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Zweites Kapitel.

Meine Stiefmutter. – Herrn Poulains Lehrmethode. – Sonntagsvergnügungen. – Geschmack am Theater. – Teilnahme an Nikolaus' I. Regierungsjubiläum. – Eintritt meines Bruders ins Kadettenhaus.

 

Zwei Jahre nach dem Tode unserer Mutter heiratete unser Vater zum zweitenmale. Schon hatte er seine Augen auf ein junges hübsches Fräulein aus reicher Familie geworfen, aber das Schicksal hatte es anders bestimmt. Eines Morgens, als er noch im Schlafrock war, stürzten die Diener wie toll in sein Zimmer und meldeten die Ankunft des Generals Timofejew, des Chefs des sechsten Armeekorps, dem mein Vater angehörte. Dieser Günstling Nikolaus' I. war ein schrecklicher Mensch, wegen eines falschen Griffs bei der Parade ließ er einen Soldaten fast zu Tode peitschen, oder er degradierte einen Offizier und verschickte ihn nach Sibirien, weil er sich auf der Straße mit offenem Halskragen hatte treffen lassen. Bei Nikolaus galt Timofejews Wort alles.

Der General, der vorher unser Haus noch niemals betreten hatte, kam in der Absicht, meinem Vater eine Heirat mit der Nichte seiner Frau vorzuschlagen. Es handelte sich um Fräulein Elisabeth Karandino, eine von den Töchtern eines Admirals der russischen Flotte im Schwarzen Meere; sie hatte ein klassisches griechisches Profil und galt für sehr schön. Vater nahm an, und seine zweite Hochzeit wurde gleich der ersten mit großer Pracht gefeiert.

»Ihr Jungen versteht davon nichts,« schloß er gewöhnlich, nachdem er mir die Geschichte mehr als einmal erzählt hatte, seine Rede mit einem Humor, den ich nicht versuchen will wiederzugeben. »Aber weißt du, was das damals zu bedeuten hatte: Chef eines Armeekorps? Nun gar, wenn dieser ›einäugige Teufel‹, wie wir ihn zu nennen pflegten, selbst kam und einen Antrag machte? Natürlich hatte sie keine Ausstattung, nichts als einen großen mit ihrem Kleidertand gefüllten Koffer, auf dem die Martha, ihre einzige Leibeigene, schwarz wie eine Zigeunerin, saß.«

Mir ist jede Erinnerung an dies Ereignis entschwunden. Ich besinne mich nur auf ein großes Empfangszimmer in einem reichmöblierten Hause, worin sich eine junge Dame von anziehendem, nur etwas zu sehr die Südländerin verratendem Äußern befindet, die mit uns herumspringt und sagt: »Ihr seht, was für eine lustige Mama ihr haben werdet!« Worauf Sascha und ich, sie betroffen anblickend erwiderten: »Unsere Mama ist fortgeflogen in den Himmel.« Eine derartige Lebhaftigkeit erregte unsern Argwohn.

Der Winter kam, und ein neues Leben begann für uns. Unser Haus wurde verkauft und ein anderes gekauft und völlig neu möbliert. Was nur an unsere Mutter erinnern konnte, ihre Porträts, ihre Malereien, ihre Stickereien, alles wurde entfernt. Vergebens bat Frau Burmann flehentlich, man möchte sie im Hause behalten, und versprach, sie wolle sich der Pflege des Kindes, das meine Stiefmutter erwartete, widmen, als wäre es ihr eignes: man schickte sie fort. »Nichts von den Sulimans in meinem Hause,« gab man ihr zur Antwort. Jede Verbindung mit unsern Oheimen, unsern Tanten und unserer Großmutter wurde abgebrochen. Uliana verheiratete man mit Frol, der Hausmeister wurde, während man ihr das Amt einer Beschließerin übertrug, und unsere Ausbildung vertraute man einem glänzend bezahlten französischen Hauslehrer, Herrn Poulain, und einem kläglich entlohnten russischen Studenten, N. P. Smirnow, an.

