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Vierzehntes Kapitel.

Annektierung und Besiedelung der Amurprovinz. – Auf dem Amur. – Ein Typhon. – Als Kurier nach Petersburg.

 

Da ich sah, daß in Tschita für Reformarbeit kein Raum mehr war, nahm ich im Sommer 1863 gern die Einladung zu einem Besuche der Amurprovinz an.

Das ungeheure Gebiet auf dem linken (nördlichen) Ufer des Amur und längs der pacifischen Küste bis hinunter zur Bucht Peters des Großen (Wladiwostok) war vom Grafen Murawjew für Rußland, fast gegen den Willen der maßgebenden Stelle in Petersburg und jedenfalls ohne große Unterstützung durch dieselbe, ›annektiert‹ worden. Als er den kühnen Plan faßte, den mächtigen Strom, dessen südliche Lage und fruchtbare Ländereien seit zweihundert Jahren große Anziehungskraft auf die Sibirier ausgeübt hatten, in Besitz zu nehmen, und als er kurz vor der Erschließung Japans für die Europäer sich entschloß, Rußland am pacifischen Gestade eine starke Stellung zu schaffen und den Vereinigten Staaten die Hände zu reichen, hatte er fast alles in Petersburg gegen sich: das Kriegsministerium, das keine Mannschaften zur Verfügung hatte, das Finanzministerium, weil es kein Geld für annektierte Landesteile hergeben wollte, und besonders das Ministerium des Auswärtigen, das sich beständig von der Furcht vor ›diplomatischen Verwicklungen‹ leiten ließ. So mußte Murawjew auf seine eigene Verantwortung handeln und sich für sein großes Unternehmen mit den dürftigen Mitteln begnügen, die ihm das dünnbevölkerte Ostsibirien bieten konnte. Dazu war große Eile geboten, um den sicher nicht ausbleibenden Protesten der westeuropäischen Diplomaten ein ›fait accompli‹ entgegenhalten zu können.

Eine nur nominelle Besitzergreifung wäre wertlos gewesen, und es bestand daher der Plan, am ganzen langen Strombett des Amur und seines südlichen Nebenflusses, des Usuri, entlang, das heißt auf eine Strecke von vollen 500 Meilen, eine Kette selbständiger Niederlassungen zu gründen und so eine regelmäßige Verbindung zwischen Sibirien und der pacifischen Küste herzustellen. Zu diesen Niederlassungen brauchte man Menschen, und da die spärliche Bevölkerung Ostsibiriens nicht die nötige Zahl abgeben konnte, mußte Murawjew zu ungewöhnlichen Mitteln seine Zuflucht nehmen. Entlassene Verbrecher, die als Leibeigene in den kaiserlichen Bergwerken arbeiteten, gab man frei und organisierte sie als transbaikalische Kosaken. Sie wurden zum Teil am Amur und Usuri angesiedelt und bildeten zwei neue Kosakengemeinden. Sodann erwirkte Murawsew die Entlassung von tausend zur Zwangsarbeit verurteilten Verbrechern, zumeist Dieben und Mördern, die als freie Männer am untern Amur angesiedelt werden sollten. Er gab ihnen selbst bei ihrem Auszuge das Geleit, und als sie aufbrechen sollten, hielt er am Flußufer, eine Ansprache an sie. »Geht, meine Kinder,« sagte er, »seid dort frei, bestellt das Feld, macht es zu russischem Land, fangt ein neues Leben an,« und so fort. Die russischen Bauernfrauen folgen fast immer freiwillig ihren Männern, wenn diese zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt werden, und daher hatten viele von den künftigen Kolonisten ihre Familien bei sich. Aber die keine Familien hatten, hielten Murawjew entgegen: »Wie soll man Ackerbau treiben, wenn man keine Frau hat! Man sollte uns Weiber geben.« Darauf befahl Murawjew, alle zu Zwangsarbeit verurteilten Frauen, die sich an dem Platze befanden – es waren ihrer an hundert – zu entlassen, und bot ihnen an, sich einen Mann auszusuchen. Doch die Zeit drängte, das Hochwasser des Flusses ging schnell zurück, und die Flöße mußten abgelassen werden. So ließ Murawjew die Leute paarweise auf dem Ufer antreten, segnete sie und sagte: »Ich vereheliche euch, Kinder. Seid gut zueinander; ihr Männer, mißhandelt eure Weiber nicht – und seid glücklich!«

Ich sah diese Ansiedler sechs Jahre danach. Ihre Dörfer waren arm, denn sie hatten das Land, das man ihnen anwies, erst vom Urwald säubern müssen, aber alles in allem waren diese Kolonien mindestens kein Mißerfolg, und die Murawjewschen Ehen waren nicht weniger glücklich, als es Ehen im Durchschnitt sind. Innocentus, der vortreffliche, einsichtsvolle Bischof der Amurprovinz, erkannte später diese Ehen wie die daraus entsprossenen Kinder als rechtmäßige an und bewirkte ihre Eintragung in die Kirchenbücher.

