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In Sibirien.

Dreizehntes Kapitel.

Sibirien. – Reformarbeiten in Transbaikalien. – Der polnische Aufstand. – Seine verderblichen Folgen für Polen und Rußland.

 

Die fünf Jahre, die ich in Sibirien zubrachte, bildeten für mich eine wahre Schule des Lebens und des Charakters. Ich kam mit Leuten jeder Gattung in Berührung, den besten und den schlechtesten, mit den Spitzen der Gesellschaft wie mit den Tiefststehenden, den Vagabunden und sogenannten unverbesserlichen Verbrechern. Es bot sich mir reiche Gelegenheit, das tägliche Leben der Bauern, ihre Lebensweise und ihre Gewohnheiten, zu beobachten, und noch mehr Gelegenheit zu der Erkenntnis, wie wenig ihnen die Staatsregierung, auch wenn sie von den besten Absichten beseelt war, zu bieten vermochte. Dazu stählten die ausgedehnten Reisen, auf denen ich mehr als achttausend Meilen im Wagen, im Dampfboot, im Kahn, zumeist aber zu Roß durchmaß, meine Gesundheit in wunderbarer Weise. Sie lehrten mich auch, wie wenig der Mensch wirklich nötig hat, sobald er aus dem Bannkreis der konventionellen Zivilisation hinaustritt. Mit wenigen Pfund Brot und wenigen Unzen Tee im Lederbeutel, einem Kessel und einem Beil am Sattelknopf und einem Filztuch unterm Sattel, das man am Lagerfeuer über ein Bett von frischgeschnittenen Tannenzweigen breitet, fühlt man sich, auch mitten unter unbekannten dichtbewaldeten oder schneebedeckten Bergen, wunderbar unabhängig. Es ließe sich über diesen Abschnitt meines Lebens ein ganzes Buch schreiben, doch ich muß hier schnell darüber weggehen, da ich über die späteren Perioden so viel zu sagen habe.

Sibirien ist nicht das kalte, von Eis und Schnee starrende, nur von Verbannten bevölkerte Land, wie es sich sogar viele Russen vorstellen. Sein Süden steht an natürlichem Reichtum dem südlichen Kanada nicht nach, dem es physisch so sehr ähnelt; auch hat es außer einer halben Million Eingeborener mehr als fünf Millionen Russen zu Bewohnern. Die südlichen Teile Westsibiriens sind so völlig russisch wie die nördlich von Moskau gelegenen Provinzen. Im Jahre 1862 war die obere Verwaltung Sibiriens weit aufgeklärter und überhaupt weit besser als die irgend einer Provinz im eigentlichen Rußland. Mehrere Jahre hatte Graf N. N. Murawjew, unter dem auch die Amurgegend an Rußland gekommen war, den Posten des Generalgouverneurs von Ostsibirien bekleidet. Er war eine bemerkenswerte Persönlichkeit von großer Intelligenz, unermüdlicher Tätigkeit und außerordentlicher Liebenswürdigkeit, dazu ein Mann, den der Wunsch beseelte, für das Beste des Landes zu wirken. Allerdings war er wie alle tatkräftigen Männer, die der ›Regierungsschule‹ angehören, im Grunde seines Herzens ein Despot; aber er huldigte fortschrittlichen Ansichten, und eine demokratische Republik würde ihm noch nicht vollständig Genüge getan haben. Nachdem er den alten Stab von Zivilbeamten, für die Sibirien nichts war als eine gute Gelegenheit zum Plündern, größtenteils von sich abgeschüttelt hatte, umgab er sich mit einem Kreise junger durchaus ehrenwerter und vielfach ebenfalls von den besten Absichten erfüllter Beamten. In seinem eigenen Arbeitszimmer erörterten die jungen Offiziere, unter ihnen der verbannte Bakunin, der im Herbst aus Sibirien entfloh, das Für und Wider der Gründung der Vereinigten Staaten von Sibirien, die über das Stille Weltmeer hinüber mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika in ein Bundesverhältnis treten sollten.

Als ich nach Irkutsk, der Hauptstadt Ostsibiriens, kam, hatte die Woge der Reaktion, die ich in Petersburg anschwellen sah, diese fernen Gebiete noch nicht erreicht. Der junge Generalgouverneur, Korsakow, der eben Murawjew gefolgt war, empfing mich sehr freundlich und sagte mir, er sei entzückt, Männer mit liberalen Ansichten um sich zu haben. Und der Chef des Generalstabes, Kukel – ein junger noch nicht fünfunddreißigjähriger General, dessen Adjutant ich wurde – führte mich sofort in ein Zimmer seines Hauses, wo ich neben den besten russischen Zeitschriften vollständige Sammlungen von Herzens Londoner revolutionären Schriften fand. Bald waren wir warme Freunde.

