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Drittes Kapitel.

Unsere Leibeigenen. – Gesellschaftliches und Familienleben. – Russische Fasten- und Osterzeit. – Bilder aus dem Leben der Leibeigenen. – Uebersiedelung aufs Land. – Aufenthalt in Nikolskoje.

 

In jener Zeit bemaß sich der Reichtum eines Grundbesitzers nach der Zahl der ihm gehörigen ›Seelen‹. So viele Seelen bedeutete so viele männliche Leibeigene, denn die Frauen zählten nicht mit. Mein Vater, der in drei verschiedenen Provinzen fast zwölfhundert Seelen sein eigen nannte und außer den Lehnsgütern seiner Leute große Strecken Landes besaß, die von diesen Leuten bestellt wurden, galt für einen reichen Mann. Dementsprechend lebten wir auch, das heißt, unser Haus übte eine fast schrankenlose Gastfreundschaft, und der Haushalt war in großem Stile eingerichtet.

Unsere Familie bestand aus acht, zeitweise aus zehn oder zwölf Personen. Aber in Moskau fünfzig Dienstboten und auf dem Lande noch fünfundzwanzig mehr zu halten, schien nicht zu viel. Vier Kutscher zu zwölf Pferden, drei Köche für den Herrentisch und zwei Köchinnen für die Dienerschaft, ein Dutzend Aufwärter bei Tische (hinter dem Stuhle jedes Tischgenossen stand einer mit dem Teller in der Hand) und ungezählte Mädchen in der Mägdestube – war doch das mindeste, was man haben mußte.

Außerdem war es für einen Grundbesitzer Sache des Ehrgeizes, alles, was für den Haushalt nötig war, im Hause und von eigenen Leuten anfertigen zu lassen.

»Wie hübsch Ihr Klavier immer gestimmt ist! Ich denke mir, Sie lassen es von Herrn Schimmel stimmen?« bemerkte etwa ein Besucher.

Darauf antworten zu können: »Ich habe meinen eigenen Klavierstimmer,« gereichte dem Hausherrn zur größten Befriedigung.

»Was für ein schöner Aufsatz,« rief vielleicht ein Gast, wenn ein Kunstgebilde aus verschiedenem Eis und feinem Backwerk gegen Ende des Mahles erschien. »Gestehen Sie, Fürst, das kommt von Tremblé?« (dem gesuchtesten Zuckerbäcker).

»Es ist von meinem eigenen Zuckerbäcker, einem Schüler Tremblés, der heute einen Beweis seiner Kunstfertigkeit ablegen durfte,« erschien damals als eine Antwort, die allgemeine Bewunderung hervorrief.

Stickereien, Pferdegeschirre, Möbel, kurz alles, von der Hand der eigenen Leute hergestellt zu haben, war das Ideal eines reichen und angesehenen Grundbesitzers. Sobald die Kinder der Diener das zehnte Lebensjahr erreicht hatten, wurden sie in feinen Geschäften in die Lehre gegeben, wo dann fünf oder sieben Jahre lang ihre Haupttätigkeit darin bestand, daß sie den Besen führten, unglaubliche Trachten Prügel erhielten und als Laufburschen in der Stadt umherliefen. Ich muß gestehen, daß es nur wenige in dem betreffenden Handwerk zur Meisterschaft brachten. Die Schneider und Schuhmacher erwiesen sich schließlich gerade geschickt genug, Kleider und Schuhe für die Dienerschaft anzufertigen, und wollte man den Mittagsgästen eine wirklich gute Torte vorsetzen, so bestellte man sie bei Tremblé, während unser Zuckerbäcker in unserer Kapelle die Trommel schlug.

Diese Kapelle war ein zweiter Gegenstand des väterlichen Ehrgeizes, und fast jeder männliche Diener hatte neben seinen übrigen Verrichtungen in der Kapelle ein Instrument zu spielen, Viola, Klarinette oder sonst etwas. So war der Klavierstimmer Makar, für gewöhnlich Gehilfe des Kellermeisters, nebenbei Flötist; der Schneider Andrei blies das französische Horn. Der Zuckerbäcker hatte erst die Trommel zu rühren, machte aber mit seinem Instrument einen so betäubenden Lärm, daß man eine kolossale Trompete für ihn kaufte, in der Hoffnung, seine Lungen würden nicht imstande sein, mit diesem Instrument ebensolchen Lärm zu machen wie vormals seine Hände. Als aber auch diese letzte Hoffnung zu schanden ging, steckte man ihn unter die Soldaten. Der ›scheckige Tichon‹, der sich als Lampenputzer, Flurwichser und Stiefelreiniger im Haushalt nützlich machte, war außerdem ebenfalls in der Kapelle tätig und zwar als Posaune, bald als Fagott und gelegentlich als zweite Violine.

Nur die beiden ersten Violinen machten eine Ausnahme, sie waren ›Violinen‹ und weiter nichts. Mein Vater hatte sie mit ihren zahlreichen Familien für ein gut Stück Geld von seinen Schwestern gekauft (niemals kaufte er Leibeigene von Fremden oder verkaufte sie an Fremde), wenn er abends nicht in seinem Klub war oder bei uns ein Diner oder eine Abendgesellschaft stattfand, hatte die zwölf bis fünfzehn Mann starke Kapelle aufzuspielen. Sie spielte sehr hübsch und war für Tanzgesellschaften in der Nachbarschaft stark gesucht, insbesondere während unseres Landaufenthaltes. Das war natürlich eine immer neue Quelle der Befriedigung für meinen Vater, dessen Erlaubnis man nachsuchen mußte, um die Kapelle auf einen Abend zu erhalten.