Weniger Erfolg hatte Murawjew aber mit einer andern Menschensorte, mit der er die Bevölkerung Ostsibiriens bereicherte. In seiner Menschennot hatte er ein paar tausend Mann von den Strafbataillonen genommen. Sie wurden als ›Adoptivsöhne‹ in den Kosakenfamilien untergebracht oder in geschlossenen Haushaltungen in den Dörfern der Sibirier angesiedelt. Aber ein zehn- oder zwanzigjähriges Barackenleben unter der schauderhaften Disziplin der Nikolaitischen Zeit bildete jedenfalls keine rechte Vorbereitung für ein Lieben als Ackerbauer. Die ›Söhne‹ liefen ihren Adoptivvätern davon und gingen in der zu- und abströmenden Bevölkerung der sibirischen Städte auf, wo sie als Tagelöhner von der Hand in den Mund lebten, den Verdienst größtenteils vertranken und dann sorglos wie die Vögel auf eine neu sich bietende Arbeitsgelegenheit warteten.

Das bunte Gemisch von transbaikalischen Kosaken, früheren Sträflingen und ›Söhnen‹ – die man in solcher Eile oft ohne jede Vorbereitung an den Ufern des Amur angesiedelt hatte – kam jedenfalls zu keinem großen Gedeihen, zumal am untern Laufe des Stromes und am Usuri, wo fast jedes Quadratkilometer Land dem subtropischen Urwald abgewonnen werden mußte, wo die furchtbaren vom Juli-Monsun herbeigeführten Regengüsse, Überschwemmungen im größten Maßstabe, Millionen von Zugvögeln und dergleichen beständig die Ernte vernichteten und schließlich die Bevölkerung mancher Bezirke geradezu zur Verzweiflung und Apathie brachten.

Es mußten daher beträchtliche Mengen von Salz, Mehl, Salzfleisch und so weiter alljährlich für den Unterhalt des ständigen Militärs wie auch der Ansiedler am untern Amur verschifft werden, und man baute zu diesem Zwecke jedes Jahr in Tschita mehr als hundertundfünfzig Barken und ließ sie mit dem ersten Frühjahrshochwasser die Ingoda, die Schilka und den Amur hinunterschwimmen. Die ganze Flottille wurde in Geschwader von zwanzig bis dreißig Barken geteilt, die man den Befehlen einer Anzahl Kosaken und Beamten unterstellte. Diese verstanden zumeist nicht viel von Schiffahrt, aber man konnte sich bei ihnen wenigstens darauf verlassen, daß sie die Vorräte nicht stehlen und dann als verloren melden würden. Mich hatte man zum Assistenten des Chefs dieser ganzen Flottille – nennen wir ihn Major Marowsky – gemacht.

Bei den ersten Erfahrungen, die ich in meiner neuen Eigenschaft als Schiffsführer machte, war ich nicht durchweg vom Glück begünstigt. Ich sollte zufällig mit ein paar Barken so schnell als möglich bis zu einem bestimmten Punkte des Amur gehen und dort die Fahrzeuge abgeben. Dabei war ich auf Leute gerade aus der Klasse der schon erwähnten ›Söhne‹ angewiesen. Keiner von ihnen hatte je etwas mit Flußschiffahrt zu tun gehabt, so wenig wie ich selbst. Am Morgen unseres Abfahrtstages mußte meine Mannschaft aus den Wirtshäusern des Ortes zusammengelesen werden, und die meisten waren zu so früher Tagesstunde schon so betrunken, daß sie erst durch ein Bad im Flusse zur Besinnung gebracht werden konnten. Als die Fahrt begonnen hatte, mußte ich sie alles lehren, was zu tun war. Immerhin ging die Sache bei Tage noch ziemlich glatt; die Barken schwammen, von der reißenden Strömung getragen, von selbst den Fluß hinunter, und meine zwar gänzlich unerfahrene Mannschaft hatte doch kein Interesse daran, die Fahrzeuge am Ufer stranden zu lassen, das würde ja eine besondere Anstrengung erfordert haben. Als aber die Dunkelheit heraufzog, und es Zeit wurde, unsere mächtigen, schwerbeladenen Barken ans Ufer zu bringen und für die Nacht zu befestigen, wurde ein Fahrzeug, das weit vor dem, auf welchem ich mich befand, schwamm, erst angehalten, als es bereits auf einem Felsen aufsaß, am Fuße eines furchtbar hohen, unübersteigbaren Vorsprunges. Da saß es unbeweglich fest, während das Niveau des momentan von Regengüssen geschwellten Flusses reißend schnell fiel. Meine zehn Mann waren offenbar außerstande, das Fahrzeug wieder flott zu machen. Ich ruderte zum nächsten Dorfe, um mir bei den Kosaken Hilfe zu holen, und sandte auch einen Boten nach der etwa vier Meilen entfernten Station eines mir befreundeten Kosakenoffiziers, der in solchen Dingen Erfahrung besaß.