Vielfach wurden damals die Söhne vornehmer Moskauer von Franzosen unterrichtet, die nichts waren als Überbleibsel des großen napoleonischen Heeres. Auch Herr Poulain gehörte zu ihnen. Er hatte soeben die Erziehung des jüngsten Sohnes des Novellisten Sagoskin vollendet, und sein Schüler, Serge, stand im Alten Marschallviertel in dem Rufe so vorzüglicher Ausbildung, daß unser Vater kein Bedenken trug, Herrn Poulain für das beträchtliche Jahresgehalt von 600 Rubeln anzustellen.

Herr Poulain kam also zu uns, begleitet von seinem Jagdhündchen Tresor, seiner Kaffeemaschine Napoleon und seinen französischen Lehrbüchern, und schwang nun sein Szepter über uns und über dem zu unserm persönlichen Dienste bestimmten Leibeigenen Matwei.

Sein Lehrplan war sehr einfach. Nachdem er uns geweckt hatte, bereitete er sich seinen Kaffee, den er in seinem Zimmer zu trinken pflegte. Während wir uns auf den Unterricht vorbereiteten, widmete er sich mit größter Sorgfalt seiner Toilette; er balsamierte und kämmte sein graues Haar, um die sich bemerkbar machenden kahlen Stellen zu verdecken, zog seinen Frack an, wusch sich, besprengte sich mit Kölnischem Wasser und geleitete uns dann die Treppe hinunter, um unsern Eltern den Morgengruß zu bieten. Unser Vater und die Stiefmutter saßen gewöhnlich beim Frühstück; wir näherten uns, sagten sehr förmlich unser »Bonjour, mon cher papa« und »Bonjour, ma chère maman« her und küßten ihnen die Hand. Herr Poulain machte eine höchst kunstgerechte und elegante Verbeugung und sprach dabei die Worte: »Bonjour, monsieur le prince« und »Bonjour, madame la princesse.« Damit war die Vorstellung zu Ende, wir entfernten uns ebenso feierlich, wie wir gekommen waren, und gingen wieder die Treppe hinauf. Diese Zeremonie wiederholte sich jeden Morgen.

Dann begann unsere Arbeit. Herr Poulain vertauschte seinen Frack mit einem Schlafrock, bedeckte sein Haupt mit einer Lederkappe, ließ sich in einem Armstuhl nieder und sprach: »Sagt eure Aufgaben her!«

Wir mußten auswendig hersagen, was in dem Buch von einem Nageleindruck bis zum nächsten stand. Herr Poulain hatte an Büchern mitgebracht: die Grammatik von Noël und Chapsal, ein für verschiedene Generationen von russischen Knaben und Mädchen denkwürdiges Buch, eine Sammlung französischer Dialoge, eine Weltgeschichte in einem Bande und eine allgemeine Erdkunde, ebenfalls in einem Bande. Wir hatten die Sprachlehre, die Zwiegespräche, die Geschichte und die Erdkunde unserm Gedächtnis einzuprägen.

Die Sprachlehre mit ihren bekannten Sätzen »Was ist Sprachlehre?« »Die Kunst, richtig zu sprechen und zu schreiben«, ging in Ordnung. Dagegen hatte das Geschichtsbuch unglücklicherweise eine Vorrede, in der alle Vorteile, die uns die Kenntnis der Geschichte gewährt, aufgezählt waren. Mit den ersten Sätzen ging es noch ziemlich glatt; wir sagten her: »Der Herrscher findet darin hochherzige Beispiele für die Regierung seiner Untertanen; der Heerführer lernt daraus die edle Kriegskunst.« Sobald wir aber an das Juristische kamen, ging alles schief. »Der Jurisprudenzbeflissene findet darin« – was aber der Rechtsgelehrte in der Geschichte findet, das konnten wir niemals erfassen. Das schreckliche Wort ›Jurisprudenzbeflissene‹ verdarb alles; sobald wir so weit gekommen waren, stockten wir. »Auf deine Knie, gros pouff,« rief Poulain (das galt mir); »auf deine Knie, grand dada!« (das galt meinem Bruder), und da knieten wir dann tränenden Auges und unter fruchtlosem Bemühen, in unsern Kopf hineinzubringen, was das Buch vom Jurisprudenzbeflissenen mitteilte.