In der Tat gewährte ihm nichts größeres Vergnügen, als wenn man ihn um seinen Beistand ersuchte, sei es in der geschilderten oder sonst in irgendeiner Weise, etwa um eine Freistelle für ein Kind zu erhalten oder um sich oder eine dritte Person von der gerichtlich verhängten Strafe zu befreien. Obgleich er manchmal in Wut geraten konnte, neigte er sich doch von Natur mehr zur Nachsicht und Milde, und ging man ihn um Hilfe an, so schrieb er für seinen Schützling Dutzende von Briefen nach allen Himmelsrichtungen und an alle möglichen einflußreichen Personen. Dann vermehrte sich seine schon für gewöhnlich starke Post noch durch ein halbes Dutzend Extrabriefe, die in höchst originellem, halb offiziellem, halb humoristischem Stile geschrieben waren. Natürlich war jedes Schreiben mit seinem Wappen untersiegelt und steckte in einem großen viereckigen Umschlag, der wegen der Menge Sandes darin – Löschblätter gab es damals noch nicht – wie eine Kinderklapper rasselte. Je schwieriger der Fall lag, desto mehr Energie wendete er auf, bis er die für seinen ihm oft nicht einmal dem Aussehen nach bekannten Schützling nachgesuchte Begünstigung erlangt hatte.

Mein Vater liebte es, viel Gäste im Hause zu haben. Um vier Uhr war unsere Mittagsstunde, und um sieben sammelte sich die Familie um den Samowar zum Tee. Wer zu unserm Kreise gehörte, konnte um diese Stunde vorsprechen, und seit meine Schwester Helene wieder bei uns war, fehlte es nicht an alten wie jungen Gästen, die sich jenes Vorrecht zunutze machten. Wenn man von der Straße die Zimmer hellerleuchtet sah, so wußten die Leute schon, daß die Familie zu Hause und Gäste willkommen waren.

Fast jeden Abend hatten wir Besuch. Dann wurden die grünen Tische im Saale für die Kartenspieler freigemacht, während die Damen und jungen Leute sich im Empfangszimmer aufhielten oder sich um Helenens Klavier sammelten. Waren die Damen wieder fort, so dauerte das Kartenspielen manchmal bis zu den frühen Morgenstunden, und beträchtliche Geldsummen wanderten aus einer Hand in die andere. Vater verlor ein- wie allemal. Doch wirklich gefährlich war es für ihn nicht zu Hause, sondern im englischen Klub, wo die Einsätze weit höher waren, und ganz besonders, wenn er mit ›sehr anständigen‹ Herren in einem der ›anständigsten‹ Häuser des Alten Marschallviertels, wo man die ganze Nacht durchspielte, eine Partie machte. Bei solchen Gelegenheiten waren seine Verluste ausnahmslos sehr hoch.

Nicht selten veranstaltete man ein Tänzchen, ganz abgesehen von den großen Bällen, die jeden Winter gegeben werden mußten. Vaters Grundsatz war, bei gesellschaftlichen Veranstaltungen in keiner Weise nach den Kosten zu fragen. Dabei herrschte aber für gewöhnlich in unserm Hause eine solche an Geiz grenzende Sparsamkeit, daß man mich, wollte ich davon erzählen, der Übertreibung zeihen würde. Man sagt von einer französischen Kronprätendentenfamilie, die wegen ihrer wahrhaft königlichen Jagdgesellschaften bekannt ist, es würden in ihrem Haushalte die Kerzen stückweise zugezählt. Genau ebenso knickerig verfuhr man bei uns in jeder Beziehung, und die Folge davon war, daß wir Kinder des Hauses, als wir älter wurden, alles Sparen und Zählen verabscheuten. Doch im Alten Marschallviertel diente eine solche Lebensweise nur dazu, meinen Vater in der allgemeinen Achtung zu heben. »Der alte Fürst,« hieß es, »scheint daheim mit dem Gelde zäh zu sein, aber er weiß, wie ein Edelmann auftreten muß.«

In unsern stillen und sauberen Gassen fand gerade dieses wirtschaftliche Verfahren den meisten Anklang. Einer unserer Nachbarn, General D…, führte ein Haus in großem Stil, und doch spielten sich jeden Morgen in seinem Hause die lächerlichsten Szenen zwischen ihm und seinem Koch etwa in folgender Weise ab. Nach dem Frühstück pflegte der General, seine Pfeife rauchend, selbst Anweisungen für das Mittagessen zu geben.

»Gut, mein Junge,« sagte er zu dem in schneeweißem Anzuge vor ihm erscheinenden Koch, »heute wird die Tafelrunde klein sein, nur ein paar Gäste. Du machst uns eine Suppe, du weißt, mit Frühjahrs-Delikatessen – grünen Erbsen, französischen Bohnen und dergleichen. Du hast uns noch gar keine gemacht, und die gnädige Frau, du weißt, ißt gerne eine gute französische Frühjahrssuppe.«

»Ja, gnädiger Herr.«

»Dann als Vorgericht, was du willst.«

»Ja, gnädiger Herr.«

»Für Spargel ist es natürlich noch etwas zu früh, aber ich habe gestern schon solche hübschen Bündel in den Läden gesehen.«

»Ja, gnädiger Herr, das Bündel acht Mark.«

»Ganz recht! Dann sind wir deine ewigen Hühner- und Putenbraten satt; du solltest was anderes geben.«

»Von Wild, gnädiger Herr?«

»Ja, ja, irgend eine Abwechslung.«

Und wenn die sechs Gänge bestimmt waren, so fragte der General: »Nun, wieviel wirst du also heute für das Mittagessen brauchen? Sechs Mark wird's tun, denke ich.«

»Zwanzig Mark, gnädiger Herr!«

»Unsinn, mein Junge! Hier sind sechs Mark; das wird ganz sicher genügen.«

»Acht Mark der Spargel, fünf Mark das Gemüse.«

»Nun, sieh her, mein lieber Junge, sei vernünftig. Ich will meinetwegen bis auf sieben und sechs gehen, und du mußt hübsch sparsam sein!«

Und so dauerte das Feilschen eine halbe Stunde lang, bis sie endlich auf vierzehn eine halbe Mark einig wurden, mit der Bedingung, daß das nächste Mittagessen nicht mehr als drei Mark kosten dürfte. Darauf stieg der General, ganz glücklich über den guten Handel, den er gemacht zu haben glaubte, in seinen Schlitten, ließ sich zu verschiedenen feinen Läden fahren, brachte seiner Frau höchst vergnügt eine Flasche auserlesenen Parfüms mit, für die er in einem französischen Geschäft einen fabelhaften Preis bezahlt hatte, und teilte seiner Tochter mit, man würde ihr am Nachmittage einen neuen Samtmantel – etwas sehr Einfaches und sehr Kostbares – zur Ansicht zusenden.