General Kukel nahm damals vorübergehend die Stellung eines Gouverneurs von Transbaikalien ein, und ein paar Wochen später kreuzten wir den schönen Baikal-See und gingen von hier noch weiter nach Osten, nach dem Städtchen Tschita, der Hauptstadt der Provinz. Dort sollte ich mich sofort mit Leib und Seele den großen damals in Aussicht genommenen Reformen widmen. Das Petersburger Ministerium hatte sich an die Provinzialbehörden gewandt mit der Aufforderung, Pläne zur völligen Reform der Provinzialverwaltung, zur Organisation der Polizei, der Gerichte, der Gefängnisse, des Verbannungswesens, der städtischen Selbstverwaltung auszuarbeiten, und zwar durchaus auf liberaler Grundlage, wie sie in den Erlassen des Kaisers vorgesehen war.

Unter Mitwirkung eines intelligenten und praktischen Mannes, des Obersten Pedaschenko, und einiger einsichtigen Zivilbeamten arbeitete Kukel den ganzen Tag und oft einen großen Teil der Nacht hindurch. Ich wurde Sekretär zweier Ausschüsse – für die Reform des Gefängnis- und gesamten Verbannungswesens und zur Vorbereitung eines Systems der städtischen Selbstverwaltung – und machte mich mit der ganzen Begeisterung eines neunzehnjährigen Jünglings ans Werk. Ich las viel über die geschichtliche Entwicklung dieser Institutionen in Rußland und ihren gegenwärtigen Zustand im Auslande, da das Ministerium des Innern wie das der Justiz ausgezeichnete Werke und Schriften über diese Gegenstände herausgegeben hatten; aber unser Vorgehen in Transbaikalien war keineswegs nur theoretischer Art. Mit Männern der Praxis, die genau wußten, was wirklich not tat, und was sich bei den örtlichen Verhältnissen ausführen ließ, besprach ich zuerst den Plan in seinen allgemeinen Umrissen und sodann jeden einzelnen Punkt und kam zu diesem Zwecke mit einer großen Menge von Personen in Stadt und Land zusammen. Das Ergebnis unserer Besprechungen wurde dann in Konferenzen mit Kukel und Pedaschenko erneuter Prüfung unterworfen, und wenn ich die Resultate in eine vorläufige Form gebracht hatte, wurde jeder Punkt noch einmal in den Ausschüssen gründlich erörtert. Einer von diesen Ausschüssen, nämlich der für die Ausarbeitung eines Planes zur städtischen Selbstverwaltung, setzte sich aus Tschitaer Bürgern zusammen, die von der gesamten Bevölkerung mit echt amerikanischer Wahlfreiheit erwählt waren. Kurz, wir nahmen es mit unserer Arbeit sehr ernst, und noch jetzt kann ich mit voller Zuversicht erklären, daß die sibirischen Städte, wäre damals die städtische Selbstverwaltung in der bescheidenen, von uns vorgeschlagenen Form gewährt worden, eine ganz andere Entwicklung genommen haben würden. Doch es ward überhaupt nichts daraus, wie sich sofort zeigen wird.

Dazwischen fehlte es auch nicht an anderer Beschäftigung. Da mußte zur Unterstützung wohltätiger Einrichtungen Geld herbeigeschafft werden; es war ferner eine Schilderung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Provinz im Anschluß an eine lokale landwirtschaftliche Ausstellung zu verfassen, oder es war irgend eine gründliche Untersuchung anzustellen, »wir leben in einer großen Epoche; arbeiten Sie, mein lieber Freund; bedenken Sie, daß Sie Sekretär aller gegenwärtigen und zukünftigen Ausschüsse sind,« pflegte Kukel zu mir zu sagen, und ich machte mich mit doppelter Tatkraft ans Werk.