Der Morgen brach an; hundert Kosaken, Männer und Frauen, kamen zu meiner Unterstützung herbei, aber es ließ sich auf keine Weise zum Zwecke der Entladung eine Verbindung zwischen Barke und ebenem Ufer herstellen, so tief lag das Wasser unter dem Felsenvorsprung. Sobald wir aber versuchten, das Fahrzeug vom Felsen abzubringen, brach der Boden ein, das Wasser drang ungehemmt hinein und spülte das Mehl und das Salz, womit die Barke beladen war, fort. Mit großer Bestürzung blickte ich auf die kleinen Fische, die durch das Loch hereindrangen und in großer Zahl in der Barke herumschwammen. Hilflos stand ich da und wußte nicht, was ich tun sollte. Es gibt für solche Fälle ein sehr einfaches und wirksames Mittel: man stopft in das Loch einen Mehlsack, der sich der Form desselben bald anpaßt, während die äußere Breikruste, die sich im Sacke bildet, das Wasser nicht durchs Mehl dringen läßt; aber keiner von uns kannte dieses Mittel.

Glücklicherweise kam wenige Minuten später eine Barke in Sicht, die flußabwärts auf uns zusteuerte. Das Erscheinen des Schwans, der Lohengrin herbeiführte, wurde von der verzweifelten Elsa nicht mit größerer Begeisterung begrüßt als das plumpe Fahrzeug von mir. Der Nebel, der in dieser frühen Morgenstunde auf der schönen Schilka lag, erhöhte noch das poetische der Erscheinung. Es war mein Freund, der Kosakenoffizier, der aus meiner Schilderung gleich richtig erkannt hatte, daß keine menschliche Kraft imstande sei, meine Barke vom Felsen abzubringen und vor dem Untergange zu bewahren, und der daher eine leere Barke, über die er zufällig verfügte, zur Aufnahme der Ladung aus dem gescheiterten Fahrzeuge mitbrachte.

Nun wurde das Leck verstopft, das Wasser ausgepumpt, und die Ladung in die neue Barke hinüberbefördert, und am nächsten Morgen konnte ich meine Reise fortsetzen. Dieser Zwischenfall und die dabei gewonnene Erfahrung war mir von großem Nutzen, und bald erreichte ich, ohne weitere erwähnenswerte Abenteuer erlebt zu haben, meinen Bestimmungort am Amur. Jeden Abend fanden wir eine steile, aber verhältnismäßig niedrige Uferstelle, wo wir mit den Barken anlegen konnten, und bald waren unsere Feuer am Gestade des schnellen klaren Flusses inmitten der schönsten Gebirgslandschaft angezündet. Am Tage kann man sich kaum eine angenehmere Reise denken als an Bord einer Barke, die sich leicht und lustig, ohne die lästigen Geräusche eines Dampfers hinabtragen läßt und höchstens hin und wieder eines Schlages mit ihrem mächtigen Ruder am Hinterteil bedarf, um in der Hauptströmung zu bleiben. Für den Naturfreund bieten der Unterlauf der Schilka und der Oberlauf des Amur, wo ein außerordentlich schöner, breiter und schneller Strom inmitten einer gewaltigen Berglandschaft zwischen steilansteigenden, bewaldeten, sich ein paar tausend Fuß über das Wasser erhebenden Felsen dahinfließt, die entzückendsten Szenerien von der Welt. Aber infolge eben dieser Felsvorsprünge wird ein Ritt am Ufer entlang auf dem schmalen dort verlaufenden Pfade außerordentlich erschwert. Das erfuhr ich noch in jenem Herbste zu meinem eigenen Schaden. In Ostsibirien waren die sieben letzten Stationen an der Schilka (eine Strecke von etwa vierundzwanzig Meilen) als ›die sieben Todsünden‹ bekannt. Dieser Teil der transsibirischen Eisenbahn wird, wenn er überhaupt je gebaut wird, ungezählte Summen kosten, weit mehr als die Bahnlinie der kanadischen Überlandbahn, soweit sie in den Felsengebirgen im Canon des Fraserflusses verläuft, gekostet hat.