Alle unsere Verwandten, die von väterlicher Seite sehr zahlreich waren, lebten genau in derselben Weise, und wenn sich einmal ein neuer Geist geltend machte, so äußerte er sich gewöhnlich in der Form einer religiösen Neigung. So trat ein Fürst Gagarin in den Jesuitenorden, wieder ein Skandal für ›ganz Moskau‹; ein anderer junger Fürst ging in ein Kloster, während verschiedene ältere Damen fanatische Orthodoxe wurden.

Nur einer machte eine Ausnahme; es war dies einer unserer nächsten Verwandten – ich will ihn Fürst Mirski nennen – der als junger Mann als Gardeoffizier in Petersburg gelebt hatte. Dieser fand keinen Reiz darin, seine eigenen Schneider und Schreiner zu halten, denn sein Haus war in vornehmem Stil und modern möbliert, und die Kleider ließ er nur in den ersten Petersburger Geschäften anfertigen. Das Spiel zog ihn nicht an – er spielte nur Karten, wenn Damen in der Gesellschaft waren, – dagegen war sein schwacher Punkt seine Tafel, auf die er unglaubliche Summen verwandte.

Die größten Ausschweifungen beging er in der Fasten- und Osterzeit. Wenn die erstere anbrach und es unschicklich war, Fleisch, Rahm oder Butter zu genießen, dann nahm er die Gelegenheit wahr, seiner Erfindungsgabe auf dem Gebiete der Fischdelikatessen freien Raum zu lassen. Die ersten Handlungen beider Hauptstädte wurden für diesen Zweck geplündert, besondere Boten schickte er von seinem Gute nach der Mündung der Wolga, um mit der Post – Eisenbahnen gab es noch nicht – einen mächtigen Stör oder einen in ganz besonderer Weise gepökelten Fisch heimzubringen. Und kam dann die Osterzeit, so verfiel er auf immer neue kulinarische Genüsse.

 

Ostern ist für die Russen das heiligste und zugleich das heiterste von allen Jahresfesten. Es ist das Fest des Frühlings. Die ungeheuren Schneemassen, die im Winter auf den Straßen gelegen haben, schmelzen schnell, und tosende Bäche stürzen dahin. Denn nicht wie ein Dieb, der sich langsam und leise einschleicht, kommt der Lenz, frei und frank tritt er auf, jeder einzelne Tag räumt mit dem Schnee sichtbar auf und läßt vor unsern Augen die Knospen der Bäume springen; nur der Nachtfrost legt der zu eiligen Schneeschmelze Zügel an.

Die letzte Fastenwoche, die Leidenswoche, beging man in meiner Kindheit in Moskau mit äußerster Strenge. Es war eine Zeit allgemeiner Trauer, und in gewaltigen Scharen strömte das Volk zu den Kirchen, um andachtsvoll dem Vorlesen jener Stellen aus den Evangelien zu lauschen, die von den Leiden Christi berichten. Nicht nur enthielt man sich des Fleisches, der Eier und der Butter, sondern verschmähte auch Fisch; ja, wer recht streng und peinlich war, nahm am Charfreitag überhaupt keine Nahrung zu sich. Um so größer war der Gegensatz beim Anbruch des Osterfestes.

Am Samstag besuchte jeder den Abendgottesdienst, der in seinem ersten Teil einen düsteren, trauervollen Charakter trug. Dann aber, um Mitternacht, wurde plötzlich die Auferstehungsbotschaft verkündet. Zugleich erstrahlten alle Kirchen in hellem Glanz unzähliger Lichter, und von Hunderten von Glockentürmen erklang fröhliches Geläut. Allgemeiner Jubel begann. Einer küßte den andern dreimal auf die Wange und wiederholte dabei die Auferstehungsworte, und in den nun lichtdurchströmten Kirchen konnte sich das Auge an den hellen Toiletten der Damen erfreuen. Die ärmste Frau trug ein neues Kleid; hatte sie nur einmal im Jahre einen neuen Anzug, so war es in dieser Nacht.

Zugleich war Ostern und ist noch jetzt das Signal zu einer wahren Völlerei. Ein besonderer Rahmkäse (paska) und Osterbrot (kulitsch) werden bereitet, und jeder, und wäre es auch der Ärmste, muß wenigstens einen kleinen paska und einen kleinen kulitsch haben, sowie zum mindesten ein rotes Ei. Diese Speisen läßt er sich in der Kirche segnen, um damit die Fasten zu brechen. Bei den meisten alten Russen fing das Essen nachts nach einer kurzen Ostermesse an, gleich nachdem die geweihten Speisen nach Hause gebracht waren. In den Häusern des Adels wurde jedoch die Zeremonie bis zum Sonntagmorgen aufgeschoben, wo man einen Tisch mit allerlei Arten von Fleisch, Käse und Gebäck zum Brechen belud und alle Diener kamen, mit ihren Herren drei Küsse und ein rot bemaltes Ei auszutauschen. Die ganze Osterwoche hindurch stand ein Tisch voll Osterspeisen in dem großen Saale, und jeder Besucher des Hauses war zum Mahle geladen.