Ein oder zwei Beispiele werden den Erfolg meiner Anstrengungen zeigen. In unserer Provinz gab es einen ›Bezirkschef‹, das heißt, einen Polizeileutnant mit sehr weitgehenden und nicht genau umgrenzten Befugnissen, der geradezu ein Schandfleck war. Er bestahl die Bauern und peitschte sie rechts und links, sogar – gegen das Gesetz – Frauen; und kam ihm ein Kriminalfall in die Hände, so harrte dieser Monate lang vergebens der Erledigung, und die Leute blieben so lange im Gefängnis, bis sie sich durch ein ›Trinkgeld‹ freimachten. Kukel hätte diesen Menschen schon lange entlassen, aber der Generalgouverneur mochte nicht darauf eingehen, weil der Bezirkschef mächtige Beschützer in Petersburg hatte. Nach langem Zögern wurde endlich beschlossen, ich sollte an Ort und Stelle eine Untersuchung vornehmen und Material gegen den Mann sammeln. Das war keine leichte Sache, denn die von ihm terrorisierten Bauern, denen das alte russische Wort ›Gott ist weit, aber der Polizeileutnant steht vor der Tür‹ wohlbekannt war, wagten nicht, gegen ihn Zeugnis abzulegen. Selbst eine Frau, die er hatte peitschen lassen, scheute sich zuerst, zu Protokoll auszusagen. Erst als ich vierzehn Tage bei den Bauern geblieben war und ihr Vertrauen gewonnen hatte, kamen die Vergehen ihres ›Chefs‹ ans Tageslicht. Ich brachte erdrückendes Beweismaterial zusammen, und der Polizeileutnant wurde entlassen. Mir waren alle froh, von dieser Pest befreit zu sein. Wie groß war aber unser Erstaunen, als wir ein paar Monate später erfuhren, daß derselbe Mann zu einem höheren Posten in Kamtschatka ernannt war! Dort konnte er ohne jede Kontrolle die Eingeborenen ausplündern, und das tat er auch; denn nach ein paar Jahren kehrte er als reicher Mann nach Petersburg zurück. Die Artikel, die er jetzt von Zeit zu Zeit der reaktionären Presse zugehen läßt, sind, wie man sich denken kann, von hohem ›patriotischem‹ Geiste erfüllt.

Wie gesagt, die reaktionäre Woge hatte damals Sibirien noch nicht erreicht, und die politischen Verbannten wurden immer noch wie zu Murawjews Zeit mit möglichster Milde behandelt. Als der Dichter Michailow im Jahre 1861 wegen des von ihm verfaßten revolutionären Aufrufs zu schwerer Arbeit verurteilt und nach Sibirien verschickt wurde, veranstaltete der Gouverneur von Tobolsk, der ersten sibirischen Stadt, durch die er kam, ihm zu Ehren ein Festmahl, an dem alle Beamten teilnahmen. Zu Transbaikalien wurde er nicht zu schwerer Arbeit angehalten, sondern erhielt offiziell die Erlaubnis, in dem Gefängnis-Hospital einer kleinen Bergwerksstadt seinen Aufenthalt zu nehmen. Da seine Gesundheit sehr angegriffen war – er befand sich im letzten Stadium der Schwindsucht und starb wirklich wenige Monate später – erlaubte ihm General Kukel, bei seinem Bruder, einem Mineningenieur, der von der Krone eine Goldmine auf eigene Rechnung gepachtet hatte, zu wohnen – das geschah nicht in offizieller Weise, wenn es auch in Sibirien allenthalben bekannt war. Aber eines Tages erfuhren wir aus Irkutsk, daß der Gendarmeriegeneral, der zur Staatspolizei gehörte, sich infolge einer geheimen Denunziation auf dem Wege nach Tschita befinde, um eine strenge Untersuchung in dieser Angelegenheit anzustellen. Ein Adjutant des Generalgouverneurs überbrachte uns die Nachricht. In aller Eile wurde ich an Michailow gesandt ihm mitzuteilen, er müsse sofort ins Gefängnis-Hospital zurückkehren, während der Gendarmeriegeneral in Tschita zurückgehalten wurde. Da dieser jeden Abend am Spieltisch in Kukels Hause bedeutende Summen gewann, mochte er sich nicht dazu entschließen, diesen angenehmen Zeitvertreib um einer Reise nach den Minen willen aufzugeben, die er bei vierzig Grad unter dem Nullpunkt hätte unternehmen müssen, und begab sich schließlich, von seiner gewinnreichen Sendung voll befriedigt, nach Irkutsk zurück.

Doch der Sturm der Reaktion kam näher und näher und fegte alles vor sich her und zwar bald nach dem Ausbruch des polnischen Aufstandes.

 

Im Januar 1863 erhob sich Polen gegen die russische Herrschaft; es bildeten sich bewaffnete Banden im Dienste der Revolution, und ein Krieg brach aus, der volle achtzehn Monate dauerte. Die Londoner Flüchtlinge hatten die polnischen revolutionären Ausschüsse beschworen, die Bewegung aufzuschieben, da sie voraussahen, sie würde erdrückt werden und damit auch die Reformperiode in Rußland ihr Ende finden. Doch es half nichts; die Unterdrückung der nationalen Kundgebungen, die in Warschau stattfanden, und die darauf folgenden durch nichts gerechtfertigten Hinrichtungen hatten die Polen zu sehr erbittert; der Würfel war gefallen.