Nachdem ich meine Barken abgeliefert hatte, fuhr ich auf einem der dort verkehrenden Postboote etwa zweihundert Meilen den Amur hinunter. Das Hinterteil des Bootes hatte ein Verdeck, und vorn stand eine mit Erde gefüllte Kiste, auf der ein Feuer zum Kochen der Speisen unterhalten wurde. Meine ganze Mannschaft bestand aus drei Mann, wir mußten uns beeilen und pflegten daher abwechselnd den ganzen Tag hindurch zu rudern, während das Boot nachts der Strömung überlassen blieb. Auch ich übernahm dann drei oder vier Stunden die Wache, wobei es galt, das Boot in der Mitte des Stromes zu halten und zu verhüten, daß es in irgend einen Nebenarm hineingetrieben würde. Diese Wachen, bei denen der Vollmond über der glitzernden Fläche schwebte und die dunklen Hügel sich im Wasser widerspiegelten, waren über alle Beschreibung schön. Meine Ruderer gehörten zu den oben erwähnten ›Söhnen‹, es waren drei Vagabunden, die im Rufe unverbesserlicher Diebe und Räuber standen, und dabei hatte ich einen schweren Sack voll Banknoten, Silber und Kupfer bei mir. In Westeuropa würde man eine solche Reise auf einem verkehrslosen Strome für gefährlich halten, nicht so in Ostsibirien. Ich hatte auf meiner Reise nicht einmal eine alte Pistole bei mir und fand in meinen drei Vagabunden vorzügliche Reisebegleiter. Nur als wir uns Blagowestschensk näherten, wurden sie unruhig. »Der Chanschina« (chinesischer Branntwein) »ist dort billig,« klagten sie mit schweren Seufzern; »'s gibt sicher 'n Unglück. »Er ist billig, und er schlägt einen um im Augenblick, weil man nicht dran gewöhnt ist!« Ich schlug ihnen vor, ich wollte das Geld, das sie zu erhalten hatten, einem Freunde geben, der sie mit dem ersten Dampfer fortbringen würde. »Das würde uns nichts helfen,« erwiderten sie wehmütig. »Man wird uns ein Glas anbieten, billig ist er, und ein Glas schlägt einen um!« Dabei blieben sie. Sie waren wirklich in Verlegenheit, und als ich nach ein paar Monaten auf meiner Rückreise wieder durch die Stadt kam, erfuhr ich, daß einen von ›meinen Söhnen‹, wie sie die Leute in der Stadt nannten, wirklich ›ein Unglück‹ getroffen hatte. Als er das letzte Paar Stiefel verkauft hatte, um sich das giftige Getränk zu verschaffen, hatte er einen Diebstahl begangen und war ins Gefängnis gekommen. Mein Freund brachte ihn schließlich heraus und sorgte dafür, daß er zurückfuhr.

Nur wer den Amur gesehen hat oder den Mississippi oder den Nang-tse-kiang kennt, kann sich eine Vorstellung davon machen, was für ein ungeheurer Strom der Amur nach seiner Vereinigung mit dem Sungari ist, und hat ein wirkliches Bild davon, was für erschreckliche Wogen bei stürmischem Wetter über seine Wasserfläche rollen. Wenn die Monsune im Juli die Regenzeit bringen, schwellen der Sungari, der Usuri und der Amur vom Zufluß unendlicher Wassermengen an, Tausende niedriger, sonst mit Weidendickicht bestandener Inselchen werden überschwemmt oder fortgespült, und die Weite des Stromspiegels erreicht stellenweise drei, vier, ja sechs Kilometer. Das Wasser stürzt sich in die Seitenarme und die Seen, die sich in den Niederungen neben dem Hauptarme hinziehen, und wenn ein scharfer Ostwind der Strömung entgegenbläst, so rollen gewaltige Wellen, noch höher, als man sie im Mündungsbecken des St. Lorenz zu sehen bekommt, den Hauptstrom wie die Seitenarme hinauf. Noch schlimmer ist es, wenn ein Typhon vom Gelben Meere her bläst und in die Amurgegend einfällt.

Wir erlebten einen solchen Typhon. Ich befand mich damals an Bord eines großen mit einem Verdeck versehenen Bootes zusammen mit Major Marowsky, den ich in Blagowestschensk traf. Er hatte sein Boot so aufgetakelt, daß es dicht am Winde segelte, und als der Sturm losbrach, konnten wir das Fahrzeug auf die geschützte Seite des Stromes bringen und uns in einen kleinen Nebenarm flüchten. Dort blieben wir zwei Tage, während deren der Sturm mit solcher Wut raste, daß ich mich, als ich ein paar hundert Meter in den nahen Wald gegangen war, wegen der großen Zahl mächtiger Bäume, die um mich herum vom Winde umgestürzt wurden, wieder zurückziehen mußte. Schwere Sorge um unsere Barken befiel uns. Offenbar hatten sie, wenn sie an dem Morgen unterwegs waren, die geschützte Flußseite nicht mehr erreichen können und waren vom Sturme gegen das andere Ufer getrieben und dort zerschellt worden. Ein Unglück schien kaum zweifelhaft.