Bei dieser Gelegenheit übertraf Fürst Mirski sich selbst. Mochte er in Petersburg oder Moskau sein, so brachten ihm Boten von seinem Gute besonders bereiteten Rahmkäse, und sein Koch verfertigte daraus nach allen Regeln der Kunst etwas in seiner Art vollendetes. Andere Boten eilten nach Nowgorod, um einen für die Ostertafel des Fürsten eigens zubereiteten Bärenschinken zu holen. Und während die Fürstin und ihre beiden Töchter die Klöster strengster Observanz aufsuchten, wo der nächtliche Gottesdienst drei bis vier Stunden hintereinander dauerte, die ganze Leidenswoche hindurch sich tiefer Bekümmernis hingaben und in der Zeit, da sie nicht russische, katholische oder protestantische Priester anhörten, nur ein Stück trockenes Brot zu sich nahmen, fand sich ihr Gatte und Vater jeden Morgen in den wohlbekannten Geschäften von Miljutin in Petersburg ein, wo die auserlesensten Delikatessen von allen Enden der Welt zu haben waren. Hier wählte er sich die ausschweifendsten Leckereien für seinen Ostertisch aus. Hunderte von Besuchern kamen in sein Haus und wurden aufgefordert, diese oder jene Seltenheit ›nur einmal zu kosten‹.

Das Ende davon war, daß der Fürst es fertig brachte, ein beträchtliches Vermögen im wahren Sinne des Wortes aufzuzehren. Sein reichmöbliertes Haus, seine schönen Güter wurden verkauft, und als er und seine Frau alt geworden waren, blieb ihnen nichts mehr, nicht einmal ein eigenes Heim, und sie mußten bei ihren Kindern leben.

 

Kein Wunder, daß fast alle diese Familien des Alten Marschallviertels, als die Aufhebung der Leibeigenschaft kam, ruiniert waren. Doch ich darf nicht vorgreifen.

Der Unterhalt so vieler Diener, wie sie in unserm Hause gehalten wurden, wäre ein schier unerschwingliche wirtschaftliche Last gewesen, hätten alle Lebensmittel in Moskau gekauft werden müssen; aber in jener Zeit der Leibeigenschaft wußte man sich auf sehr einfache Weise zu helfen: Wenn der Winter kam, setzte sich Vater hin und schrieb folgendes:

»An meinen Gutsverwalter von Nikolskoje im Gouvernement Kaluga, im Bezirk von Meschowsk an der Sirena, vom Fürsten Alexei Petrowitsch Krapotkin, Obersten und Ritter verschiedener Orden.

»Nach Erhalt dieses und sobald genügend Schnee liegt, sollst du zu meinem Hause in Moskau fünfundzwanzig zweispännige Bauernschlitten senden, von jedem Hause ein Pferd und von jedem zweiten Hause einen Schlitten und einen Mann, und darauf sollst du laden (so viele) Viertel Hafer; (so viele) Weizen und (so viele) Roggen und dazu in gut gefrorenem Zustande alle Hühner, Gänse und Enten, die in diesem Winter geschlachtet werden sollen, in guter Verpackung und unter der Obhut eines geeigneten Wächters;« und so ging es ein paar Seiten fort bis zum nächsten Punkt. Dann folgte die Aufzählung der Strafen, die den Verwalter treffen sollten, kämen die Lebensmittel nicht in dem Hause, gelegen in obengenannter Straße, Nummer so und so, zu rechter Zeit und in guter Verfassung an.

Einige Zeit vor Weihnachten fuhren die fünfundzwanzig Bauernschlitten wirklich durch unser Tor und füllten den geräumigen Hof.

»Frol!« rief mein Vater, sobald man ihm das große Ereignis gemeldet hatte. »Kirjuschka! Wegorka! wo sind sie? Alles wird gestohlen werden! Frol, geh und nimm den Hafer in Empfang! Uliana, geh und nimm die Hühner! Kirjuschka, rufe die Fürstin!«

Das ganze Haus war in Aufruhr, wild rannten die Diener nach allen Richtungen, vom Saal in den Hof und vom Hof in den Saal und vor allem in die Mägdestube, um dort die Neuigkeiten von Nikolskoje auszukramen: ›Pascha wird nach Weihnachten heiraten. Tante Anna ist entschlafen‹ und so fort. Auch Briefe waren mitgekommen, und sehr bald stahl sich eine von den Mägden hinauf in mein Zimmer.

»Bist du allein? Der Lehrer ist nicht da?«

»Nein, er ist in der Universität.«

»Gut, dann sei so freundlich und lies mir diesen Brief von Muttern vor!«

Und ich las laut den naiven Brief, der immer mit den Worten begann: »Vater und Mutter senden dir ihren Segen für alle Zeit deines Lebens.« Dann kamen die Neuigkeiten: »Tante Eupraxia liegt krank, alle Knochen tun ihr weh; und deine Base ist noch nicht verheiratet, aber sie hofft es nach Ostern zu sein, und Tante Stepanida's Kuh ist Allerheiligen krepiert.« Nach den Neuigkeiten kamen zwei Seiten lang die Grüße »Bruder Paul sendet dir Grüße, und die Schwestern Marie und Darja schicken Grüße, und dann schickt dir Onkel Dmitri viele Grüße« und so weiter. Doch trotz der Eintönigkeit der Aufzählung rief jeder Name Bemerkungen hervor: »Dann lebt sie noch, die arme Seele, da sie Grüße schickt; neun Jahre liegt sie schon und kann sich nicht rühren;« oder: »Ach, er hat mich nicht vergessen; er muß also auf Weihnachten heimgekommen sein, so ein hübscher Junge. Du schreibst mir einen Brief, nicht wahr? Und dann darf ich den Guten nicht vergessen.« Ich versprach es natürlich und schrieb, wenn die Zeit kam, einen Brief genau in demselben Stile.

Waren die Schlitten entladen, so füllte sich das Vorzimmer mit Bauern. Sie hatten über ihre Schafspelze ihre besten Röcke gezogen und warteten, bis Vater sie in sein Zimmer rufen würde, um mit ihnen über den Schnee und die Aussichten für die neue Ernte zu reden. Sie wagten kaum, mit ihren schweren Stiefeln auf den gewichsten Boden zu treten; nur wenige waren kühn genug, sich auf den Rand einer eichenen Bank zu setzen, und lebhaft verwahrten sie sich dagegen, auf den Stühlen Platz zu nehmen. So warteten sie stundenlang und blickten unruhig auf jeden, der Vaters Zimmer betrat oder verließ.

