Timm Kröger
Leute eigener Art
Timm Kröger

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11

Die weiteren Schicksale von Franz in der Nacht und an dem darauffolgenden Tag sind nicht aufgeklärt worden. Er hat selbst nicht Auskunft darüber geben können. Den Schwarzen hat man tot in einem Hohlweg gefunden, Franz sah sich am zweiten Morgen in einem schmalen, von Knickhagen eingefaßten Feldwege. Er hörte Hundegebell, ab und zu krähte ein Hahn. Es mußte ein Dorf in der Nähe sein.

Ihn hungerte und fror. Ein nasser und kalter Nebel lag auf der Landschaft, lebenssatte Schwermut rieselte in Strähnen hernieder. Heckpforten öffneten rechts und links einen Blick in die graue Natur. Vor jedem Tor blieb er stehen und sah hinein. Wiesen waren es, die sich schon nach zwanzig Schritt in Nebel und Sumpf verloren. Graues, ausgereiftes Herbstgras, lange Binsen, ungezählte Maulwurfshügel – ein einförmiges, an Sterben und Vergehen mahnendes Bild. Mit einer gewissen Genugtuung stellte Franz fest, daß an dieser Welt mit ihrem Hunger, mit ihrem Frost, mit ihrem Nebel und mit ihren Maulwurfshügeln, namentlich aber mit den Menschen darin nicht viel verloren sei. Er war entschlossen, die Obrigkeit zu bemühen, ihm das Leben zu nehmen. Er hatte erkannt, daß sie ein Recht auf sein Leben habe, sprach sich auch ein Recht auf Strafe zu, er fühlte die Unmöglichkeit, weiter zu leben, er wollte als Unbedingter auf sein und der Obrigkeit Recht bestehen.

Er lehnte über ein Hecktor. ›Ich habe Lust, abzuscheiden‹, sagt er für sich. ›Ich will sterben, aber eine Seele möchte ich finden, die meine Tat kennt und nicht darauf bedacht ist, mich einzufangen, auch nicht die Flucht ergreift, die ein Wort für mich hat, das nicht weh tut. Und dann, ja dann ...‹

›Ein menschlich Antlitz!‹ stöhnte er. Und wie er nach einem Menschen rief, da war sein Wunsch schon erfüllt, ohne daß er es wußte. Ein Mann stand auf der Wiese, Franz hatte ihn nur nicht bemerkt. Unter Haselgebüschen, woran kaum noch ein Blatt klebte, vor einer verlassenen Kuhjungenhütte stand der ersehnte Mensch. Es war ein in Lumpen gehüllter Landstreicher.

Franz stieg über den Schlagbaum und ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu: »Sei mein Freund!« sagte er.

Der Mensch in Lumpen nahm seinen Eichenknüppel fester und blieb stumm. Die dargebotene Hand nahm er nicht, mit bösem, buschigem Auge sah er auf den gutgekleideten Mann.

»Sei mein Freund!« wiederholte Franz.

Der Vagabund zuckte verächtlich die Achseln.

»Haben Sie Hunger?«

Ein leises Aufleuchten im Auge, kaum zu bemerken, und die bittere Antwort: »Ich habe, wenns interessiert, in vierundzwanzig Stunden nichts gegessen.«

»Gut, ich bin in gleichem Fall und habe Geld. Wollen Sie mit mir essen?«

Der Zerlumpte musterte den, der sein Wohltäter sein wollte, von oben bis unten. »Meine Papiere sind in Ordnung«, erklärte er finster.

»Ich frage nicht nach Ihren Papieren, ich frage um Ihre Kameradschaft.«

Der Landstreicher schüttelte den Kopf.

