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Viertes Kapitel.

Meine weitere Erziehung. – Schäden der Leibeigenschaft. – Ein trauriges Geschick. – Ausbildung begabter Leibeigenen. – Eine Geistererscheinung.

 

Im Herbst des Jahres 1852 kam mein Bruder Alexander ins Kadettenkorps, und von da an sahen wir uns nur noch an Feiertagen und hin und wieder Sonntags. Das Kadettenhaus war eine Meile von unserm Hause entfernt, und obwohl wir ein Dutzend Pferde hatten, traf es sich immer, daß keines frei war, wenn ein Schlitten zum Kadettenkorps geschickt werden sollte, den Bruder zu holen. Mein ältester Bruder, Nikolaus, kam sehr selten nach Hause. Die verhältnismäßige Freiheit, die Alexander in der Schule fand, insbesondere aber der Einfluß von zweien seiner Lehrer, die in Literatur Unterricht erteilten, brachten seinen Intellekt zu schneller Reife, und später werde ich oft genug Gelegenheit haben, von dem wohltätigen Einfluß zu sprechen, den er auf meine eigene Entwicklung ausübte. Es ist ein großer Vorzug, einen liebevollen, intelligenten älteren Bruder zu haben.

Inzwischen blieb ich noch daheim; mein Eintritt in das Pagenkorps konnte erst erfolgen, wenn die Reihe an mich kam, und dann war ich fast fünfzehn Jahre alt. Herr Poulain wurde entlassen und ein deutscher Lehrer an seiner Statt verpflichtet. Er gehörte zu jenen Idealisten, wie sie unter den Deutschen nicht selten sind, und ich habe von ihm noch am besten im Gedächtnis seinen begeisterten Vortrag Schillerscher Gedichte, den er in höchst naiver Weise durch schauspielerische Bewegungen, die mich in Entzücken versetzten, begleitete. Er blieb übrigens nur einen Winter bei uns.

Im nächsten Winter ließ man mich ein Moskauer Gymnasium besuchen, und schließlich unterrichtete mich wieder mein russischer Lehrer Smirnow. Wir wurden bald Freunde, besonders als uns mein Vater eine Reise nach seinem Rjäsanschen Gute machen ließ. Während dieser Reise trieben wir allerhand Possen und erfanden lustige Erzählungen im Anschluß an die Menschen und Dinge, die uns vor Augen kamen. Andererseits gab der Anblick der anmutigen Hügellandschaft, durch die wir reisten, meiner wachsenden Liebe zur Natur neue Anregung und Nahrung. Auch fingen unter Smirnows Einfluß meine literarischen Neigungen zu keimen an, und von 1854 bis 1857 hatte ich vollauf Gelegenheit, diese Keime weiter zu entwickeln. Mein Lehrer hatte nach Beendigung seiner Studienzeit eine unbedeutende Schreiberstelle in einem Gerichtshofe erhalten und verbrachte dort den Vormittag. So war ich bis Mittag mir selbst überlassen, und wenn ich meine Aufgaben vollendet und einen Spaziergang gemacht hatte, blieb mir noch sehr viel Zeit zum Lesen und besonders zum Schreiben übrig. Ebenso war ich im Herbst, wenn mein Lehrer wieder sein Amt in Moskau versehen mußte, während wir noch auf dem Lande blieben, viel allein, und obschon ich beständig am Familienleben teilnahm und ziemlich viel Zeit mit meiner kleinen Schwester Pauline verspielte, so war mir doch Muße genug gelassen, mich nach Herzenslust mit Lesen und Schreiben zu beschäftigen.

Damals war die Aufhebung der Leibeigenschaft nicht mehr fern. Es ist dies ein Ereignis, das der neuesten Geschichte angehört, es ist, als wäre es erst gestern geschehen, und doch begreifen jetzt selbst in Rußland wenige, was die Leibeigenschaft eigentlich zu bedeuten hatte. Man hat eine unklare Vorstellung davon, daß die von ihr geschaffenen Verhältnisse sehr üble waren, aber die volle Wirkung dieser Verhältnisse auf Körper und Geist menschlicher Wesen wird nicht genügend ermessen. Es ist in der Tat erstaunlich, wie bald eine Einrichtung und ihre gesellschaftlichen Folgen in Vergessenheit geraten, wenn die Einrichtung selbst nicht mehr besteht, und wie schnell die Menschen und Dinge wechseln. Ich will die Zustände zur Zeit der Leibeigenschaft vergegenwärtigen, indem ich erzähle, nicht, was ich von anderen gehört, sondern, was ich selbst gesehen habe.