Nicht lange darauf, gewöhnlich am nächsten Morgen, kam verstohlen eine von den Mägden ins Klassenzimmer.

»Bist du allein?«

»Ja.«

»Dann geh schnell in das Vorzimmer. Die Bauern wollen dich sehen; etwas von deiner Amme.«

Wenn ich dann eilends hinunterging, gab mir ein Bauer ein kleines Bündel, das vielleicht ein paar Roggenkuchen, ein halb Dutzend hartgekochte Eier und Äpfel enthielt, alles in ein buntes Baumwolltuch gebunden. »Da, nimm; deine Amme Wasilisa schickt es dir. Sieh, ob die Äpfel nicht erfroren sind. Ich hoffe nicht; ich habe sie den ganzen Weg an meiner Brust gehalten. Solchen fürchterlichen Frost hatten wir.« Und das breite, bärtige, mit Frostbeulen bedeckte Gesicht verzog sich zu strahlendem Lächeln, während zwei Reihen schöner weißer Zähne durch einen ganzen Wald von Haaren schimmerten.

»Und dies ist für deinen Bruder von seiner Amme Anna,« sagte ein andrer Bauer, indem er mir ein ähnliches Bündel einhändigte. »›Armer Junge‹, sagte sie, ›er kann in der Schule gar nicht genug kriegen‹.«

Errötend und in Verlegenheit, was ich sagen sollte, flüsterte ich endlich: »Sage Wasilisa, daß ich sie küsse, und Anna auch für meinen Bruder,« wobei alle Gesichter noch strahlender wurden.

»Ja, ich werde, verlaß dich drauf.«

Dann flüsterte Kirila, die an Vaters Tür aufpaßte, auf einmal: »Lauf schnell hinauf; dein Vater wird im Augenblick herauskommen. Vergiß das Tuch nicht; sie müssen's wieder mitnehmen.«

Wenn ich das abgeschabte Tuch sorgfältig zusammenfaltete, fühlte ich den leidenschaftlichen Wunsch, Wasilisa etwas zu schicken. Aber ich hatte nichts zu schicken, nicht einmal ein Spielzeug, und Taschengeld erhielten wir niemals.

 

Unsere beste Zeit war natürlich die auf dem Lande. Wenn erst Ostern und Pfingsten vorüber waren, bildete Nikolskoje das Ziel aller unserer Gedanken. Doch die Zeit verging – schon mußte der Flieder in Nikolskoje geblüht haben – und doch hielten unsern Vater tausend Geschäfte in der Stadt zurück. Endlich fuhren fünf oder sechs Bauernwagen in unsern Hof, die alle möglichen Gegenstände nach unserm Landhause bringen sollten. Auch die große alte Kutsche und die andern Kutschen, in denen wir die Reise zurücklegen sollten, wurden hervorgezogen, um noch einer Besichtigung unterzogen zu werden, und das Packen der Kisten fing an. Mit unserm Unterricht ging es nur langsam vorwärts, denn jeden Augenblick unterbrachen wir unsern Lehrer und fragten, ob wir dieses oder jenes Buch mitnehmen sollten, und lange vor allen andern fingen wir an, unsere Bücher, unsere Tafeln und unser selbstgemachtes Spielzeug einzupacken.

Am Ende war alles fertig, und die Bauernwagen standen im Hofe, schwer beladen mit Möbeln für das Landhaus, mit Kisten voll von Küchengeräten und mit unglaublichen Mengen von leeren Glasflaschen, die dann im Herbst, mit allem möglichen Guten gefüllt, wieder mitgenommen werden sollten. Jeden Morgen warteten die Bauern stundenlang im Saale, aber der Befehl zum Abfahren wurde nicht gegeben. Vater hatte immer noch den ganzen Morgen zu schreiben und ging jeden Abend aus. Endlich trat unsere Stiefmutter dazwischen, nachdem ihre Kammerfrau sich zu der Mitteilung erkühnt hatte, die Bauern wären voller Sorge wegen ihrer baldigen Rückfahrt, da das Heuen vor der Türe sei.

Am nächsten Vormittag wurden der Hausmeister Frol und die erste Violine Michael Alejew in Vaters Zimmer gerufen. Ein Sack mit dem ›Zehrgeld‹, das heißt nur wenige Kupfermünzen täglich für jede von den vierzig oder fünfzig Seelen, die mit dem Haushalt nach Nikolskoje übersiedeln sollten, wurde Frol samt einer Liste eingehändigt. In der Liste waren alle aufgezählt: die Musikkapelle vollständig, dann die Köchinnen und Küchenmägde, die Wäscherinnen und Büglerinnen, die Unterwäscherin, die mit einer Familie von sechs Kleinigkeiten gesegnet war, die schielende Polka, Domna die Große, Domna die Kleine und die andern.

Die erste Violine erhielt eine ›Marschordre‹. Ich kannte sie gut, weil Vater, da er sah, daß er niemals fertig würde, mich hatte kommen lassen, um sie in das Buch einzutragen, das Abschriften aller ›nach außen gehenden Papiere‹ enthielt. Sie lautete:

»An meinen Hausdiener, Michael Alejew, vom Fürsten Alexei Petrowitsch Krapotkin, Obersten und Ritter verschiedener Orden.

»Du sollst am 29. Mai um 6 Uhr vormittags mit meinem Gepäck ausziehen von der Stadt Moskau nach meinem Landgute im Gouvernement Kaluga, Bezirk Meskowsk, an der Sirena, das ist eine Entfernung von dreiunddreißig Meilen von diesem Hause; du sollst darauf sehen, daß die dir anvertrauten Leute sich gut aufführen; und falls einer von ihnen sich übler Aufführung oder Trunkenheit oder Aufsässigkeit schuldig macht, so sollst du besagten Mann an den Kommandierenden der Garnisonabteilung des getrennten Korps der inneren Garnisonen mit einliegendem Schreiben abliefern und darum nachsuchen, daß er durchgepeitscht werde (die erste Violine wußte, wer gemeint war), als Beispiel für die andern.