Sobald die Wut des Sturmes nachgelassen hatte, segelten wir von unserm Zufluchtsort fort, wir wußten, daß wir zwei Barkenabteilungen bald treffen mußten, aber wir segelten einen Tag, zwei Tags, und keine Spur von Barken war zu sehen. Mein Freund Marowsky konnte nicht mehr schlafen und essen und sah aus, als wäre er eben schwer krank gewesen. Den ganzen Tag saß er regungslos auf dem Deck und murmelte: »Alles ist verloren, alles ist hin.« Dörfer gibt es nur wenige und in weiten Zwischenräumen in diesem Teile der Amurprovinz, und niemand konnte uns irgend welche Auskunft geben. Es brach von neuem ein Sturm los, und als wir bei Tagesanbruch ein Dorf erreichten, erfuhren wir endlich, es seien keine Barken vorübergekommen, aber große Mengen von Schiffstrümmern habe man am Tage vorher den Strom hinuntertreiben sehen. Es war kein Zweifel, daß wenigstens vierzig Barken mit einer Ladung von etwa zweitausend Tonnen verloren gegangen waren. Dies bedeutete eine sichere Hungersnot für die untere Amurgegend, wenn nicht vom nächsten Frühjahr noch Lebensmittel herbeigeschafft wurden; aber das Ende der wasserreichen Zeit war schon nahe, die Schiffahrt mußte bald aufhören, und eine Telegraphenlinie gab es damals am Strom entlang noch nicht.

Wir hielten Beratung und kamen zu dem Beschluß, Marowsky sollte mit möglichster Beschleunigung zur Amurmündung segeln und den Versuch machen, in Japan noch vor dem Schluß der Schiffahrt Getreide einzukaufen. Inzwischen sollte ich so schnell als möglich stromaufwärts gehen, den Umfang der erlittenen Verluste feststellen und alles daransetzen, um die 400 Meilen den Amur und die Schilka aufwärts im Boot, zu Pferde oder mit dem Dampfer schnell hinter mich zu bringen. Je eher ich die Tschitaer Behörden benachrichtigen und, was sich von Lebensmitteln zusammenraffen ließ, fortschicken konnte, desto besser. Vielleicht war es zu ermöglichen, daß die Sendung wenigstens zum Teil noch im selben Herbst den oberen Amur erreichte, von wo sie dann im nächsten Frühjahr um so zeitiger nach dem Niederland verschifft werden konnte. Ein Gewinn von wenigen Wochen oder selbst Tagen war vielleicht im Falle einer Hungersnot von ungeheurem Werte.

Den ersten Teil der vierhundert Meilen legte ich im Ruderboot zurück, und nahm in jedem Dorf, das heißt, etwa alle vier Meilen, frische Ruderer. Es ging sehr langsam vorwärts, aber es kam vielleicht in zwei Wochen kein Dampfer den Strom herauf, und inzwischen hoffte ich bis an die Stelle zu kommen, wo die Barken gescheitert waren, und zu sehen, ob etwas von den Lebensmitteln gerettet war. Dann konnte ich von der Mündung des Usuri (Chabarowsk) möglicherweise einen Dampfer benutzen. Die Kähne, die ich in den Dörfern erhielt, waren jämmerlich, und das Wetter war stürmisch. Wir hielten uns natürlich am Ufer, mußten aber hier und da einen Nebenarm des Amur von beträchtlicher Breite durchschneiden, und die Wellen, die der starke Wind erregte, drohten jeden Augenblick unser kleines Fahrzeug zum Kentern zu bringen. Eines Tages mußten wir über einen 700 Meter breiten Flußarm, auf dem sich kurze stürmische Wellen berghoch erhoben. Meine Ruderer, zwei Bauern, wurden von Schrecken ergriffen, ihre Gesichter wurden weiß wie Papier, und ihre blauen zitternden Lippen murmelten Gebete. Nur ein fünfzehnjähriger Knabe, der das Steuer führte, hielt in voller Ruhe sein wachsames Auge auf die Wellen gerichtet. Wenn sie einen Augenblick um uns herum zu sinken schienen, glitten wir dazwischen hindurch, aber wenn sie sich in bedrohlicher Höhe vor uns anstürmten, gab unser junger Steuermann dem Boote eine kleine Wendung und brachte es sicher durch die Wogen. Jede Welle füllte das Boot mit Wasser, und ich schöpfte es mit einem alten Ruder aus, wobei ich öfters wahrnehmen mußte, daß es schneller stieg, als ich es ausschaufeln konnte. Einmal, als das Boot von zwei solchen mächtigen Wellen Wasser schöpfte, kam ein Moment, wo ich auf ein Zeichen von einem der zitternden Ruderer die schwere, mit Kupfer und Silber gefüllte Tasche, die ich über der Schulter trug, bereits losmachte … Derartige Überfahrten mußten wir mehrere Tage hintereinander durchmachen. Niemals zwang ich die Leute, hinüberzufahren, sondern freiwillig kamen sie, da sie wußten, warum Eile geboten war, im gegebenen Augenblick zu dem Entschluß, es müsse ein Versuch gemacht werden. »Siebenmal kann man nicht sterben, und einmal muß man es doch,« pflegten sie nach einem alten russischen Sprichwort zu sagen, machten das Zeichen des Kreuzes, griffen zu den Rudern und fuhren hinüber.