Uliana, unsere Beschließerin, steht im Gange vor meines Vater Tür und bekreuzt sich; sie wagt keinen Schritt vorwärts oder rückwärts zu tun. Endlich, nachdem sie ein Gebet gesprochen hat, tritt sie ins Zimmer und meldet mit kaum hörbarer Stimme, daß der Tee fast verbraucht sei, daß nur noch zwanzig Pfund Zucker da seien, und daß auch die anderen Vorräte auf die Neige gehen.

»Diebe, Räuber!« brüllt mein Vater, »und du, du bist im Bunde mit ihnen!« Seine Stimme donnert durch das Haus. Unsere Stiefmutter will Uliana allein den Sturm bestehen lassen; aber Vater schreit: »Frol, rufe die Fürstin! Wo ist sie?« Und wenn sie hereinkommt, empfängt er sie mit denselben Vorwürfen:

»Sie sind ebenfalls im Bunde mit dieser Brut Hams; Sie treten für sie ein,« und so ging's weiter, eine halbe Stunde oder noch länger.

Dann fängt er an, die Rechnungen zu prüfen. Zugleich fällt ihm das Heu ein. Frol soll gehen und nachwägen, wieviel noch da ist, und meine Stiefmutter soll gehen und dem Wägen beiwohnen, während mein Vater berechnet, wieviel noch im Speicher sein sollte. Dem Anschein nach fehlt eine ganze Menge Heu, auch kann Uliana über das Verbleiben von mehreren Pfunden dieser oder jener Nahrungsmittel keine Rechenschaft geben. Vaters Stimme wird immer drohender, Uliana zittert, aber erst über den Kutscher, der eben eintritt, entlädt sich der ganze Grimm seines Herrn. Vater springt auf ihn los und schlägt ihn, doch der Kutscher wiederholt nur immer: »Eure Hoheit müssen sich geirrt haben!«

Vater macht seine Berechnung noch einmal, und diesmal kommt heraus, daß mehr Heu im Speicher ist, als dort sein sollte. Das Schelten hört darum nicht auf, denn nun wird dem Kutscher vorgeworfen, er habe den Pferden keine vollen Tagesrationen gegeben, aber der Kutscher ruft alle Heiligen als Zeugen an, er habe den Tieren ihr volles Teil zukommen lassen, und Frol beschwört die Jungfrau, die Beteurung des Kutschers zu bestätigen.

Doch Vater will sich nicht besänftigen lassen. Er ruft Makar, den Klavierstimmer und Unterkellermeister, herein und hält ihm seine Sünden neueren Datums vor. Vergangene Woche hat er sich betrunken, und gestern muß er wieder betrunken gewesen sein, denn er hat ein Dutzend Teller zerbrochen. In der Tat war das Zerbrechen dieser Teller die wahre Ursache des ganzen Aufruhrs; unsere Stiefmutter hatte Vater am Morgen davon erzählt, und das war der Grund, warum Uliana ärger als gewöhnlich gescholten wurde, warum die Berechnung und Wägung des Heuvorrats erfolgte, und warum Vater noch immer schreit, diese ›Brut Hams‹ verdiene jede Züchtigung auf Erden.

Auf einmal tritt eine Stille im Sturm ein. Mein Vater setzt sich an den Tisch und schreibt etwas auf ein Papier. »Nimm Makar mit diesem Schreiben zur Polizeistation und laß ihm hundert Hiebe mit dem Birkenstock aufzählen.«

Schrecken und Totenstille herrschen im Hause. Als die Glocke vier Uhr schlägt, gehen wir alle zum Mittagessen hinunter, aber niemand hat den geringsten Appetit, und die Suppe bleibt unberührt im Teller. Wir sind unser zehn zu Tisch, und hinter jedem steht ein Geiger oder ein Posaunenbläser mit einem reinen Teller in der Linken, aber Makar ist nicht darunter.

»Wo ist Makar?« fragte unsere Stiefmutter. »Ruf ihn herein!«

Makar kommt nicht, und der Befehl wird wiederholt. Schließlich tritt er, bleich, mit verzerrtem Gesicht und schamvoll die Augen niederschlagend, herein. Vaters Augen haften an seinem Teller, während unsere Stiefmutter uns zu der unberührten Suppe Lust machen will.