Ja, diese Vorrede hat uns viele Tränen gekostet! Wir waren schon mitten in der römischen Geschichte und legten, ganz wie Brennus, unsere Stöcke in Ulianas Wagschalen, wenn sie Reis abwog; wir sprangen nach Curtius' Vorbild zur Rettung des Vaterlandes von unserm Tisch und anderen Höhen: aber Herr Poulain kam von Zeit zu Zeit immer wieder auf die Vorrede zurück, und immer wieder mußten wir um des Jurisprudenzbeflissenen willen niederknien. War es ein Wunder, daß wir beide, mein Bruder und ich, später eine entschiedene Abneigung gegen die Rechtslehre empfanden?

Wer weiß, wie es mit der Erdkunde gegangen wäre, hätte Herrn Poulains Buch eine Vorrede gehabt. Aber zu unserm Glück waren die ersten zwanzig Seiten des Buches ausgerissen (Serge Dagoskin hat uns, wie ich vermute, diesen wertvollen Dienst erwiesen), und so setzte unser Unterricht auf der einundzwanzigsten Seite ein, die mit den Worten anfing: »von den Flüssen, die Frankreich bewässern …«

Ich muß gestehen, daß es nicht immer beim Knien sein Bewenden hatte. In dem Lesezimmer fand sich auch eine Birkenrute, zu der Poulain griff, wenn es mit der Vorrede oder einem Zwiegespräch über Tugend und Anstand gar nicht mehr vorwärts wollte. Als aber einmal unsere Schwester Helene, die inzwischen das Katharinen-Fräuleinstift verlassen hatte und ein Zimmer unter dem unsrigen bewohnte, unser Schreien hörte, eilte sie, ganz in Tränen gebadet, in das Arbeitszimmer unseres Vaters und machte ihm bittere Vorwürfe, weil er uns ganz unserer Stiefmutter überantwortet hätte, die uns einem ›abgedankten französischen Trommler‹ überließe. »Natürlich,« rief sie, »steht ihnen kein Mensch bei, aber ich kann es nicht mit ansehen, wie meine Brüder in dieser Weise von einem Trommler mißhandelt werden.«

Diesem unvermuteten Angriff konnte unser Vater nicht standhalten. Erst schalt er die Schwester, schließlich lobte er sie wegen ihrer schwesterlichen Anhänglichkeit. Fortan diente die Rute nur noch dazu, dem Jagdhunde Tresor die Regeln des Anstands beizubringen.

Kaum hatte sich aber Herr Poulain seiner schweren Lehrpflichten entledigt, so wurde er ein ganz anderer Mensch; anstatt eines grausamen Lehrers hatten wir nun einen munteren Kameraden an ihm. Nach dem zweiten Frühstück, das wir nach Beendigung des Unterrichts zu uns nahmen, machte er mit uns einen Ausgang, und dabei erzählte er uns fortwährend von allem möglichen, und wir schwatzten unaufhörlich. Obwohl wir in der Grammatik niemals über die ersten Regeln der Satzlehre hinauskamen, so lernten wir doch bald ›richtig sprechen‹, weil wir französisch denken lernten. Als wir aber ein Buch über Mythologie zur Hälfte nach seinem Diktat niedergeschrieben hatten, wobei er unsere Fehler an der Hand des Buches verbesserte, ohne jemals einen Versuch zur Erklärung zu machen, warum ein Wort so oder so geschrieben werden müßte, hatten wir auch ›richtig schreiben‹ gelernt.

Nach dem Mittagessen hatten wir bei unserm russischen Lehrer Unterricht. Es war dies ein Student an der Rechtsfakultät der Moskauer Universität, der uns in allen ›russischen‹ Fächern: Sprachlehre, Rechnen, Geschichte usw., zu unterrichten hatte. Doch war damals von ernstlichem Lernen noch keine Rede. Immerhin diktierte er uns täglich eine Seite aus der russischen Geschichte, und auf diese praktische Weise lernten wir bald ein fehlerloses Russisch schreiben.