So kam ich denn an den Hauptschauplatz des Unglückfalles. Im ganzen waren vierundvierzig Barken vom Sturme zerschellt worden. Eine Umladung hatte sich nicht ausführen lassen, und daher war nur sehr wenig von den Waren gerettet worden; zweitausend Tonnen Mehl waren verloren gegangen. Mit dieser Kunde setzte ich meine Reise fort.

Nach ein paar Tagen holte mich ein Dampfer ein, der langsam den Fluß hinaufkroch, und als ich an Bord kam, erzählten mir die Passagiere, der Kapitän habe sich sinnlos betrunken und sei im Delirium über Bord gesprungen. Doch war er gerettet worden und lag nun krank in seiner Kabine. Sie baten mich, das Kommando zu übernehmen, was ich nicht ablehnen konnte. Bald fand ich aber zu meiner großen Verwunderung, daß alles so ausgezeichnet von selbst ging, daß ich fast gar nichts zu tun hatte, wenn ich auch den ganzen Tag auf der Brücke paradierte. Von ein paar Minuten wirklicher Verantwortlichkeit abgesehen, die eintraten, wenn der Dampfer zur Einnahme des als Heizmaterial dienenden Holzes anlegte, und außer ein paar aufmunternden Worten an die Heizer, sie möchten ans Werk gehen, sobald nur die Morgendämmerung uns erlaubte, die Umrisse der Ufer ein wenig zu unterscheiden, brauchte ich in keiner Weise einzugreifen. Ein Lotse, der die Karte zu deuten verstand, hätte das Kommando genau so gut führen können.

Mit Hilfe des Dampfers, einen großen Teil des Weges aber auch zu Pferde zurücklegend, erreichte ich schließlich Transbaikalien. Der Gedanke an die Hungersnot, die nächstes Frühjahr am Unterlauf des Amurs auszubrechen drohte, lastete die ganze Zeit über drückend auf mir. Mir ging der kleine Dampfer die reißende Schilka hinauf nicht schnell genug vorwärts, so stieg ich aus und ritt an hundert Meilen mit einem Kosaken den Argun hinauf auf einem der wildesten Bergpfade Sibiriens, und wir machten immer erst um Mitternacht Halt, um unser Lagerfeuer anzuzünden. Auch die zehn oder zwanzig Stunden, die ich durch diese Anstrengung gewinnen konnte, waren nicht zu verachten, denn jeder Tag brachte uns dem Schluß der Schiffahrt näher; schon bildete sich nachts auf dem Flusse Eis. Schließlich traf ich an der Schilka, in der Sträflingskolonie Kara, den Gouverneur von Transbaikalien und meinen Freund, den Obersten Pedaschenko, und der Gouverneur übernahm es, für sofortige Verschiffung aller aufzutreibenden Lebensmittel Sorge zu tragen. Ich dagegen machte mich sofort auf, in Irkutsk ausführlich Bericht zu erstatten.

Die Leute in Irkutsk wunderten sich, daß ich die weite Reise hatte so schnell zurücklegen können, aber ich war auch völlig erschöpft. Ich erholte mich dadurch, daß ich eine Woche lang täglich so viele Stunden schlief, daß ich mich schämen würde, die Zahl hier mitzuteilen.