»Du sollst ferner insbesondere für den guten Zustand der deiner Obhut befohlenen Güter Sorge tragen und den Zug in folgender Weise führen: Erster Tag, Halt bei dem Dorfe So und So zur Fütterung der Pferde; zweiter Tag, Übernachten in der Stadt Podolsk« und so weiter für alle sieben oder acht Tage, die die Reise dauerte.

Am nächsten Tage, aber um zehn statt um sechs Uhr – Pünktlichkeit ist keine russische Tugend, und der echte Russe sagt: »Gott sei Dank, wir sind keine Deutschen« – verließen die Wagen das Haus. Die Dienstboten mußten den Weg zu Fuß zurücklegen, nur die Kinder fanden in einer Badewanne oder einem Korbe einen Sitz hoch auf dem beladenen Wagen; und hin und wieder konnte eine und die andere von den Frauen sich auf einem leeren Plätzchen am Rande des Wagens ausruhen. Aber alle übrigen mußten die ganzen dreiunddreißig Meilen zu Fuße gehen. Solange sich der Zug noch im Moskauer Weichbild befand, wurde strenge Disziplin gehalten, und es war aufs strengste verboten, Stulpenstiefel zu tragen oder einen Gürtel über den Rock zu schnallen. Aber wenn sie auf der Landstraße waren und wir ein paar Tage später an ihnen vorüberkamen, und besonders wenn bekannt war, daß Vater noch ein paar Tage länger in Moskau bleiben würde, dann sah die ganze Schar mehr wie eine umherziehende Zigeunerbande aus als wie das Hausgesinde eines reichen Grundbesitzers. Männer wie Frauen trugen alle denkbaren und undenkbaren Arten von Kleidern, hatten sich zum Teil mit baumwollenen Taschentüchern gegürtet und wanderten, bald von der glühenden Sonne versengt, bald unter strömendem Regen triefend, mit mächtigen dem nächsten Walde entliehenen Stöcken dahin. Ähnliche Wanderzüge unternahm damals jede Familie, und wenn wir in einer unserer Straßen eine lange Reihe von Dienern gehen sahen, so wußten wir sofort, daß die Apuchtins oder die Prjanischnikows auf dem Zuge waren.

Die Wagen waren nun wohl fort, aber die Familie rührte sich noch nicht. Wir waren sämtlich krank vom Warten, doch Vater hörte nicht auf, endlose Anweisungen an die Gutsverwalter zu verfassen, die ich dann emsig in das ›Außenbuch‹ eintrug. Schließlich erging auch an uns der Befehl zum Aufbruch. Man rief uns hinunter, und mein Vater las laut die Marschordre an ›die Fürstin Krapotkin, Ehefrau des Fürsten Alexei Petrowitsch Krapotkin, Obersten und Ritters‹, vor, worin die Halteplätze während der fünftägigen Reise nach Gebühr und Ordnung aufgezählt wurden. Freilich, die Ordre lautete auf den 30. Mai, und die Abreise war auf neun Uhr vormittags festgesetzt, obgleich der Mai schon vorüber war und der Aufbruch nachmittags erfolgte: damit fielen alle Berechnungen über den Haufen. Doch, wie meist auch in militärischen Marschordres, war dieser Umstand vorgesehen und durch folgenden Paragraphen entsprechende Vorsorge getroffen:

»Wenn jedoch zuwider aller Erwartung die Abreise Eurer Hoheit nicht an besagtem Tage und zu besagter Stunde stattfindet, so werden Sie ersucht, nach Ihrer besten Einsicht so zu handeln, daß die Reise einen guten Ausgang nimmt.«

Dann setzten sich alle Anwesenden, Herrschaft wie Dienerschaft, bekreuzten sich, und nun verabschiedeten wir uns von meinem Vater. »Ich beschwöre dich, Alexis, geh nicht in den Klub,« sagte meine Stiefmutter leise zu ihm. Die große, vierspännige, von einem Postillon geleitete Kutsche mit ihrer kleinen das Einsteigen erleichternden Schlagleiter stand vor der Tür, und auch die andern Kutschen waren vorgefahren. Unsere Sitzplätze hatte Vater in der Marschordre genau bestimmt, aber unsere Stiefmutter mußte bereits in diesem frühen Stadium des großen Unternehmens ›nach ihrer besten Einsicht‹ handeln, und so erfolgte denn zur hohen Befriedigung unser aller der Aufbruch.

Für uns Kinder war die Reise eine unerschöpfliche Quelle des Vergnügens. Wir machten nur kurze Tagereisen, und zweimal täglich wurde gehalten, um die Pferde zu füttern. Da die Damen bei der geringsten Unebenheit des Weges aufschrieen, so wurde lieber ausgestiegen, wenn die Straße hinauf- oder hinunterging, was fortwährend der Fall war. Dies machten wir Kinder uns zunutze, indem wir einen schnellen Ausflug in den Wald am Wege wagten oder am Ufer eines kristallenen Baches dahinliefen. Überdies bot die schöngehaltene Moskau-Warschauer Landstraße, der wir ein Stück zu folgen hatten, mannigfaltige Bilder, die unsere Neugier fesselten: Reihen von Frachtwagen, Pilgergruppen und Leute aller Art. Zweimal des Tages machten wir in großen, belebten Dörfern Halt, und nach längerem Feilschen um den Preis für Heu und Hafer wie für den Samowar stiegen wir vor der Tür eines Gasthauses ab. Der Koch Andrei erstand ein Huhn und machte die Suppe, während wir inzwischen in den nächsten Wald liefen oder den Hof des großen Gasthauses näher in Augenschein nahmen.

