: »Ich wünsche Ihnen Glück; Sie sind Offiziere.« Er sprach dann von Soldatenpflicht und loyaler Gesinnung, wie es bei solchen Anlässen zu geschehen pflegt. »Sollte aber einer von Ihnen,« fuhr er fort, wobei er jede Silbe scharf betonte und sein Gesicht sich plötzlich vor Zorn verzerrte, – sollte einer von Ihnen – was Gott verhüten möge – sich il-lo-yal gegen den Zaren, gegen Thron und Vaterland zeigen, merken Sie wohl, was ich sage, so wird ihn die volle Strenge des Gesetzes treffen ohne das ge-ring-ste Er-bar-men!«

Die Stimme versagte ihm, sein Gesicht trug einen feindlichen Ausdruck blinder Wut, wie ich ihn als Kind in den Gesichtern der Grundherren bemerkt habe, wenn sie ihren Leibeigenen drohten, sie bis aufs Blut peitschen zu lassen. Heftig stieß er seinem Pferde die Sporen in die Weichen und sprengte davon. Am nächsten Morgen, 14. Juni, wurden auf seinen Befehl in Modlin in Polen drei Offiziere erschossen, während ein Soldat, namens Szur, unter den Spießruten seinen Geist aufgab.

»Reaktion, mit Volldampf rückwärts,« sagte ich zu mir, als wir zum Korps zurückgingen.

 

Ehe ich Petersburg verließ, bekam ich Alexander II. noch einmal zu sehen. Einige Tage nach unserer Beförderung wurden ihm alle neuernannten Offiziere im Palaste vorgestellt. Meine mehr als bescheidene Uniform mit den auffallenden grauen Beinkleidern erregte allgemeine Aufmerksamkeit, und beständig hatte ich auf neugierige Fragen von Offizieren aller Grade nach meinem Regiment zu antworten. Da die Amur-Kosaken damals das jüngste Regiment des russischen Heeres waren, so stand ich unter den Hunderten von anwesenden Offizieren so ziemlich am Ende. Alexander II. fand mich heraus und fragte: »Du gehst also nach Sibirien? Hat dein Vater schließlich eingewilligt?« Ich antwortete bejahend. »Fürchtest du dich nicht, so weit zu gehen?« Ich erwiderte mit Wärme: »Nein, ich will arbeiten. Es muß in Sibirien so viel zu tun geben, um die großen Reformen, die gemacht werden sollen, dort einzuführen.« Er schaute mir gerade ins Gesicht und wurde nachdenklich; schließlich sagte er: »Nun, so geh! Man kann überall nützlich sein;« und dabei nahm sein Gesicht einen so müden Ausdruck an und verriet so sehr völlige Willenslosigkeit, daß ich sofort dachte: Er ist ein gebrochener Mann und wird alles aufgeben.

Petersburg gewährte damals einen düsteren Anblick, Soldaten marschierten in den Straßen, Kosaken-Patrouillen ritten um den Palast, die Festung konnte die Gefangenen kaum fassen, wohin ich auch kam, überall sah ich dasselbe: den Triumph der Reaktion; so verließ ich Petersburg ohne Bedauern.

Jeden Tag ging ich zu der Hauptverwaltung der Kosakenregimenter und ersuchte um schleunige Ausfertigung meiner Papiere, und sobald sie fertig waren, ritt ich nach Moskau, um dort meinen Bruder Alexander zu treffen.

*


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