»Haben Sie sich zur Genüge ausgeruht?« fragte mich der Generalgouverneur etwa eine Woche nach meiner Ankunft. »Wären Sie imstande, morgen als Kurier nach Petersburg zu gehen und selbst über den Verlust der Barken Bericht zu erstatten?«

Das hieß so viel als in zwanzig Tagen – nicht einen mehr – eine weitere Entfernung von 640 Meilen zwischen Irkutsk und Nischni Nowgorod durchmessen, denn von hier konnte ich dann mit der Eisenbahn nach Petersburg fahren; es hieß Tag und Nacht im Postkarren, der in jeder Station zu wechseln war, dahinjagen, denn kein Wagen kann auf die Dauer solch eine Eilfahrt über die gefrorenen Straßen aushalten. Aber die Aussicht, meinen Bruder Alexander zu sehen, war zu lockend für mich, als daß ich nicht hätte auf das Anerbieten eingehen sollen, und so brach ich denn am nächsten Abend auf. Als ich die Niederungen Westsibiriens und des Ural erreichte, wurde die Reise eine wahre Qual. An manchen Tagen zerbrachen die Karrenräder in den gefrorenen Geleisen bei jeder Station. Die Flüsse fingen an zuzufrieren, und ich mußte über den Ob in einem Boote mitten durch Treibeis fahren, das jeden Augenblick unser schwaches Fahrzeug zu erdrücken drohte. Als ich am Tom anlangte, auf dem das Treibeis in der Nacht vorher gerade zusammengefroren war, wollten mich zuerst die Bauern nicht übersetzen und verlangten dann ›eine Quittung‹.

»Was für eine Quittung wollt ihr?«

»Nun, Sie schreiben auf ein Papier: ›Ich, der Unterzeichnete, bezeuge hiermit, daß ich nach Gottes Willen ertrunken bin und nicht durch Schuld der Bauern‹, und dieses Papier geben Sie uns.«

»Mit Vergnügen – drüben, auf der andern Seite.«

Schließlich brachten sie mich hinüber. Ein Knabe – ein mutiger, kluger Knabe, den ich aus der Menge ausgelesen hatte – schritt dem Zuge voraus und prüfte die Stärke des Eises mit einer Stange. Ich folgte ihm mit meiner Depeschentasche auf den Schultern, und wir beide waren an lange Leinen gebunden, die fünf uns in einiger Entfernung folgende Bauern hielten. Einer von diesen trug noch ein Bund Stroh, um es auf das Eis zu werfen, wo es nicht stark genug zu sein schien.

Endlich erreichte ich Moskau, wo ich meinen Bruder auf dem Bahnhofe traf, und von da fuhren wir sofort weiter nach Petersburg.

Es ist doch etwas Großes um die Jugend. Als ich nach einer solchen Reise, die vierundzwanzig Tage und Nächte dauerte, früh in Petersburg ankam, lieferte ich an demselben Tage meine Depeschen ab und verfehlte nicht, auch bei einer Tante oder eigentlich Cousine von mir einen Besuch zu machen. Sie war von entzückender Liebenswürdigkeit. »Wir haben heute abend eine kleine Tanzgesellschaft. Willst du kommen?« Natürlich wollte ich. Und nicht nur gekommen, sondern auch getanzt bis zum dämmernden Morgen!

Als ich in Petersburg war und mit den vorgesetzten Behörden verkehrte, begriff ich erst, warum man mich zu mündlicher Berichterstattung geschickt hatte. Kein Mensch wollte an die Möglichkeit eines solchen Unglücksfalles glauben. »Sind Sie an der Stelle gewesen?« »Haben Sie den Untergang der Barken mit eigenen Augen gesehen?« »Sind Sie völlig sicher, daß sie nicht einfach die Lebensmittel gestohlen und Ihnen die Trümmer von ein paar Barken gezeigt haben?« So lauteten die Fragen, die man mir vorlegte.

Die hohen Beamten, die in Petersburg an der Spitze der sibirischen Verwaltung standen, waren geradezu bezaubernd in ihrer unschuldvollen Unkenntnis sibirischer Verhältnisse. »Mais, mon cher,« sagte einer von ihnen zu mir – er sprach immer französisch – »wie wäre es möglich, daß vierzig Barken auf der Newa zugrunde gingen, ohne daß ihnen jemand zu Hilfe käme?« »Die Newa?« rief ich aus, »legen Sie drei – vier Newas nebeneinander, und Sie haben den unteren Amur!«

»Ist er wirklich so gewaltig?« Und zwei Minuten später schwatzte er in vorzüglichem Französisch über alle möglichen Dinge, »Wann haben Sie den Maler Schwartz zuletzt gesehen? Ist nicht sein ›Iwan der Schreckliche‹ ein wundervolles Bild? Wissen Sie, warum man Kukel verhaften wollte?« Und er erzählte mir des langen und breiten von einem an ihn gerichteten Briefe, in dem er um Unterstützung des polnischen Aufstandes angegangen wurde. »Wissen Sie, daß Tschernischewsky verhaftet worden ist? Er ist jetzt in der Festung.«

»Weshalb? Was hat er getan?« fragte ich.