»Findet ihr nicht, Kinder,« sagt sie, »daß die Suppe köstlich ist?«

Tränen ersticken mich, und gleich nach dem Essen laufe ich hinaus, treffe Makar in einem dunkeln Gange und will ihm die Hand küssen. Doch er reißt sie weg und sagt – war es ein Vorwurf oder eine Frage? –: »Laß mich allein! Auch du, wirst du nicht genau ebenso sein, wenn du erwachsen bist?«

»Nein, nein, niemals!«

Dabei gehörte Vater keineswegs zu den schlimmsten Grundbesitzern; im Gegenteil, die Leibeigenen wie die Bauern hielten ihn für einen der besten. Was wir in unserm Hause sahen, geschah allenthalben und oft noch in viel erbarmungsloserer Weise. Das Auspeitschen von Leibeigenen gehörte zu den regelmäßigen Aufgaben der Polizei und Feuerwehr.

 

Einmal ließ ein Grundeigentümer einem andern gegenüber die Bemerkung fallen: »Warum, Euer Exzellenz, vermehrt sich auf Ihrem Besitz die Seelenzahl so langsam? Sie kümmern sich wahrscheinlich nicht um ihre Heiraten!«

Wenige Tage darauf kehrte der General auf sein Gut zurück. Er ließ sich eine Liste aller Dorfbewohner bringen und entnahm daraus die Namen aller Burschen, die das achtzehnte Lebensjahr erreicht hatten, sowie die der Mädchen über sechzehn Jahre – dies ist nach russischem Gesetz das heiratsfähige Alter. Dann schrieb er auf: »Johann soll Anna heiraten, Paul Paraschka«, und so weiter, im ganzen fünf Paare. »Die fünf Hochzeiten,« fügte er hinzu, »müssen in zehn Tagen, am übernächsten Sonntag, stattfinden.«

Ein allgemeiner Aufschrei der Verzweiflung erhob sich im Dorfe. In jedem Hause weinten die Frauen, die jungen wie die alten. Anna hatte Gregor zu freien gehofft, Pauls Eltern hatten schon mit den Fedotows wegen ihrer bald mannbaren Tochter gesprochen. Überdies war es nun die Zeit, wo die Äcker zu bestellen waren, nicht aber Hochzeiten zu veranstalten, und wie soll man in zehn Tagen ein Hochzeitsfest vorbereiten? Zu Dutzenden kamen die Bauern zu dem Grundherrn, seine Gnade anzurufen, und Gruppen von Bauernfrauen standen am hintern Herrenhauseingang mit auserlesenen Leinwandstücken für die Frau des Gutsbesitzers, um ihre Vermittlung zu gewinnen. Alles war umsonst. Der Gebieter hatte befohlen, die Hochzeiten sollten an dem bestimmten Tage stattfinden, und darum mußte es geschehen.

Zu der festgesetzten Zeit bewegten sich die Hochzeitszüge, in diesem Falle mehr wie Trauerzüge, zur Kirche. Laut weinten die Frauen, wie sie es bei Begräbnissen zu tun pflegten. Ein Hausdiener wurde zur Kirche geschickt, um es seinem Herrn zu melden, wenn die Trauungen vorüber wären; aber bald kam er, mit der Kappe in der Hand, bleich und bekümmert, zurückgelaufen und sagte:

»Paraschka will nicht, sie weigert sich, sich Paul antrauen zu lassen. Vater« (das heißt, der Priester) »fragte sie: ›Ist es dein Wille?‹ aber sie erwiderte laut: ›Nein, ich will nicht.‹«

Der Gutsherr wurde wütend. »Geh und sage dem langmähnigen Trunkenbold« (damit war der Pope gemeint; die russische Priesterschaft trägt langes Haar) »wenn Paraschka nicht sofort getraut wird, so werde ich ihn beim Erzbischof als Trunkenbold anzeigen. Wie kann der schmutzige Pope es wagen, mir den Gehorsam zu verweigern? Sag' ihm, man wird ihn in ein Kloster stecken und da verfaulen lassen, und Paraschkas Familie werde ich draußen auf meinem Steppengut ansiedeln.«