In Malojaroslawetz, wo seinerzeit das russische Heer vergebens den Versuch machte, Napoleon auf seinem Rückzug von Moskau den Weg zu verlegen, nahmen wir gewöhnlich Nachtquartier. Herr Poulain, der im spanischen Feldzuge verwundet worden war, kannte die Schlacht bei Malojaroslawetz auf das genaueste oder behauptete dies wenigstens. Er nahm uns auf das Schlachtfeld und setzte uns auseinander, wie die Russen Napoleons Vormarsch aufzuhalten versucht, und wie die große Armee sie zusammengehauen und die russischen Linien durchbrochen hätte. Er schilderte uns die Ereignisse, als wäre er selbst dabei gewesen. Hier versuchten die Kosaken eine Schwenkung, aber Davoust oder irgend ein anderer Marschall schlug sie und verfolgte sie gerade bis über diese Hügel zur Rechten. Dort vernichtete Napoleons linker Flügel die russische Infanterie, und hier griff Napoleon in eigener Person, an der Spitze der Alten Garde, Kutusows Zentrum an und bedeckte sich und seine Garde mit unvergänglichem Ruhme.

Einmal wählten wir als Reiseweg die alte Straße nach Kaluga und rasteten in Tarutino; aber hier war Herr Poulain weit weniger beredt. Denn hier war es, wo Napoleon, der seinen Rückzug in mehr südlicher Richtung bewerkstelligen wollte, nach einer blutigen Schlacht sich genötigt sah, seinen Plan aufzugeben und die Smolensker Straße, die sein Heer auf dem Wege nach Moskau verwüstet hatte, zu verfolgen. Doch wurde Napoleon, wenigstens nach Poulains Darstellung, von seinen Marschällen getäuscht, sonst wäre er direkt nach Kiew und Odessa marschiert und hätte seine Adler über dem Schwarzen Meere flattern lassen.

Hinter Kaluga führte unser Weg fünf Meilen weit durch einen schönen Tannenwald, der in meinem Gedächtnis mit den glücklichsten Erinnerungen aus meiner Kinderzeit dauernd verknüpft ist. Der Sand in jenem Walde war so tief wie in der Sahara, und wir gingen sämtlich zu Fuß, während die Pferde, jeden Augenblick innehaltend, die Wagen langsam durch den Sand zogen. Seit ich das zehnte Lebensjahr überschritten hatte, gewährte es mir das größte Vergnügen, die übrigen Familienmitglieder hinter mir zu lassen und diese ganze Strecke allein zu durchwandern. Ungeheure, Jahrhunderte alte Rottannen strebten rings in die Höhe, und kein Laut erreichte das Ohr außer dem Rauschen und Knarren der Bäume. In einer kleinen Schlucht murmelte ein Quell, klar wie Kristall, und ein Wanderer hatte zur Benutzung für die Dürstenden, die nach ihm dorthin kommen würden, einen aus Birkenrinde gefertigten kegelförmigen Löffel mit einem gespaltenen Stecken als Stiel liegen lassen. Geräuschlos lief ein Eichhörnchen einen Baum hinauf, und das dichte Waldgestrüpp am Boden war nicht minder geheimnisvoll als die hohen Bäume. In diesem Walde erwachte zuerst meine Liebe zur Natur, und hier kam mir zum erstenmal eine dunkle Ahnung von ihrem nimmer rastenden Leben.

Hinter dem Walde und jenseit der Ugra, über die wir in einer Fähre setzten, verließen wir die breite Straße und fuhren auf schmalen Landwegen weiter, wo grüne Roggenähren sich zur Kutsche neigten, und die Pferde, die bei der Enge des Pfades dicht aneinander gedrängt, dahinliefen, rechts und links ein Maulvoll Gras rupfen konnten. Endlich kamen die Weiden in Sicht, die uns die Nähe unseres Dorfes verkündeten, und da stand auch auf einmal der hellgelbe Glockenturm der Nikolskojer Kirche vor uns.

 

Für das stille Leben eines damaligen Grundbesitzers war Nikolskoje ganz vorzüglich geeignet. Es fehlte dort jede Pracht, wie sie in reicheren Landsitzen entfaltet wird, aber in dem Plan der Häuser und Gärten wie in der ganzen Anlage verriet sich eine künstlerische Hand. Außer dem Hauptgebäude, das mein Vater vor kurzem hatte errichten lassen, lagen um einen geräumigen sauber gehaltenen Hof verschiedene kleinere Häuser, die ihren Bewohnern eine größere Unabhängigkeit gewährten, ohne doch einen engen Familienverkehr zu unterbinden. Ein ausgedehnter ›oberer Garten‹ diente ausschließlich der Obstbaumzucht, und durch ihn führte der Weg zur Kirche; was südlich davon bis zum Flusse lag, bildete einen einzigen großen Lustgarten mit Blumenbeeten und Alleen von Linden, Flieder und Akazien. Vom Balkon des Haupthauses hatte man einen schönen Blick auf den Fluß und eine alte Erdschanze, hinter der die Russen während des Mongoleneinfalls hartnäckig Widerstand geleistet hatten; weiterhin schweifte das Auge über gewaltige Fruchtfelder, die am Horizont ein dunkler Saum von Wäldern abschloß.

In den ersten Jahren, auf die ich mich besinnen kann, bewohnten wir mit Herrn Poulain ganz allein eines von den kleinen Häusern, und nachdem seine Erziehungsmethode durch das Eintreten unserer Schwester Helene etwas sanftere Formen angenommen hatte, standen wir auf dem besten Fuße miteinander. Vater nahm niemals teil an unserm Landaufenthalt, da er im Sommer regelmäßig militärische Inspektionen unternahm, und unsere Stiefmutter kümmerte sich, zumal nach der Geburt ihres eigenen Kindes Pauline, nicht viel um uns. So waren wir immer mit Herrn Poulain zusammen, der das Leben auf dem Lande gründlich genoß und es auch uns genießen ließ. Was gab es da nicht alles Entzückendes: Die Wälder, die Spaziergänge am Fluß, das Klettern über die Hügel zu der alten Schanze, die Poulain durch seine Erzählungen von der Verteidigung der Russen und der endlichen Einnahme durch die Tartaren für uns noch mehr belebte, kleine Abenteuer, wobei Poulain Alexander vorm Tode des Ertrinkens rettete, gelegentlich eine Begegnung mit einem Wolf – kurz, da war kein Ende immer neuer köstlicher Eindrücke.