Unsere beste Zeit hatten wir Sonntags, wo die ganze Familie außer uns Kindern bei der Generalin Timofejew zu Mittag speiste. Es traf sich manchmal, daß auch Herr Poulain und Herr Smirnow für den Tag Urlaub erhielten, und dann wurden wir Ulianas Obhut anvertraut. Nachdem wir hastig zu Mittag gegessen hatten, eilten wir in den großen Saal, in dem sich bald die jüngere Dienerschaft einfand. Alle möglichen Spiele, Blinde-Kuh, Geier und Küchlein und dergleichen, wurden vorgenommen, bis auf einmal Tichon, das Hausfaktotum, mit seiner Violine erschien. Dann ging das Tanzen los, nicht das abgezirkelte und langweilige Tanzen unter Anleitung eines, ›auf Kautschukbeinen‹ schreitenden französischen Tanzmeisters, sondern ein freies, nicht lehrmäßiges Tanzen, wobei sich zwanzig Paare zwanglos herumdrehten. Das war aber nur die Einleitung zu dem noch lebhafteren, fast wilden Kosakentanze. Tichon reichte die Fiedel einem der älteren Männer und bewegte nun seine Beine in so wunderbarer und kunstvoller Weise, daß sich bald alle Saaltüren mit der gesamten Dienerschaft aus Küche und Stall füllten, die dem, dem russischen Herzen so teuren Tanze zuschauen wollte.

Um neun Uhr fuhr die große Kutsche ab, um die Familie heimzuholen. Tichon rutschte mit der Bürste in der Hand auf dem Fußboden herum, um ihm seinen ursprünglichen Glanz wieder zu verleihen, und alles im Hause wurde in gehörige Ordnung gebracht. Und hätte man uns beide am nächsten Morgen dem schärfsten Kreuzverhör unterworfen, nicht ein Wort wäre uns entschlüpft über das, was am Abend vorher geschehen war. Niemals hätten wir einen von der Dienerschaft verraten und ebensowenig sie uns. Als wir, mein Bruder und ich, einmal Sonntags allein im großen Saale spielten, rannten wir gegen ein Tischchen, auf dem eine kostbare Lampe stand, und diese fiel herunter und zerbrach. Sofort hielten die Diener eine Beratung. Niemandem fiel es ein, uns zu schelten; es wurde vielmehr beschlossen, Tichon sollte früh am nächsten Morgen auf die Gefahr hin, abgefaßt und bestraft zu werden, aus dem Hause zu schleichen suchen, zur Schmiedebrücke eilen und eine neue Lampe derselben Art kaufen. Sie kostete fünfzehn Rubel, für Leibeigene eine ungeheure Summe, doch sie wurde gekauft, und niemals bekamen wir wegen des Vorfalls ein Wort des Vorwurfs zu hören.

Denke ich jetzt daran zurück, und alle jene Bilder und Szenen treten wieder vor mein geistiges Auge, so fällt es mir auf, daß wir niemals beim Spielen gemeine Worte hörten oder beim Tanzen etwas derart zu sehen bekamen, wie es jetzt bereits Kinder in schlechten ›Theatern‹ bewundern lernen. Im Dienerhause, wenn sie nur unter sich waren, gebrauchten unsere Leute sicher rohe Ausdrücke, aber wir waren Kinder, ihre Kinder, und das ließ sie alles Schlechte und Gemeine von uns fernhalten.

Damals wurde die Einbildungskraft der Kinder nicht wie jetzt durch eine wahllose Fülle von Spielzeug verwirrt und gelähmt. Wir hatten fast gar keins und waren so auf unsere eigene Erfindung angewiesen. Dazu kam, daß wir beide früh am Theater Geschmack fanden. Die Possen-Theater mit ihren Spitzbuben- und Raufschwänken machten keinen dauernden Eindruck auf uns, wir spielten selbst genug Räuber und Soldaten. Aber die große Ballettkünstlerin Fanny Elsler kam nach Moskau, und wir sahen sie. Wenn Vater eine Loge im Theater nahm, so suchte er sich eine der besten aus und kargte nicht mit dem Gelde, aber dann wollte er auch, daß sie von der ganzen Familie voll ausgenutzt würde. Obwohl ich damals noch klein war, erschien mir doch Fanny Elsler so anmutsvoll, so leicht und so kunstvollendet in allen ihren Bewegungen, daß ich seitdem außerstande war, auch nur den geringsten Reiz einem Tanze abzugewinnen, der mehr in das Gebiet der Gymnastik als in das der Kunst gehört.