Noch niemals hatte die polnische Sache so viel Anhänger und Freunde in Rußland gehabt wie damals. Ich rede nicht von der revolutionären Partei; auch unter den gemäßigteren Elementen der russischen Gesellschaft meinte man und sprach es offen aus, es wäre eine Wohltat für Rußland, in Polen anstatt eines feindseligen Untertanen einen befreundeten Nachbar zu haben. Niemals wird Polen seinen nationalen Charakter verlieren, seine vorgeschrittene Entwicklung läßt das nicht zu; es besitzt eine eigene Literatur, Kunst und Industrie und wird diese immer besitzen. Nur durch Gewalt und Unterdrückung kann Rußland Polen in Knechtschaft halten, ein Zustand, der bisher auch in Rußland selbst die Unterdrückung der Freiheit begünstigt hat und diese Wirkung notwendigerweise immer ausüben wird. Sogar die Friedfertigen unter den Panslawisten stimmten dieser Ansicht bei, und während meiner Schulzeit begrüßte die Petersburger Gesellschaft mit vollem Beifall den ›Traum‹, den der Panslawist Iwan Aksakow den Mut hatte in seinem Blatte ›Der Tag‹ zum Abdruck zu bringen. Sein Traum war, daß die russischen Truppen Polen geräumt hätten, und er erwog die ausgezeichneten Folgen, die sich daraus ergeben würden.

Als der 1863er Aufstand ausbrach, weigerten sich mehrfach russische Offiziere gegen die Polen zu marschieren, während andere offen ihre Partei ergriffen und auf dem Schafott oder auf dem Schlachtfeld ihr Leben endeten. Überall in Rußland sammelte man Gelder für die Aufständischen – ganz offen in Sibirien – und an den russischen Universitäten trugen die Studenten gemeinsam die Kosten der Ausrüstung für diejenigen Kommilitonen, die sich den Aufständischen anschließen wollten.

Aber mitten hinein in diese sympathische Aufwallung russischer Herzen fiel die Nachricht, Banden von Insurgenten seien in der Nacht des 10. Januar über die in den Dörfern einquartierten Soldaten hergefallen und hätten sie in ihren Betten ermordet, obwohl noch am Abend zuvor die Beziehungen zwischen den Truppen und den Polen anscheinend ganz freundliche gewesen seien. Wenn die Nachricht auch übertrieben war, so entsprach sie doch leider zum Teil der Wahrheit, und der Eindruck, den sie in Rußland hervorbrachte, hatte die übelsten Folgen. Die alte Abneigung zwischen den beiden trotz der nahen Stammverwandtschaft in ihren nationalen Eigenschaften so verschiedenen Völkern erwachte von neuem.

Allmählich verlor sich wieder bis zu einem gewissen Grade das Gefühl der Abneigung. Der heldenhafte Kampf der allezeit tapferen Söhne Polens und die unbezwingliche Energie, mit der sie einer furchtbaren Armee Widerstand leisteten, gewannen die Herzen für sie. Aber es wurde bekannt, daß der polnische Revolutionsausschuß in seine Forderung der Wiederherstellung Polens in seinen alten Grenzen auch Klein-Rußland oder die Ukraine einschloß, Provinzen, deren griechisch-orthodoxe Bevölkerung die polnischen Herren verabscheute und im Laufe der letzten drei Jahrhunderte mehr als einmal ein furchtbares Blutbad unter ihnen angerichtet hatte. Überdies fing Napoleon III. an, Rußland mit einem neuen Kriege zu drohen – eine fruchtlose Drohung, die den Polen mehr Schaden tat als alles übrige zusammengenommen. Endlich sahen die russischen Radikalen mit Bedauern, daß nun in Polen die rein nationalen Elemente die Oberhand gewannen, und die revolutionäre Regierung gar nicht mehr daran dachte, den Leibeigenen das Land zu überweisen – ein Fehler, aus dem die russische Regierung nicht versäumte Vorteil zu ziehen, indem sie sich ihrerseits als Beschützerin der polnischen Bauern gegen ihre Grundherren aufspielte.

Als die Revolution in Polen ausbrach, glaubte man in Rußland allgemein, sie würde eine demokratische, republikanische Richtung einschlagen, und eine revolutionäre, für die Unabhängigkeit des Landes kämpfende Regierung würde nichts Eiligeres zu tun haben, als die Freigebung der Leibeigenen auf breiter, demokratischer Grundlage durchzuführen.