»Ich will Ihr Freund sein.«

»Spitzel!«

Da rief Franz mit Haupt und Hand den Himmel und die Wolken an: »Gib du, o Herr, daß meine Worte bis zum Herzen dieses Armen reichen!« Und zu dem finstern Fremden: »Ich meine es gut.«

»Es ist zum Lachen, junger Mann«, erwiderte der andere. »So grün, wie Sie denken, ist kein Mann, der in Lumpen geht. Wenn Sie hungrig sind und haben, was dazu gehört, weshalb gehen Sie nicht in den Dorfkrug und lassen sich geben? Ein Mann, der Silber in der Tasche hat, ladet keine Bettler zu Tischgenossen ein.«

»Sie wollen mich nicht, aber ich lasse Sie nicht. Ich komme im Namen dessen, der uns alle trägt. Sein eingeborner Sohn nahm Zöllner und Sünder zu Freunden, weshalb soll ich stolzer sein als er? Sie sind hungrig, ich will Sie speisen, Sie sind nackt und bloß, ich will Sie kleiden.«

Der Vagabund war nicht mehr so finster, er lachte. Er sah, daß Franz mit der Polizei nichts zu tun habe, er hielt ihn jetzt für einen Mann, bei dem es im Oberstübchen nicht ganz in Ordnung sei. Aber noch mehr als die Person interessierte ihn das, was in der Tasche dieses Mannes sein sollte. »Sie haben einen guten Kanzelton und sind gewiß von der schwarzen Zunft. Aber, daß Sie wirklich meine Freundschaft wollen, glaube ich nicht. Und von Fopperei bin ich kein Freund. Menschen, die das tun, was Sie sagen, gibts nicht.«

»Worte machen Ihnen nichts aus. Sie wollen Taten sehen und sind damit im Recht. Ich hätte nicht so viel reden sollen. Sieh, Freund, ich habe einen Gang zu tun, bei dem ich kein Staatskleid brauche. Gehen wir in die Hütte, wechseln wir unsere Anzüge. Figur und Größe passen; im übrigen können Sie nur gewinnen. Und dann (in seiner Tasche ließ er Silber klingen), ich brauche auch das nicht mehr.«

Und so geschah es. Der Bettler wurde ein gut gekleideter Mann, Franz ein Lump, und der Gutgekleidete ging ins Dorf und holte Lebensmittel. Und dann speisten sie in der Kuhjungenhütte.

Franz sprach ein kurzes Tischgebet. Dem wilden Mann, der an seiner Tafel lag, kam der Spott nicht auf, so echt war der Eifer unsers Helden.

»Und nun schlag ein! Sei mein Freund und sage ›du‹ zu mir, wie du es, als du klein warst, bei der Mutter tatest.«

Da schlug der andere ein. Vor Franzens rücksichtsloser Liebe zerschmolz die Schale, worin das wilde Gemüt sich verhärtet hatte. Zwar wehrte er sich noch und schämte sich zu zeigen, daß weichere Gefühle bei ihm sprießen wollten, aber schmelzen tat es doch.

»Weshalb sollt ichs nicht tun?« sagte er. »Bislang hab ich nichts Schlechtes von dir erfahren. Es sieht nun freilich jedes Kind: in deinem Leben ist was, das nicht stimmt. Doch das ist einerlei, ich bin auch keine reine Himmelsjungfrau. Vielleicht werd ich zum Nachtisch noch erfahren, was mit dir ist.«

»Du sollst erfahren. Und, wenn du alles weißt, dann will ich wieder fragen, ob du mein Freund.«

Der auf diese Weise halb Gewonnene war ein gewerbsmäßiger Einbrecher, ein sogenannter ›schwerer Jung‹. Er war Kaufmannsgehilfe gewesen, war der Versuchung erlegen, hatte Geld unterschlagen, hatte gesessen und nicht gleich einen ehrlichen Erwerb wieder finden können. Da hatte er sich einer Diebesbande angeschlossen.

Manches Jahr hatte er im Zuchthause zugebracht, immer wieder war er zu seinem Diebsgewerbe zurückgekehrt. Ursprünglich aus Not und Leichtsinn zum Verbrecher geworden, hatte ihn später auch der Wagemut gereizt. Er besaß etwas vom Stolz der Verbrecheraristokraten, so ganz außerhalb der gemeinen Bürgerwelt zu stehen. In der letzten Zeit war er ganz heruntergekommen; er hatte sich sogar an offenen Diebstählen beteiligt. Seine Bandenbrüder waren abgefaßt, nur ihm war es gelungen, zu entkommen. Nun lief er durchs Land, sich kümmerlich von Feld- und Hühnerdiebstählen nährend, und auf dem Weg nach einer Großstadt, da ein Mann seines Schlages nur dort sein Fortkommen finde. »Und hast du niemals Reue, niemals Bedürfnis verspürt, dich vor Gott zu demütigen, vor ihm Buße zu tun?«