Natürlich mußte das Ballett, das wir gesehen hatten – Gitana, die spanische Zigeunerin – zu Hause aufgeführt werden, das heißt das Stück ohne die Tänze. Die Bühne war schon fertig, da zwischen unserm Schlaf- und unserm Klassenzimmer keine Tür, sondern ein Vorhang war. Ein paar vor dem Vorhang im Halbkreis aufgestellte Stühle, darunter ein Armstuhl für Herrn Poulain – das war der Zuschauerraum und die kaiserliche Loge, und das Publikum setzte sich ohne Schwierigkeit aus dem russischen Lehrer, Uliana und einer beliebigen Anzahl von jüngeren Dienstmädchen zusammen.

Bei zwei Szenen des Ballettstücks hatten wir alle unsere Erfindungsgabe aufzubieten; in der einen wird die kleine Gitana von den Zigeunern in einem Schubkarren in ihr Lager gefahren, und in der andern erscheint Gitana zum ersten Male auf der Bühne, wobei sie von einem Hügel herabkommt und auf einer Brücke einen Bach überschreitet, in dem sich ihr Bildnis widerspiegelt. Die Zuhörerschaft brach gerade an dieser letzten Stelle in begeisterten Beifall aus, der offenbar – so dachten wir wenigstens – durch die Widerspiegelung im Bach hervorgerufen war.

Wir fanden unsere Gitana in einem ganz jungen Mädchen aus dem Dienerhause. Ihr etwas schäbiges blaues Baumwollkleid war für uns kein Grund, warum sie nicht Fanny Elslers Rolle übernehmen sollte. Ein umgedrehter Stuhl, der mit den Füßen vorwärtsgeschoben wurde, konnte schon für einen Schubkarren gelten. Aber der Bach! Zwei Stühle und Andreis, des Schneiders, langes Bügelbrett bildeten die Brücke, und ein Streifen blaues Tuch stellte den Bach dar. Doch das Bildnis im Bach wollte nicht recht herauskommen, soviel wir uns auch mit Herrn Poulains kleinen Rasierspiegel abmühten. Nach vielen vergeblichen Versuchen mußten wir es aufgeben, aber wir hatten Uliana mit dringenden Bitten zugesetzt, sie möchte so tun, als sähe sie das Bild, und an dieser Stelle laut Beifall klatschen, so daß wir schließlich selbst anfingen zu glauben, man könnte doch vielleicht etwas sehen. Racines ›Phädra‹ oder doch der letzte Akt dieses Stückes ging ebenfalls glücklich vonstatten, das heißt, Sascha deklamierte mit Pathos die klangvollen Verse:

» A peine nous sortions des portes de Trézène …« während ich völlig regungslos dem ganzen langen tragischen Monologe, der mir die Kunde vom Tode meines Sohnes bringen sollte, zuhörte, bis zu der Stelle, wo ich auszurufen hatte: » O, dieux!«

Was wir aber auch immer darstellen mochten, alle unsere Vorführungen zeigten am Schluß eine Hölle. Alle Kerzen bis auf eine wurden ausgelöscht, und die letzte setzten wir, um Flammen darzustellen, hinter ein Transparent, während mein Bruder und ich, vor den Zuschauern verborgen, als Verdammte ein möglichst schreckliches Geheul ausstießen. Uliana, der jede Anspielung auf den Bösen vor dem Schlafengehen Furcht einflößte, machte ein entsetztes Gesicht; aber ich frage mich, ob nicht diese äußerst konkrete Darstellung der Hölle durch ein Licht und ein Stück durchsichtiges Papier dazu beitrug, uns Brüder schon in frühem Alter von der Furcht vor dem ewigen Feuer freizumachen. Unsere Auffassung war zu realistisch, um nicht jedem Zweifel Tür und Tor zu öffnen.