Auch größere Ausflüge wurden unternommen, an denen die ganze Familie teilnahm. Manchmal ging es in den Wald zum Pilzesuchen; dann tranken wir unsern Tee mitten im Walde, wo ein hundert Jahre alter Mann allein mit seinem Enkel lebte und Bienenzucht trieb. Ein andermal fuhren wir nach einem uns gehörigen Dorfe, wo ein großer Teich gegraben worden war, in dem man schimmernde Karpfen zu Tausenden fing; zum Teil erhielt diese der Grundherr, und die übrigen wurden unter die Bauern verteilt. In diesem Dorfe lebte meine frühere Amme. Ihre Familie war eine der ärmsten; außer ihrem Mann hatte sie zu ihrer Hülfe nur einen kleinen Knaben und ein Mädchen, meine Milchschwester, die später Predigerin und ›Jungfrau‹ in der Sekte wurde, deren Anhänger sie waren. Die Freude der Frau bei meinem Besuche war grenzenlos. Rahm, Eier, Äpfel und Honig war alles, was sie mir anbieten konnte, aber die Art, wie sie mir dies bot, auf glänzenden Holztellern, die auf einem mit feinem, schneeweißem Linnen bedeckten Tische standen (bei den russischen Sekten ist höchste Sauberkeit ein religiöses Gebot), und die freundlichen Worte, die sie an mich richtete, als wäre ich ihr eigener Sohn, erregten in meinem Herzen die wärmsten Gefühle. Das gleiche gilt von den Ammen meiner älteren Brüder, Nikolaus' und Alexanders, die hervorragende Mitglieder anderer Sekten in Nikolskoje waren. Wie wenige wissen, welcher Schatz von Güte sich in den Herzen russischer Bauern birgt, selbst nach Jahrhunderten erbarmungslosester Unterdrückung, die sie mit gerechter Erbitterung hätte erfüllen können!

An regnerischen Tagen wurde Herr Poulain nicht müde, uns insbesondere vom spanischen Feldzuge zu erzählen.

Immer von neuem mußte er uns wiederholen, wie er in der Schlacht verwundet worden sei, und jedesmal, wenn er zu der Stelle kam, wo er fühlte, wie das warme Blut in seinen Stiefel floß, sprangen wir auf, küßten ihn und gaben ihm durch alle möglichen Kosenamen unsere Teilnahme zu erkennen.

Wie es schien, diente alles dazu, uns auf die militärische Laufbahn vorzubereiten: die Vorliebe unseres Vaters – das einzige Spielzeug, das er, soviel ich mich erinnere, für uns gekauft hat, waren eine Flinte und ein wirkliches Schilderhaus –, die Kriegsgeschichten Herrn Poulains und auch die Bücherei, die uns zur Verfügung stand. Diese Sammlung, die einst dem General Repninski, unserem Urgroßvater mütterlicherseits, einem theoretisch gebildeten Militär des achtzehnten Jahrhunderts, gehört hatte, bestand ausschließlich aus kriegswissenschaftlichen Büchern, die mit guten Kupfern geschmückt und schön in Leder gebunden waren. Es war an Regentagen unser Hauptvergnügen, uns in diesen Büchern die Kupfer anzusehen, auf denen die seit den Zeiten der Hebräer gebrauchten Kriegswaffen dargestellt waren, sowie die Pläne aller seit Alexander von Makedonien gelieferten Schlachten. Auch boten diese Bücher ausgezeichnetes Material zur Erbauung starker Festungen, die eine Zeitlang die Stöße eines Mauerwidders und die Geschosse eines Archimedischen Katapults aushalten konnten – übrigens wurde die letztere Angriffswaffe, bei der die Fenster zu sehr in Mitleidenschaft kamen, bald verboten. Trotz alledem ist weder Alexander noch bin ich Soldat geworden. Die Literatur der sechziger Jahre wischte die Lehren und Eindrücke der Kindheit aus.

Herrn Poulains Ansichten über Revolutionen waren die der orleanistischen ›Illustration Française‹, von der er alte Nummern erhielt, und deren Holzschnitte wir sämtlich kannten. Eine Zeitlang konnte ich mir eine Revolution nur in Gestalt des Todes vorstellen, der auf einem Pferde sitzt und in einer Hand die rote Flagge, in der andern eine Sense hält, mit der er rechts und links Menschen niedermäht. Doch glaube ich jetzt, daß sich Herrn Poulains Abneigung nur auf die Bewegung von 1848 bezog, da eine Erzählung aus seinem Munde über die Revolution von 1789 einen tiefen Eindruck auf mich gemacht hat.

Die Anrede ›Fürst‹ wurde in unserm Hause mit und ohne Veranlassung angewendet. Herrn Poulain muß dies nicht gefallen haben, denn als er einmal von der großen Revolution sprach, erzählte er uns, wie ich mich noch genau erinnere, mit besonderer Betonung, wie Graf Mirabeau und andere Vornehmen eines Tages allen Titeln entsagt hätten, und der Graf um seine Verachtung aristokratischer Anmaßungen zu beweisen, ein Geschäft eröffnet hätte, dessen Schild die Aufschrift trug: ›Mirabeau, Schneider‹. Ich gebe die Geschichte nach Herrn Poulains Erzählung wieder. Lange Zeit quälte ich mich darauf mit dem Gedanken, welches Handwerk ich ergreifen sollte, um schreiben zu können: ›Krapotkin, der und der Handwerker‹. Später beeinflußten mich mein russischer Lehrer, Nikolai Pawlowitsch Smirnow, und der allgemeine republikanische Ton der russischen Literatur in derselben Richtung. Als ich daher anfing, Novellen zu schreiben, das heißt, in meinem zwölften Jahre, unterzeichnete ich ›P. Krapotkin‹, und dabei bin ich auch geblieben, trotz aller Vorstellungen, die mir meine Vorgesetzten, solange ich im Heeresdienst war, machten.

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