Das Befreiungsgesetz, das 1861 in Petersburg gegeben war, bot Anlaß genug zu derartigem Vorgehen. Die persönlichen Verpflichtungen der Leibeigenen ihren Herren gegenüber hörten erst am 19. Februar 1863 auf. Dann hatte ein äußerst langsames Verfahren stattzufinden, damit die Herren und die Leibeigenen sich irgendwie über den Umfang und die Lage der den Freigegebenen zu überlassenden Landlose einigen könnten. Die jährlichen (unverhältnismäßig hohen) Zahlungen für diese Lose wurden gesetzlich auf eine bestimmte Summe für den Morgen festgesetzt; aber die Bauern mußten dazu auch noch für ihre Heimstätten zahlen, und hierfür hatte man im Gesetz nur eine Höchstsumme bestimmt, mit dem Hintergedanken, die Grundherren würden sich bewegen lassen, auf diese weitere Zahlung ganz oder doch zum Teil zu verzichten, was nun die sogenannte ›Ablösung‹ des Landes betraf – hierbei zahlte die Regierung dem Grundherrn den vollen Wert in Schuldverschreibungen, und die Bauern, denen man das Land überließ, hatten dafür neunundvierzig Jahre lang als Zinsen und Amortisationsbetrag jährlich sechs Prozent des Kaufpreises aufzubringen – so waren diese Zahlungen nicht nur zu hoch und für die Bauern erdrückend, sondern es war auch keine Frist für die Ablösung gesetzt. Hierüber eine Bestimmung zu treffen, blieb völlig dem guten Willen des Grundherrn überlassen, und in unzähligen Fällen hatte man zwanzig Jahre nach der Befreiung noch nicht einmal angefangen, über die Ablösung eine Vereinbarung zu treffen.

Unter diesen Umständen bot sich einer revolutionären Regierung reichlich Gelegenheit, das russische Gesetz auszustechen. Schon die Gerechtigkeit verlangte, den Leibeigenen, deren Lage in Polen ebenso schlimm und häufig schlimmer als in Rußland war, die Befreiung unter besseren und schärfer begrenzten Bedingungen zu gewähren. Aber nichts derart geschah. Sobald die rein nationale und die aristokratische Partei in der Bewegung die Oberhand gewonnen hatten, verloren sie diesen über alles wichtigen Punkt aus den Augen. Damit war es der russischen Regierung leicht gemacht, die polnischen Bauern für sich zu gewinnen.

Voll ausgenutzt wurde dieser Fehler, als Alexander II. Nikolaus Miljutin nach Polen schickte, mit der Aufgabe, die Bauern in der Weise frei zu machen, wie er es in Rußland zu tun wünschte – ganz gleich, ob dadurch die Grundherren ruiniert würden oder nicht. »Gehen Sie nach Polen und bringen dort Ihr rotes Programm gegen die polnischen Grundherren zur Anwendung!« sagte Alexander II. zu ihm, und Miljutin tat in Gemeinschaft mit dem Fürsten Tscherkasky und vielen andern sein Bestes, das Land den Grundherren zu nehmen und den Bauern umfangreiche Lose zu geben.

Einer von den russischen Beamten, die unter Miljutin und Tscherkasky nach Polen gingen, sagte mir einmal: »Wir hatten volle Freiheit, das Land den Bauern zu überweisen. Ich verfuhr gewöhnlich folgendermaßen: Kam ich in ein Dorf, so ließ ich die Bauern zusammenrufen. ›Sagt mir zuerst‹, fing ich an, ›welches Land habt ihr jetzt?‹ Sie zeigten's mir. ›Ist dies alles Land, das ihr je gehabt habt?‹ fragte ich dann. ›Ganz gewiß nicht!‹ erwiderten sie einstimmig. ›Vor Jahren waren diese Wiesen unser, dieser Wald hat uns einmal gehört und diese Felder auch,‹ sagten sie. Ich ließ sie alles hersagen und fuhr dann fort: ›Nun, wer von euch kann beschwören, daß dieses oder jenes Stück Land jemals in eurem Besitz war?‹ Natürlich meldete sich niemand, es war zu lange Zeit her. Schließlich schoben sie irgend einen Alten vor und sagten: ›Der weiß genau Bescheid, er kann's beschwören!‹ Der Alte fing dann eine lange Geschichte an und erzählte, was er in seiner Jugend gewußt, oder was er von seinem Vater gehört hätte, aber ich fiel ihm ins Wort und sagte: ›Sage unter Eid aus, was nach deinem Wissen der ›gmina‹ (der Dorfgemeinde) gehört hat, und das Land ist euer.‹ Sobald er den Eid leistete – man konnte sich auf diesen Eid natürlich unbedingt verlassen – schrieb ich die Urkunden und erklärte der Gemeindeversammlung: ›Jetzt ist das Land euer. Gegen eure früheren Herren habt ihr keinerlei Verpflichtungen mehr, ihr seid einfach ihre Nachbarn; ihr habt nur die Ablösung, jährlich so und so viel, an die Regierung zu zahlen. Eure Heimstätten erhaltet ihr zu dem Lande, ihr kriegt sie umsonst.‹«

Man kann sich die Wirkung einer solchen Politik auf die Bauern denken. Ein Vetter von mir, Peter Nikolajewitsch Krapotkin, ein Bruder des früher erwähnten Adjutanten, stand mit seinem Garde-Ulanenregiment in Polen oder Litauen. Die Revolution war so ernst, daß sogar die Garderegimenter aus Petersburg ins Feld rücken mußten, und es ist bekannt geworden, daß die Kaiserin Marie zu Michael Murawjew, der sich vor seinem Aufbruch nach Litauen von ihr verabschiedete, sagte: »Retten Sie wenigstens Litauen für Rußland!« Polen galt für verloren.