Ich muß noch sehr jung gewesen sein, als ich die großen Moskauer Schauspieler, Stschepkin, Sadowsky und Schumski, in Gogols ›Revisor‹ und in einem andern Lustspiel sah, und doch besinne ich mich nicht nur auf die Hauptszenen in diesen beiden Stücken, sondern sogar auf die Bewegungen und die Sprechweise dieser großen Vertreter der realistischen Schule, die uns jetzt wieder in so vollendeter Weise von der Duse vor Augen geführt wird. Sie waren mir noch so gut im Gedächtnis, daß ich, als ich dieselben Stücke in Petersburg von Schauspielern, die der französischen deklamatorischen Schule angehörten, sah, mich an ihrem Spiele nicht erfreuen konnte, da ich sie immer mit Stschepkin und Sadowsky vergleichen mußte, durch die mein Geschmack in bezug auf dramatische Darstellungskunst ein für allemal entschieden war.

Diese Erfahrung, die ich machte, bringt mich auf den Gedanken, ob nicht Eltern, die in ihren Kindern den Sinn für die Kunst entwickeln wollen, sie lieber gelegentlich zu wirklich gut gespielten gediegenen Aufführungen mitnehmen sollten, statt sie im Übermaß sogenannte ›Puppenspiele‹ besuchen zu lassen.

 

Als ich im achten Lebensjahre stand, wurde in ganz unerwarteter Weise der nächste Schritt auf meiner Laufbahn getan. Genau weiß ich nicht mehr, bei welcher Veranlassung es geschah, aber wahrscheinlich war es am fünfundzwanzigsten Jahrestage der Thronbesteigung Nikolaus' I., zu dessen Feier in Moskau großartige Vorbereitungen getroffen wurden. Die kaiserliche Familie beabsichtigte nach der alten Hauptstadt zu kommen, und der Moskauer Adel wollte aus Anlaß dieses Besuches und des Jubiläums einen prachtvollen Kostümball veranstalten, bei dem auch Kinder erscheinen sollten. Man beschloß, die ganze bunte Musterkarte von Völkern, die das russische Kaiserreich aufweist, sollte auf diesem Ball vertreten sein und den Herrscher begrüßen. In unserm Hause wie in allen Nachbarhäusern rüstete man sich aufs beste zur Feier. Für meine Stiefmutter war irgend eine auffallende russische Tracht in Arbeit. Unser Vater hatte als Militär natürlich in seiner Uniform zu erscheinen, aber wer von unsern Verwandten nicht im Heere diente, verwandte auf sein russisches, griechisches, kaukasisches oder mongolisches Kostüm nicht weniger Zeit und Interesse als die Damen selbst. Wenn der Moskauer Adel der kaiserlichen Familie einen Ball gibt, so muß etwas Außergewöhnliches geboten werden. Meinen Bruder Alexander und mich hielt man aber für zu jung, als daß wir bei einer so wichtigen Veranstaltung eine Rolle spielen könnten.

Und doch sollte ich dabei eine Rolle spielen. Unsere Mutter war eine vertraute Freundin von Frau Nasimow, der Gemahlin des Generals, der zu der Zeit, als man von der Aufhebung der Leibeigenschaft zu reden anfing, Gouverneur von Wilna war. Frau Nasimow, eine sehr schöne Frau, wurde mit ihrem zehnjährigen Sohne zum Balle erwartet und sollte als persische Fürstin in einem überaus schönen Kostüm erscheinen; dementsprechend war für ihren Sohn als persischen Prinzen ein außerordentlich reiches, mit einem juwelenstrotzenden Gürtel geschmücktes Gewand angefertigt worden. Aber der Knabe wurde kurz vor dem Feste krank, und Frau Nasimow dachte, eines von den Kindern ihrer Busenfreundin würde der beste Ersatz für ihren Sohn sein. So wurden Alexander und ich in ihr Haus geholt, um das Prinzenkleid anzuprobieren. Es erwies sich aber für Alexander, der viel größer war als ich, als zu kurz, während es mir gerade paßte, und darum sollte ich nun den persischen Prinzen vorstellen.