»Nichts Besonderes, nichts! Aber, mon cher, Sie wissen – das Staatsinteresse! – So ein kluger, schrecklich kluger Mann! Und er hat solchen Einfluß auf die Jugend gehabt! Sie begreifen, eine Regierung kann das nicht dulden! Intolérable, mon cher, dans un État bien ordonné!«

Graf Ignatiew stellte dergleichen Fragen nicht; er kannte den Amur sehr gut, und er kannte auch Petersburg. Nach verschiedenen scherzhaften Äußerungen und geistreichen Bemerkungen über Sibirien, die er mit erstaunlicher Lebhaftigkeit vorbrachte, sagte er zu mir: »Es trifft sich außerordentlich glücklich, daß Sie dort waren und die Wracke gesehen haben. Und ›sie‹ waren schlau genug, Sie zum Bericht zu senden. Klug gehandelt! Zuerst wollte niemand etwas von den Barken glauben. ›Ein neuer Schwindel‹ dachte man. Aber nun sagen die Leute, Sie wären als Page gut bekannt und wären erst ein paar Monate in Sibirien gewesen, Sie würden daher die Leute dort nicht decken, wenn es Schwindel wäre; man verläßt sich auf Sie!«

Der Kriegsminister, Dmitri Miljutin, war der einzige hohe Verwaltungsbeamte in Petersburg, der die Sache mit Ernst anfaßte. Er legte mir viele Fragen vor, die alle den Kern trafen. Sofort beherrschte er den Gegenstand, und unsere ganze Unterhaltung entwickelte sich in kurzen Sätzen, ohne Übereilung und ohne Wortvergeudung: »Die Siedelungen an der Küste sollen zur See Zufuhr erhalten, meinen Sie? Nur die andern von Tschita aus? Ganz recht. Aber wenn es nächstes Jahr wieder einen Sturm gibt – werden da dieselben vernichtenden Folgen eintreten?« »Nein, wenn die Barken von zwei kleinen Schleppdampfern gezogen werden.« »Wird das genügen?« »Ja, bei einem Dampfer würde der Verlust nicht halb so groß gewesen sein.« »Sehr wahrscheinlich. Schreiben Sie mir, bitte; bringen Sie alles vor, was sie sagten – ganz einfach – keine Förmlichkeiten!«

 

Nach kurzem Aufenthalt in Petersburg kehrte ich noch im selben Winter nach Irkutsk zurück, wo ich in wenigen Monaten mit meinem Bruder zusammentreffen sollte, der in das Offizierskorps des Regiments der Irkutsk-Kosaken aufgenommen war.

Im Winter durch Sibirien zu reisen gilt für etwas Schreckliches, während es doch, alles in allem genommen, angenehmer ist als eine Reise daselbst während irgend einer andern Jahreszeit. Die schneebedeckten Wege sind vorzüglich, und wenn die Kälte auch sehr streng ist, kann man sie doch sehr gut aushalten. Lang ausgestreckt im Schlitten liegend, wie es allgemein in Sibirien Sitte ist, in dicke, innen und außen mit Pelz besetzte Decken gehüllt, leidet man auch bei dreißig bis vierzig Grad unter Null wenig von der Kälte. Ich reiste mit Kuriergeschwindigkeit, d. h. ließ bei jeder Station schnell die Pferde wechseln und nahm nur einmal des Tages einen längeren Aufenthalt von einer Stunde, um mein Mittagsmahl zu halten; so kam ich nach neunzehn Tagen in Irkutsk an. Vierzig Meilen täglich gilt in solchen Fällen als Normalgeschwindigkeit, und ich erinnere mich, daß ich die letzten 130 Meilen meiner Reise in siebzig Stunden zurücklegte. Die Kälte war nicht gar streng, die Wege befanden sich in ausgezeichnetem Zustande, die Kutscher erhielt ich durch reichliche Spenden von Silbergeld bei guter Laune, und die drei kleinen, leichten Pferde vor unserem Schlitten schienen mit großem Behagen über Berg und Tal, über den stahlharten Eisspiegel der Flüsse und durch die Wälder mit ihrem unter den Sonnenstrahlen tausendfach glitzernden Silberkleide dahinzutraben.

Ich wurde jetzt zum Attaché des Generalgouverneurs von Ostsibirien für die Kosakenangelegenheiten ernannt und hatte meinen Wohnsitz in Irkutsk, aber zu tun hatte ich eigentlich nichts Rechtes. Alles seinen gewohnten Schlendrian gehen zu lassen und von allen Neuerungen abzusehen, das war jetzt die Losung, die von Petersburg ausging. Mit Vergnügen ging ich daher auf den Vorschlag ein, eine geographische Forschungsreise nach der Mandschurei zu unternehmen.

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