Der Züchtling lachte. »Du bist ein richtiger ... Mich vor Gott demütigen, vor ihm Buße tun? Weshalb? Warum vor ihm im Staub? Wenn er allmächtig ist – warum hat er die Welt so erschaffen, wie sie ist, eine Welt, worin es allerorten schwere Jungen gibt? Weshalb hat er mich nicht geleitet und geführt, daß ich ein ehrlicher Mann wurde? Und wenn die Schuld an mir und an meiner schlechten Seele liegt, weshalb hat er mir ein so schlechtes Herz, eine so schlechte Seele gegeben? Reue, Buße, Demut? Nein, lieber Freund, das tut mir leid, dazu habe ich keinen Grund.«

Eine trotzige Antwort, in Franz weckte sie den Wüstenprediger, fachte in ihm das rednerische Feuer an. Darum hielt er in seiner Lumpenkleidung auf der Binsenwiese angesichts schwarzer Maulwurfshügel dem schweren Jungen eine Strafpredigt, die dieser mit Erstaunen anhörte.

»Junge«, erwiderte der Angestrafte, »du verstehst es, bist nicht von gestern. Nun möchte ich aber auch wissen, was mit dir ist.«

»Mit mir? Ich bin ein Mörder.«

Der schwere Junge sah seinen neuen Freund lachend an: »Windmachen kannst du ebenso gut wie predigen.«

»Ich wollte«, erwiderte Franz, »es wäre nur Wind und Schall. Lege dich hin, Freund, meine Geschichte zu hören.« Und er erzählte.

Als er zu Ende gekommen war, fand der schwere Junge kein Wort. Vatermord, das rüttelte ihn ... ›Den eigenen Vater hast du vergiftet?‹ wollte er sagen. Aber er zwang jedes Zeichen der Verwunderung zurück. Denn er empfand (er wußte selbst nicht, wie es ihn überkam) wirklich was wie Liebe für Franz. Es war lange, ach wie lange, daß jemand gut mit ihm getan. Wie lange war es her, daß Gefühle von Liebe und Freundschaft gegen irgend einen in ihm erweckt worden waren! Wie lange war es her, daß ihm etwas widerfahren war, das wie Wohltat ausgesehen! Er kannte sich und wußte, daß er hart und verhärtet und verbittert war. Vielleicht hätte auch er sich im Drange der Not in rascher Tat an einem Menschenleben vergreifen können, aber, Gott sei Dank, diese Gelegenheit, diese Notwendigkeit war niemals an ihn herangetreten. Menschenleben hatte er nicht auf dem Gewissen. Das war ihm in seinem Verbrecherleben immer wie ein Verdienst erschienen. Das wollte er, wenn wirklich was Wahres an der Fabel des Weltgerichts sei, gegen einen Berg von Sünden in die Schale werfen. Und nun hatte dieser junge Mann einen Mord, einen ganz vorbedachten Mord begangen, begangen an seinem eigenen Vater. Das galt. Armer Kerl! Wie mag einem nach solcher Tat sein!

Franz las ihm die Gedanken von der Stirn. »Du schweigst. Ist meine Tat so fürchterlich?«

»Schön ist sie nicht mein Lieber. Aber ich bin dir doch gut.«

»Sag mir, Freund, kann man nach solcher Tat noch leben?«

Der Einbrecher verstummte.

»Ich verstehe. Ich hab es mir schon selbst gesagt. Ich habe kein Recht mehr zu leben, und mag auch nicht mehr. Ich gehe, auf Gottes Gnade hoffend. Ich erhoffe sie aber auch für dich. Einer, der Mitleid mit anderen hat, wird sichs selber nicht versagen. Du wirst dich auch noch demütigen. Ich kenne deine Gedanken, sie sind jetzt schon Buße und nichts als das.«

Das Geld legte er in die Hand des Freundes: »Nimm, mir ist es nichts nütze. Dir aber helfe es auf den rechten Weg. Leb wohl!«


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