»Bewaffnete Banden der Aufständischen hielten das Land besetzt,« erzählte mir mein Vetter, »und wir waren außerstande, sie zu schlagen oder auch nur zu treffen. Kleine Banden griffen immer wieder schwächere Abteilungen der Unseren an, und da sie bewundernswert kämpften, das Land kannten und an der Bevölkerung einen festen Rückhalt hatten, so trugen sie in den Gefechten oft den Sieg davon. So waren wir gezwungen, immer nur in größerer Stärke zu marschieren, wir zogen durch eine Gegend, marschierten durch Wälder, ohne eine Spur von den Banden zu finden, und wenn wir dann zurückmarschierten, erfuhren wir, daß die Banden wieder in unserm Rücken aufgetaucht wären und die patriotische Abgabe erhoben hätten; hatte sich aber vorher ein Bauer bereit finden lassen, unseren Truppen irgendwie einen Dienst zu leisten, so fanden wir ihn von den Aufständischen an einen Baum aufgeknüpft. So ging es Monate lang ohne jede Aussicht auf Besserung, bis Miljutin und Tscherkasky kamen, die Bauern freimachten und ihnen Land zuwiesen. Dann – war alles vorbei. Die Bauern hielten es mit uns, halfen uns die Banden einfangen, und mit dem Aufstand war es aus.«

Ich habe in Sibirien oft mit polnischen Verbannten über diesen Gegenstand gesprochen, und manche von ihnen begriffen, welchen Fehler sie gemacht hätten. Eine Revolution muß von vornherein gegen die Zertretenen und Unterdrückten Gerechtigkeit üben, nicht mit solcher Ausgleichung auf später vertrösten, sonst wird sie sicher erfolglos sein. Leider sind die Führer oft so sehr durch bloße Fragen der militärischen Taktik in Anspruch genommen, daß sie die Hauptsache vergessen, wenn es Revolutionären nicht gelingt, der großen Masse die Überzeugung beizubringen, daß für sie in Wahrheit eine neue Zeit gekommen ist, so ist damit der Mißerfolg ihrer Sache besiegelt.

Die schrecklichen Folgen dieser Revolution für Polen sind bekannt, sie gehören der Geschichte an. Wie viele Tausende auf dem Schlachtfelds umkamen, wie viele Hunderte gehängt wurden, wie viele Zehntausende man nach den verschiedenen Provinzen Rußlands und Sibiriens schleppte, ist noch nicht vollständig festgestellt. Aber schon die offiziellen Ziffern, die vor ein paar Jahren in Rußland bekannt gegeben wurden, zeigen, daß jener Mann des Schreckens, Michael Murawjew, dem die russische Regierung vor kurzem ein Denkmal errichten ließ, allein in den litauischen Provinzen – ganz zu schweigen vom eigentlichen Polen – auf seine eigene Verfügung 128 Polen hängen und 9423 Männer und Frauen nach Rußland und Sibirien transportieren ließ. Offizielle, ebenfalls in Rußland veröffentlichte Listen geben die Zahl der aus Polen nach Sibirien Verbannten auf 18 762 Männer und Frauen an, von denen 10 407 nach Ostsibirien verschickt wurden. Ich erinnere mich, daß der Generalgouverneur von Ostsibirien mir gegenüber die gleiche Zahl von rund 11 000 Personen nannte, die in sein Gebiet zu schwerer Arbeit oder als Verbannte verschickt seien. Ich sah sie dort und war Zeuge ihrer Leiden. Insgesamt wurden etwa 60 000 oder 70 000 Polen, wenn nicht mehr, herausgerissen und nach verschiedenen Provinzen Rußlands, nach dem Ural, dem Kaukasus, wie nach Sibirien geschleppt.