Die gewaltige Halle des Moskauer Adelshauses wimmelte von Gästen. Jedes von uns Kindern erhielt eine Standarte, die an ihrer Spitze das Wappen einer der sechzig Provinzen des russischen Reiches trug. Auf meiner schwebte ein Adler über einem blauen Meere, das Wappen des Gouvernements Astrachan am Kaspischen Meere. Zuerst stellte man uns im Hintergrunds des großen Saales auf, dann schritten wir langsam in zwei Reihen auf die erhöhte Plattform zu, auf der der Kaiser mit seiner Familie stand. Als wir dort angekommen waren, marschierten wir nach rechts und links und standen nun in einer langen Reihe vor der Plattform, worauf wir, auf ein gegebenes Zeichen, alle Standarten vor dem Kaiser senkten. Die Verhimmelung des Selbstherrschertums war so eindrucksvoll, daß Nikolaus ganz entzückt war beim Anblick aller dieser vor dem obersten Herrn sich beugenden Provinzen. Hierauf zogen wir uns wieder langsam in den Hintergrund zurück.

Aber nun trat etwas Unerwartetes ein: Kämmerlinge in ihren reich mit Gold gestickten Uniformen eilten auf uns zu, nahmen mich aus der Reihe, und mein Oheim, Fürst Gagarin, in der Tracht eines Tungusen (ich konnte mich nicht satt sehen an seinem Lederrock, seinem Bogen und seinem pfeilgespickten Köcher) hob mich auf seine Arme und setzte mich auf die kaiserliche Plattform.

Mag es sein, weil ich der Kleinste unter den Knaben war, oder weil mein rundes lockenumrahmtes Gesicht unter der hohen Astrachan-Pelzmütze, die ich trug, drollig aussah, ich weiß es nicht, aber Nikolaus wollte mich auf der Plattform haben, und da stand ich nun mitten unter den Generälen und Damen, die neugierig auf mich niederschauten. Später erzählte man mir, daß Nikolaus I., der immer ein Freund von Kasernenwitzen war, mich am Arme nahm, zu Marie Alexandrowna, der Frau des Thronerben, die ihr drittes Kind erwartete, führte und in seiner soldatischen Art sagte: » Die Sorte von Jungen mußt du mir bringen,« ein Witz, der sie tief erröten ließ. Aber daran erinnere ich mich gut, daß Nikolaus fragte, ob ich Zuckerzeug haben wollte, worauf ich entgegnete, ich möchte lieber von den Waffeln haben, die man zum Tee gab (wir wurden daheim etwas knapp gehalten). Da winkte der Kaiser einem Diener und leerte den Inhalt einer vollen Platte in meine hohe Mütze. »Ich will sie Sascha mitbringen,« sagte ich zu ihm.

Doch der unteroffiziermäßige Bruder des Kaisers, Michael, der in dem Rufe stand, ein witziger Kopf zu sein, brachte mich zum Weinen, »Wenn du ein guter Junge bist,« sagte er, »so macht man's mit dir so,« und dabei fuhr er mir mit seiner großen Hand von oben nach unten übers Gesicht; »wenn du aber unartig bist, dann geht dir's so,« und nun fuhr er mit der Hand nach oben und rieb empfindlich meine Nase, die an und für sich eine entschiedene Neigung zeigte, in dieser Richtung zu wachsen. Tränen, die ich vergeblich zu unterdrücken suchte, traten mir in die Augen. Die Damen ergriffen sofort meine Partei, und die gutherzige Marie Alexandrowna nahm mich in ihre Hut. Sie setzte mich neben sich auf einen hohen Samtstuhl mit vergoldeter Lehne, und meine Eltern sagten mir nachher, ich hätte sehr bald meinen Kopf in ihren Schoß gelegt und wäre eingeschlafen. Während der ganzen Dauer des Balles verließ sie ihren Sitz nicht einmal.