Der Diener überbrachte die Botschaft, Paraschkas Verwandte und der Priester umringten das Mädchen, weinend fiel ihr die Mutter zu Füßen und beschwor sie, nicht die ganze Familie ins Verderben zu stürzen. Das Mädchen sagte zwar immer noch: »Ich will nicht,« aber mit immer leiserer Stimme, bald nur noch flüsternd, bis sie schließlich stumm dastand. Man setzte ihr die Hochzeitskrone auf das Haupt, sie leistete keinen Widerstand mehr, und schleunigst rannte der Diener zurück mit der Meldung: »Sie sind verheiratet.«

Eine halbe Stunde später hörte man die kleinen Glocken der Hochzeitszüge am Tor des Herrenhauses. Die fünf Paare stiegen von den Wagen, schritten über den Hof und traten in den Saal. Der Grundherr empfing sie und bot ihnen Wein, während die Eltern, die hinter ihren weinenden Töchtern standen, diese aufforderten, sich vor ihrem Herrn zur Erde zu bücken.

Ehen auf Befehl waren etwas so Gewöhnliches, daß junge Leute unserer Dienerschaft, die merkten oder dachten, man wolle sie miteinander verheiraten, obwohl sie keine gegenseitige Zuneigung empfanden, diesem Unheil dadurch vorbeugten, daß sie bei einer Kindtaufe in irgend einer Bauernfamilie zusammen Gevatter standen, was nach den Satzungen der russischen Kirche eine Verehelichung unmöglich macht. Gewöhnlich war diese Kriegslist auch erfolgreich, doch einmal fand sie einen tragischen Abschluß. Der Schneider Andrei verliebte sich in ein Mädchen, das einem unserer Nachbarn gehörte. Er hoffte, mein Vater würde ihn gegen eine bestimmte Jahreszahlung sein Handwerk als Schneider frei ausüben lassen, und es würde ihm gelingen, durch angestrengte Arbeit so viel Geld, als zum Loskauf des Mädchens nötig war, zu erübrigen. Sonst wäre sie durch Verheiratung mit einem Leibeigenen meines Vaters selbst ebenfalls meinem Vater als dem Herrn ihres Mannes leibeigen geworden. Als daher Andrei und eines unserer Hausmädchen vermuteten, es würde ihnen eine Zwangsehe vorgeschrieben werden, verabredeten sie, gemeinsam die Patenschaft bei einem Täufling zu übernehmen. Ihre Annahme erwies sich als richtig: eines Tages ließ sie der Herr kommen und gab ihnen den gefürchteten Befehl.

»Wir sind Ihrem Willen allezeit gehorsam gewesen,« erwiderten sie, »aber vor wenigen Wochen waren wir beide Taufzeugen bei demselben Kinde.« Auch brachte Andrei seine Wünsche und Absichten vor. Die Folge davon war, daß er zur Militär-Aushebungsstelle geschickt wurde, um Soldat zu werden.

Unter Nikolaus I. gab es noch keine allgemeine Wehrpflicht wie jetzt. Adel und Kaufmannschaft waren dienstfrei, und wurde eine neue Aushebung angeordnet, so hatten die Grundbesitzer so und so viel Mann nach dem Verhältnis der Anzahl ihrer Leibeigenen zu stellen.

In der Regel führten die Bauern selbst die Rekrutenlisten für die betreffenden Dorfgemeinden, dagegen waren die Hausdiener ganz und gar der Gnade ihres Herrn überlassen, und traf einen dessen Unzufriedenheit, so schickte er ihn zu der Aushebungsstelle und löste dafür eine Rekrutenquittung. Ein solches Papier stellte einen beträchtlichen Geldwert dar, da es an jeden verkauft werden konnte, der als Rekrut eingezogen werden sollte und sich freimachen wollte.

In jener Zeit war der Kriegsdienst etwas Schreckliches. Fünfundzwanzig Jahre mußte man unter der Fahne bleiben, und das Soldatenleben war äußerst mühselig. Soldat sein, das bedeutete, für immer von der Heimat losgerissen und der Willkür von Offizieren vom Schlage des bereits erwähnten Timofejew preisgegeben zu sein. Das geringste Versehen wurde von den Offizieren durch Faustschläge oder durch Auspeitschen mit Birkenruten oder Stöcken bestraft. Die Grausamkeit, mit der man dabei verfuhr, übersteigt alle Vorstellungen. Selbst im Kadettenkorps, dem nur Söhne von Edelleuten angehörten, wurden manchmal wegen einer Zigarette tausend Streiche mit Birkenruten im Angesicht des ganzen Korps verabreicht, wobei der Arzt neben dem gemarterten Knaben stand und der Züchtigung nur dann Einhalt gebot, wenn der Puls nach seiner Wahrnehmung ganz stillzustehen drohte. Das blutige Opfer wurde bewußtlos ins Hospital getragen. Der Chef der Militärschulen, der Großfürst Michael, hätte den Direktor einer Kadettenanstalt, der nicht jährlich einen oder zwei solcher ›Fälle‹ gehabt hätte, bald seiner Stelle enthoben. ›Keine Mannszucht‹ würde er gesagt haben.