Für Rußland waren die Folgen gleichfalls schrecklich. Der polnische Aufstand bedeutete den endgültigen Abschluß der Reformperiode. Wohl wurden die Gesetze über die Selbstverwaltung der Provinzen (Semstwos) und die Justizreform 1864 und 1866 erlassen, aber beide waren schon im Jahre 1862 abgeschlossen, und überdies gab Alexander II. noch im letzten Augenblicke dem Walujewschen von der reaktionären Partei vorgeschlagenen Plane der Selbstverwaltung gegenüber dem von Nikolaus Miljutin ausgearbeiteten den Vorzug. Auch wurde sofort nach der offiziellen Verkündigung beider Reformen ihre Bedeutung durch den Erlaß einer Reihe von Ausführungsgesetzen verringert und zum Teil ganz aufgehoben.

Das Allerschlimmste war, daß die öffentliche Meinung selbst einen weiteren Schritt rückwärts machte. Der Held des Tages war Katkow, der Führer der Grundherrenpartei, der jetzt im Lichte des russischen ›Patrioten‹ erschien und die Petersburger und Moskauer Gesellschaft zum größten Teil hinter sich herzog, Wer fortan noch von Reformen zu reden wagte, wurde von Katkow sofort als ›Verräter an Rußland‹ hingestellt.

Bald schlug die Welle der Reaktion auch in unsere abgelegene Provinz hinüber. Eines Märztages brachte eine Stafette von Irkutsk ein Schreiben, in dem General Kukel mitgeteilt wurde, er sei seines Postens als Gouverneur von Transbaikalien enthoben und habe sich sofort nach Irkutsk zu begeben und dort weitere Befehle abzuwarten, die Stellung als Generalstabschef solle er aber nicht wieder einnehmen.

Warum? Was hatte das zu bedeuten? Kein Wort der Erklärung stand im ganzen Schreiben. Nicht einmal der Generalgouverneur, Kukels persönlicher Freund, hatte der mysteriösen Ordre ein einziges Wort beizufügen gewagt. Sollte das heißen, daß Kukel zwischen zwei Gendarmen nach Petersburg gebracht und in dem ungeheuren Steinsarge, der Peter-Pauls-Festung, begraben werden würde? Alles war möglich. Später erfuhren wir, daß dies wirklich die Absicht gewesen war, und sie wäre auch ohne die energische Fürsorge Murawjews, ›des Eroberers des Amur‹, der persönlich den Zaren beschwor, Kukel vor jenem Geschick zu bewahren, zur Ausführung gekommen.

Unser Abschied von Kukel und seiner liebenswerten Familie glich einem Leichenbegängnis. Mir war das Herz sehr schwer, denn ich verlor in ihm nicht nur einen lieben persönlichen Freund, sondern ich fühlte auch, daß dieses Scheiden die Einsargung einer ganzen Epoche voll langgehegter Hoffnungen – ›voll Illusionen‹, wie man von jetzt an sich auszudrücken liebte – bedeutete.

So war es auch. Es kam ein neuer Gouverneur, ein gutmütiger Mann, dem Motto entsprechend ›Laß mich in Frieden‹. Da ich sah, es sei keine Zeit zu verlieren, machte ich mich mit erneuter Energie an die Vollendung unserer Entwürfe zur Reform des Verbannungswesens wie der städtischen Selbstverwaltung. Der Gouverneur machte hier und da anstandshalber ein paar Einwendungen, unterzeichnete aber schließlich die fertigen Arbeiten, und sie wurden an die Zentralverwaltung eingesandt. Aber in Petersburg wollte man keine Reformen mehr. Unsere Vorschläge liegen dort heute noch begraben mit Hunderten ähnlicher Reformpläne aus allen Teilen Rußlands. Man baute in den Hauptstädten ein paar ›verbesserte‹ Gefängnisse, die noch schrecklicher als die alten unverbesserten waren, um hervorragenden Ausländern bei den Kongressen für das Gefängniswesen etwas vorzeigen zu können, aber alle anderen wie auch das gesamte Verbannungswesen fand George Kennan 1886 noch genau in demselben Zustande, wie ich sie 1862 verlassen hatte. Erst jetzt, nach fünfunddreißig Jahren, geht man von neuem an die Arbeit. Die Gerichtsreform wird wieder in Angriff genommen, die sibirischen Städte sollen mit einer Parodie auf die Selbstverwaltung bedacht werden, und abermals tagen Ausschüsse für die Untersuchung des Verbannungswesens.