Auch daran erinnere ich mich noch, daß meine Verwandten, als wir im Vorsaal auf unseren Wagen warteten, mich herzten und küßten und dabei sagten: »Petja, du bist Page geworden,« worauf ich antwortete: »Ich bin kein Page; ich will nach Hause,« und mich um meine Mütze mit den vielen kleinen Biskuits, die ich Sascha mitbringen wollte, ängstlich besorgt zeigte.

Ob Sascha viel von den Biskuits bekommen hat, weiß ich nicht mehr, aber das weiß ich noch, wie er mich zärtlich umarmte, als er erfuhr, daß ich mich so um die Mütze gesorgt hätte.

Es galt damals als große Gunst, die Nikolaus selten dem Moskauer Adel zuteil werden ließ, wenn ein Knabe für das Pagenkorps bestimmt wurde. Mein Vater war entzückt und träumte schon von einer glänzenden Hofkarriere für seinen Sohn. Meine Stiefmutter vergaß niemals, wenn sie die Geschichte erzählte, hinzuzusetzen: »Das kommt wohl davon, daß ich ihm, ehe er zum Ball ging, meinen Segen gab.«

Frau Nasimow war gleichfalls entzückt und bestand darauf, daß sie in dem Kostüm, in dem sie so schön aussah, und mit meiner Person an ihrer Seite, gemalt wurde.

 

Auch meines Bruders Alexander Geschick entschied sich im nächsten Jahr. Es wurde um diese Zeit das Jubiläum des Ismaylowschen Regiments, dem mein Vater als junger Mann angehört hatte, in Petersburg gefeiert. In einer Nacht, als alles im Hause schon in tiefem Schlaf ruhte, hielt ein Dreigespann mit lautem Schellengeklingel vor unserem Tor. Ein Mann sprang vom Wagen und schrie laut: »Öffnet, eine Ordonnanz von Seiner Majestät dem Kaiser!«

Welchen Schrecken dieser nächtliche Besuch in unserm Hause hervorrief, kann man sich leicht vorstellen. Bebend kam mein Vater in sein Arbeitszimmer herunter. ›Kriegsgericht‹ und ›Degradation zum Gemeinen‹, diese Worte hallten in jener schrecklichen Periode jedem Militär im Ohre wieder. Doch Nikolaus wollte nur die Namen der Söhne von allen Offizieren wissen, die einmal dem Regiment angehört hatten, um diese Knaben, soweit es nicht schon geschehen war, militärischen Anstalten zu überweisen. Zu diesem Zwecke war ein eigener Bote von Petersburg nach Moskau gesandt worden, der nun Tag und Nacht in den Häusern der Offiziere a. D. jenes Regiments vorsprach.

Mit zitternder Hand schrieb mein Vater, sein ältester Sohn sei schon im ersten Kadettenkorps in Moskau, sein jüngster Sohn Peter habe Anwartschaft auf eine Stelle im Pagenkorps; es bleibe nur noch sein zweiter Sohn, Alexander, der noch nicht die militärische Laufbahn eingeschlagen habe. Nach ein paar Wochen kam ein Schreiben, das meinen Vater der ›Huld des Monarchen‹ versicherte. An Alexander erging der Befehl, sich bei dem Kadettenkorps in Orel, einer kleinen Provinzialstadt, zu melden, und es kostete meinen Vater große Mühe und ein gut Stück Geld, Alexanders Zuweisung zu einem Moskauer Kadettenkorps zu erlangen. Diese neue ›Huld‹ verdankte er überdies nur dem Umstande, daß unser älterer Bruder bereits diesem Korps angehörte.

So sollten wir denn, weil es Nikolaus I. so wollte, beide eine militärische Ausbildung erhalten, obwohl wir, noch ehe wir viele Jahre älter geworden waren, die militärische Karriere einfach verabscheuten. Aber Nikolaus wachte eifersüchtig darüber, daß sich kein Sproß des Adels einem andern Stande als dem militärischen widmete, er müßte denn körperlich zu schwach gewesen sein, und so sollten wir alle drei zur großen Genugtuung meines Vaters Offiziere werden.

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