Viel schlimmer erging es noch den gemeinen Soldaten, wurde einer vor ein Kriegsgericht gestellt, so erfolgte gewöhnlich ein Spruch, zu dessen Ausführung tausend Mann in zwei Reihen, mit den Gesichtern einander zugekehrt, antraten, jeder mit einem Stock von der Dicke eines kleinen Fingers – die man mit dem deutschen Wort ›Spießruten‹ benannte – bewaffnet. Der Verurteilte wurde drei-, vier-, fünf- oder siebenmale zwischen den beiden Reihen durchgeschleppt und erhielt dabei von jedem Soldaten einen Schlag. Unteroffiziere gingen hinterdrein, um zu sehen, daß mit aller Kraft zugeschlagen würde. Nach tausend oder zweitausend Schlägen wurde das Opfer, blutspeiend, ins Hospital gebracht und gepflegt, damit die Züchtigung, sobald die Folgen der ersten Mißhandlung nur einigermaßen verwunden wären, fortgesetzt werden könnte. Starb der Unglückliche bei der Geißelung, so wurden die fehlenden Streiche dem Leichnam versetzt! Nikolaus I. und sein Bruder Michael kannten kein Erbarmen, ein Erlaß der Strafe trat unter keinen Umständen ein. ›Ich will dich Spießruten laufen lassen,‹ ›Du sollst die Haut unter den Stöcken lassen‹ sind Redensarten, die damals in den Sprachschatz übergingen.

Trauer und Schrecken erfüllte unser Haus, wenn es laut wurde, daß einer von unsern Dienern Rekrut werden sollte. Um einen Selbstmord zu verhüten, wurde der Betreffende in der Amtsstube in Ketten gelegt und bewacht. Ein Bauernwagen fuhr vor, und der Arme wurde von zwei Wächtern hinausgeführt. Die ganze Dienerschaft sammelte sich um ihn. Er verbeugte sich tief und bat jeden einzelnen um Verzeihung, wenn er ihm wissentlich oder unwissentlich Unrecht getan habe. Lebten sein Vater und seine Mutter im Orte, so kamen sie ebenfalls zum Abschied. Er beugte sich vor ihnen bis zur Erde, und seine Mutter und die übrigen weiblichen Verwandten fingen, halb singend, halb sagend, mit ihren lauten Klagen an: »Wem überlassest du uns? Wer sorget für dich in fremden Landen? Wer schützet dich vor den Händen der Grausamen?« ganz in der Weise und auch mit den Worten, wie es bei Leichenbegängnissen üblich war.

So mußte nun Andrei fünfundzwanzig Jahre das schreckliche Los eines Soldaten tragen, und alle Pläne von Glück und Freude hatten ein gewaltsames Ende gefunden.

 

Noch tragischer war das Geschick einer unserer Mägde, Pauline oder, wie sie gewöhnlich hieß, Polja. Sie hatte die feine Stickerei gelernt und leistete darin Bedeutendes. In Nikolskoje stand ihr Stickrahmen in Schwester Helenens Stube, und oft nahm sie an der Unterhaltung teil, die zwischen unserer Schwester und einer Schwester unserer Stiefmutter, die sich bei Helenen aufhielt, stattfand. Kurz und gut, ihrem Benehmen und ihrer Sprache nach glich Polja mehr einem gebildeten jungen Mädchen als einer Hausmagd.

Sie beging einen Fehltritt und merkte, daß sie bald Mutter werden würde. Sie erzählte alles meiner Stiefmutter, die in heftige Vorwürfe ausbrach: »Ich will dies Geschöpf nicht länger in meinem Hause haben! Ich will solche Schande nicht länger in meinem Hause dulden! O, das schamlose Geschöpf!« und so weiter. Helenens Tränen konnten nichts ändern. Polja wurde das Haar kurz geschnitten und sie selbst in eine Meierei verwiesen. Da sie aber gerade eine besonders feine Stickerei angefangen hatte, mußte sie diese in einer schmutzigen Hütte der Meierei an einem kleinen Fensterloch vollenden. Sie machte sie fertig und noch zahlreiche andere Stickereien, immer in der Hoffnung, sie würde Verzeihung finden. Doch die Verzeihung blieb aus.