Als Kennan von seiner sibirischen Reise nach London zurückkam, ließ er sich die Mühe nicht verdrießen, gleich am nächsten Tage Stepniak, Tschaykowsky, mich und einen anderen russischen Flüchtling aufzusuchen. Wir versammelten uns am Abend in Kennans Zimmer in einem kleinen Gasthaus unweit Charing Croß. Wir sahen ihn zum erstenmal, und da wir großes Mißtrauen gegen einen unternehmenden Engländer hegten, der sich ein paar Jahre vorher eine gründliche Kenntnis der sibirischen Gefängnisse verschaffen wollte, ohne ein Wort Russisch zu lernen, so fingen wir an, Kennan einem Kreuzverhör zu unterwerfen. Zu unserm Erstaunen sprach er nicht nur vorzüglich Russisch, sondern wußte auch alles Wissenswerte von Sibirien. Die Mehrzahl aller politischen Verbannten in Sibirien war einem oder dem andern von uns bekannt, und wir bestürmten Kennan mit Fragen: »Wo ist der und der? Ist er verheiratet? Ist er in seiner Ehe glücklich? Ist sein Geist noch frisch?« Zu unserer großen Genugtuung konnte Kennan auf alle Fragen Bescheid geben.

Als wir mit unserm Ausfragen zu Ende waren und Abschied nehmen wollten, stellte ich noch die Frage an ihn: »Wissen Sie auch, Herr Kennan, ob sie in Tschita einen Turm für die Feuerwehr gebaut haben?« Stepniak warf mir wegen dieses Mißbrauchs der Gutmütigkeit Kennans einen vorwurfsvollen Blick zu. Kennan aber brach in ein Lachen aus, in das ich bald einstimmte. Und unter beständigem Gelächter erfolgten Rede und Gegenrede: »Wie, wissen Sie davon?« »Und Sie auch?« »Gebaut?« »Ja, doppelt so hoher Voranschlag!« Da fiel uns Stepniak in seiner gutmütig ernsthaften Weise ins Wort: »So sagen Sie uns wenigstens, worüber Sie lachen!« worauf Kennan die Geschichte von dem Feuerwehrturm erzählte, die seinen Lesern noch im Gedächtnis sein muß. 1859 wollten die Tschitaer einen Wachturm bauen und brachten das Geld dafür auf, doch mußte der Voranschlag erst nach Petersburg eingesandt werden. Er ging also an das Ministerium des Innern ab; als er aber nach zwei Jahren genehmigt zurückkam, waren in der sich schnell entwickelnden jungen Stadt die Preise für Bauholz wie für Arbeitslöhne in die Höhe gegangen. Das war im Jahre 1862 während meines Tschitaer Aufenthaltes. Man machte einen neuen Anschlag und schickte ihn nach Petersburg, und die Geschichte wiederholte sich volle fünfundzwanzig Jahre hindurch, bis schließlich die Tschitaer die Geduld verloren und in ihrem Voranschlag fast doppelt so hohe Preise, als sie in Wirklichkeit waren, einsetzten. Dieser phantastische Voranschlag wurde in Petersburg mit aller Förmlichkeit geprüft und gutgeheißen. So kamen die Tschitaer zu ihrem Feuerwehrturm.

 

Man hat oft gesagt, Alexander II. habe dadurch einen großen Fehler begangen und seinen eigenen Untergang herbeigeführt, daß er so viele Hoffnungen erregte, die er später nicht erfüllte. Wie sich aus dem soeben Gesagten ergibt – und die Geschichte Tschitas ist die Geschichte des ganzen großen Reiches – hat er Schlimmeres als dies getan. Er hat nicht nur Hoffnungen erregt. Eine kurze Weile dem ihn umgebenden Strome der öffentlichen Meinung nachgebend, veranlaßte er in ganz Rußland Männer, an die Arbeit zu gehen, den Standpunkt bloßer Hoffnungen und Träume aufzugeben und in praktischer Weise die möglichen Reformen auszuarbeiten. Er ließ sie aufstellen, was sich sofort ausführen ließ, und erkennen, wie leicht die Ausführung war; er verleitete sie, was von ihren Idealen nicht sofort verwirklicht werden konnte, zum Opfer zu bringen und nur das zu fordern, was zur Zeit tatsächlich möglich war. Und als sie ihre Ideen in eine Form gebracht und zu Gesetzentwürfen verdichtet hatten, die zu ihrer Verwirklichung nur seiner Unterschrift bedurften, da verweigerte er diese Unterschrift. Kein Reaktionärer kann behaupten oder hat jemals behauptet, daß die bestehenden Einrichtungen, wie der Zustand der nicht reformierten Gerichte, der Mangel einer städtischen Selbstverwaltung oder das Verbannungssystem – gut und der Erhaltung wert seien; nie hat das einer zu behaupten gewagt. Und doch ließ man, um uns nicht irgend etwas Neues einzuführen, alles beim alten; fünfunddreißig Jahre lang wurden die, welche auf die Notwendigkeit einer Änderung hinzuweisen wagten, als ›Verdächtige‹ behandelt, und Einrichtungen, die nach einstimmigem Urteil schlecht waren, ließ man weiter bestehen, nur um nichts mehr von dem verabscheuten Worte ›Reform‹ zu hören.

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