Der Vater ihres Kindes, der Diener eines benachbarten Gutsbesitzers, bat flehentlich um die Erlaubnis, sie heiraten zu dürfen, aber da er kein Geld hatte, wies man ihn zurück, Poljas zu ›feine Manieren‹ wurden als eine Beleidigung empfunden, und es stand ihr das bitterste Los bevor. Zu unserm Haushalt gehörte auch ein Mann, der wegen seiner Zwerggestalt als Postillon Verwendung fand; man nannte ihn allgemein ›krummbeiniger Filka‹. Als er noch ein Knabe war, hatte ihn ein furchtbarer Hufschlag getroffen, und seitdem wuchs er nicht mehr. Seine Beine waren krumm, seine Füße einwärts gerichtet, seine Nase zerbrochen und nach einer Seite gewendet, seine Kinnbacken mißgestaltet. Dieses Schreckbild sollte Polja heiraten, und man zwang sie auch gewaltsam dazu. Das Paar wurde nachher auf unserer Rjäsanschen Besitzung angesiedelt.

Daß Leibeigene Gefühle haben wie andere Menschen, das wollte man nicht wahr haben, ja, das glaubte man auch nicht, und als Turgenjew seine kleine Erzählung ›Mumu‹ veröffentlichte und Grigorowitsch seine ergreifenden Novellen herauszugeben begann, in denen er seine Leser über die Leiden von Leibeigenen Tränen vergießen ließ, war das für sehr viele Leute eine überraschende Enthüllung. »Sie lieben ganz wie wir; ist das möglich?« riefen die empfindsamen Damen, die keine französische Novelle lesen konnten, ohne durch das traurige Schicksal des edlen Helden oder der hochgeborenen Heldin zu Tränen gerührt zu werden.

 

Die Ausbildung, die die Herren manchmal einem oder dem andern Leibeigenen zuteil werden ließen, war nur eine weitere Quelle von Unheil für den Betreffenden. So wurde einmal mein Vater auf einen begabten Knaben in einem seiner Bauernhäuser aufmerksam und ließ ihn zum Heilgehilfen ausbilden. Der Knabe war eifrig und hatte nach wenigen Lehrjahren eine große Fertigkeit erlangt. Als er wieder heimkam, schaffte mein Vater alles an, was zu einer gut ausgestatteten Apotheke gehört, die in einem Nebengebäude in Nikolskoje sehr hübsch eingerichtet wurde. Den Sommer über war ›Doktor Sascha‹ – so nannten wir im Hause den jungen Mann – damit beschäftigt, allerhand heilkräftige Pflanzen zu sammeln und zu präparieren, und in kurzem war er in der ganzen Umgegend außerordentlich beliebt und gesucht. Kranke Bauern kamen aus den Nachbardörfern, und mein Vater war stolz auf diesen Ruf seiner Apotheke. Aber dieser Zustand dauerte nicht lange. In einem Winter kam mein Vater nach Nikolskoje, blieb ein paar Tage daselbst und reiste dann wieder ab. In der Nacht darauf erschoß sich Doktor Sascha – durch einen unglücklichen Zufall, hieß es, aber es lag eine unglückliche Liebe zu Grunde. Er hatte sich in ein Mädchen verliebt, das er nicht heiraten konnte, weil es die Leibeigene eines andern Grundbesitzers war.

Einem andern jungen Menschen, Gerasim Kruglow, den mein Vater die Moskauer Ackerbauschule besuchen ließ, erging es fast ebenso traurig. Er bestand die Prüfungen vorzüglich, erhielt eine goldene Medaille, und der Institutsdirektor machte die größten Anstrengungen, meinen Vater zu bewegen, daß er Gerasim die Freiheit schenkte und ihm so den Besuch der Universität ermöglichte, deren Pforten Leibeigenen verschlossen waren. »Er wird sicher ein bedeutender Mann werden,« sagte der Direktor, »und vielleicht einmal zu den größten Gelehrten Rußlands gehören, und es wird Ihnen zur Ehre gereichen, seine Fähigkeiten erkannt und der russischen Wissenschaft eine solche Kraft gewonnen zu haben.«

»Ich brauche ihn für meine eigenen Besitzungen,« war Vaters Erwiderung auf die wiederholte Fürsprache zu Gunsten des jungen Mannes. In Wahrheit war Gerasim Kruglow bei dem primitiven Wirtschaftsbetriebe, der damals im Schwange war und auf dessen Änderung mein Vater niemals eingegangen wäre, völlig überflüssig. Er führte eine Vermessung des Gutes aus, aber als er damit fertig war, mußte er mit den andern Dienern in der Dienerstube bleiben und wie diese mit dem Teller in der Hand beim Essen aufwarten. Natürlich empfand das Gerasim sehr übel, denn seine Träume führten ihn zur Universität, zu wissenschaftlicher Beschäftigung. Seine Blicke verrieten seine Unzufriedenheit, und meiner Stiefmutter schien es eine besondere Befriedigung zu gewähren, seine Gefühle bei jeder Gelegenheit zu verletzen. Als einmal an einem Herbsttage ein Windstoß das Einfahrtstor aufgerissen hatte, rief sie ihm zu: »Garaska, geh und mache das Tor zu!«

Das brachte das volle Gefäß zum Überlaufen. Er erwiderte: »Dazu ist ja der Türhüter da« und ging seines Weges.

Hierauf eilte meine Stiefmutter in Vaters Zimmer und schrie mit Tränen in den Augen: »Ihre Dienstboten beleidigen mich in Ihrem Hause! Wollen Sie das erlauben?«

Sofort wurde Gerasim festgenommen und in Ketten gelegt, um unter die Soldaten gesteckt zu werden. Der Abschied von seinen alten Eltern war eine der herzzerreißendsten Szenen, die mir je vor Augen kamen.

Doch in diesem Falle blieb die Rache des Schicksals nicht aus. Nikolaus I. starb, und der Dienst im Heere war nicht mehr so unerträglich. Man wurde bald auf Gerasims Gewandtheit aufmerksam, und nach wenigen Jahren war er einer der ersten Hilfsbeamten und eigentlich die einzige wertvolle Arbeitskraft in einer Abteilung des Kriegsministeriums. Nun geschah es, daß mein Vater, der durchaus ehrlich war und zu einer Zeit, wo fast jeder im Trüben fischte, sich niemals bestechen ließ, seinem Korpschef zum Gefallen einmal von den strengen Vorschriften des Dienstes abwich und gegen irgendeine Unregelmäßigkeit die Augen verschloß. Fast hätte ihm dies die Beförderung zum Generalsrange, das einzige Ziel seiner fünfunddreißigjährigen militärischen Laufbahn, gekostet. Meine Stiefmutter ging nach Petersburg, die Schwierigkeit aus dem Wege zu räumen, und dort sagte man ihr, das einzige Mittel zur Erreichung ihres Zieles sei die Gewinnung eines besonderen Beamten in einer bestimmten Abteilung des Kriegsministeriums. Wenn dies auch nur ein Hilfsbeamter sei, so sei er doch in Wahrheit der Chef seiner Vorgesetzten und könne alles durchsetzen. Dieser Mann hieß – Gerasim Iwanowitsch Kruglow!

»Denke dir, unser Garaska!« erzählte sie mir nachher. »Ich wußte längst, daß er bedeutende Fähigkeiten besaß. Ich suchte ihn auf und sprach mit ihm über die Angelegenheit, und er sagte: ›Ich habe nichts gegen den alten Fürsten und werde für ihn tun, was in meiner Macht steht.‹«

Gerasim hielt Wort; er erstattete einen günstigen Bericht, und mein Vater wurde General. Endlich konnte er die langersehnten roten Hosen und den rotgestreiften Uniformrock anlegen und den Federbusch auf seinem Helme tragen.

 

Das habe ich alles in meiner Kindheit selbst mit angesehen. Wollte ich aber wiedergeben, was mir damals zu Ohren kam, so hätte ich weit Gräßlicheres zu erzählen: Geschichten von Männern und Frauen, die man von ihren Familien und aus ihren Heimatsdörfern fortriß und verkaufte, oder beim Spiel verlor, oder gegen ein paar Jagdhunde umtauschte und dann irgendwohin in einen weit entfernten Teil Rußlands wegführte, um dort neue Güter anzulegen; von Kindern, die man ihren Eltern wegnahm und an grausame oder sittenlose Herren verkaufte; von Auspeitschungen (im Stall), die jeden Tag mit unerhörter Grausamkeit vor sich gingen; von einem Mädchen, das sich nicht anders retten konnte, als daß sie den Tod im Wasser suchte; von einem alten Manne, der im Dienste seines Herrn grau geworden war und sich schließlich unter dem Fenster seines Herrn aufhängte; von Bauernaufständen, die Nikolaus' I. Generäle unterdrückten, indem sie jeden zehnten oder fünften Mann zu Tode geißeln ließen und das Dorf verheerten, dessen Bewohner nach der militärischen Exekution in den Nachbarprovinzen um Brot betteln gingen. Was endlich die Armut betrifft, die ich auf unsern Reisen in manchen Dörfern, besonders in solchen auf kaiserlichem Grundbesitz, zu sehen bekam, so reichen Worte nicht aus, dem Leser eine Vorstellung von dem Elend zu geben, wenn er es nicht selbst gesehen hat.

 

Frei zu werden war der beständige Traum der Leibeigenen, ein schwer zu verwirklichender Traum, da der Grundbesitzer sich nur um eine hohe Geldsumme zur Freigebung bewegen ließ.

»Weißt du?« erzählte mir einmal mein Vater, »daß mir deine Mutter nach ihrem Tode erschienen ist? Ihr Jungen wollt an solche Dinge nicht glauben, aber es war so. Ich saß einmal spät abends auf diesem Stuhl am Schreibtisch und war halb eingeschlummert, da sah ich sie dort hinten eintreten, ganz weiß gekleidet, ganz bleich und mit ihren glänzenden Augen. Als sie im Sterben lag, bat sie mich um das Versprechen, ihre Dienerin Mascha freizugeben, und ich versprach es ihr. Dann kam aber dies und das dazwischen, und es verging fast ein volles Jahr, ohne daß ich meine Absicht ausgeführt hätte. Da erschien sie mir und sagte mit leiser Stimme: ›Alexis, du hast mir versprochen, Mascha die Freiheit zu geben; hast du es vergessen?‹ Ich war ganz entsetzt; ich sprang vom Stuhl empor, aber sie war verschwunden. Ich rief die Diener, aber niemand hatte sie gesehen. Am nächsten Morgen ging ich zu ihrem Grabe und ließ eine Litanei singen, auch gab ich Mascha sofort frei.«

Als mein Vater starb, kam Mascha zu seinem Begräbnis, und ich sprach mit ihr. Sie war verheiratet und führte ein glückliches Familienleben. Mein Bruder Alexander erzählte ihr in seiner scherzhaften Weise, was mein Vater gesagt hätte, und wir fragten sie, ob ihr etwas davon bekannt wäre.

»Seitdem,« erwiderte sie, »ist eine lange Zeit vergangen, und ich kann Ihnen darum die volle Wahrheit sagen. Ich sah, daß Ihr Vater sein Versprechen ganz vergessen hatte, und so hüllte ich mich in weiße Gewänder und ahmte die Stimme Ihrer Mutter nach. Ich erinnerte ihn an das Versprechen, das er ihr gegeben hatte – Sie werden mir darum nicht zürnen, wie?«

»Natürlich nicht!«

Zehn oder zwölf Jahre waren seit den Szenen verronnen, die ich im ersten Teile dieses Kapitels beschrieben habe, und ich saß eines abends im Zimmer meines Vaters und sprach mit ihm von vergangenen Zeiten. Die Leibeigenschaft war aufgehoben, und mein Vater klagte, wenn auch nicht eben heftig, über die neuen Zustände; er hatte sie im ganzen mit ziemlichem Gleichmut hingenommen.

»Sie müssen zugeben, Vater,« sagte ich, »daß Sie Ihre Leibeigenen oft grausam gestraft haben, auch ohne Grund.«

»Mit dem Volke,« erwiderte er, »konnte man gar nicht anders auskommen« und, sich in seinen Armstuhl zurücklehnend, blieb er in Gedanken versunken. »Aber was ich tat,« fuhr er nach einer langen Pause fort, »ist nicht der Rede wert. Nimm nur den Sablew, er sieht so sanftmütig aus und hat ein so leises Stimmchen, aber gegen seine Leibeigenen war er wirklich furchtbar. Wie oft haben sie ihn ermorden wollen! Ich habe mich wenigstens nie an meinen Mägden vergriffen, aber der alte Teufel T – hat's so arg getrieben, daß die Bauernweiber ihn auf eine schreckliche Weise strafen wollten … Schlaf wohl.«

*


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