Timm Kröger
Leute eigener Art
Timm Kröger

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Das vornehmere Gebot

Am besten von allen Bildern gefiel ihm eine hochgetürmte, ragende Stadt an einem breiten, indigofarbenen, von Schiffen und Flößen belebten Fluß. Eine lange, auf dicken, gebogenen Pfeilern ruhende Brücke führte hinüber. Die Pfeiler sahen wie ein X aus und schlössen sich wie das Doppelbild dieses Buchstabens zusammen. Über der hochgetürmten, ragenden Stadt tiefblauer Himmel ... weiche, weiße Wolken ... der Rand vergoldet, die Sonne dahinter ... sie will gerade hervorbrechen.

Solche Pracht und Herrlichkeit sah man auf dem Umschlag des Schönschreibebuchs von Peter Bendix Schütt.

Er war vierzehn Jahre alt, und das Buch gehörte zu seinen ersten Schreibheften mit bunten Umschlägen. Früher verkaufte der Höker die Schönschreibhefte, und da waren sie einfarbig: rot oder gelb oder grün, blau oder schwarz oder grau – lange nicht so schmuck wie die bunten, die der Schulmeister nachher abgab, als er seinen kleinen Papierladen unter der Pultklappe eingerichtet hatte und den Höker brotlos machte. Da kaufte keines von den Kindern noch die einfarbigen, alle wollten das schmuckste Schreibbuch zu eigen haben.

Auf des Schulmeisters Heften waren die Dinge der Welt in natürlichen Farben abgemalt. Anfangs Geschichten: Genoveva, Rotkäppchen, Hänsel und Gretel, der wilde Jäger. Und dann kamen welche, worauf abgebildet war, wie es in der großen Welt aussieht, darunter die große Stadt.

Aber sie kam nicht gleich. Erst allerlei, wovon nicht zu reden ist, dann das Burgenbuch. Schon dies machte tiefen Eindruck. Auf dem Vorderdeckel ein großes Schloß, von rauhen Felsen emporgehalten, auf dem Hinterdeckel eine altberühmte deutsche Ruine und bei beiden in den Ecken kleine Burgen und Schlösser.

Peter Bendix hatte manches gelesen und kannte sich soweit aus, daß er die Sprache der Bilder und ihre Stimmung verstand. Und überall sah er den kommenden Herbst, überall falbe Vergangenheit und Vergänglichkeit ... weichende Farben ... Töne milden Sehnens ... Rasselstimmung fallenden Laubes. Aus Kammern und Kemenaten kam Mandolinen- und Lautenklang, aus Kellern und Gewölben Becherklang und Zecherfreude trunkfester Ritter – das alles über Jahrhunderte hinweg zu Peter Bendix Schütt herüberquellend.

Erst als das Burgenbuch voll war, bekam Peter Bendix Schütt die ragende Stadt. Die Burgen hatte er ohne Neid angeschaut, aber bei der Herrlichkeit der Stadt brach etwas hervor, was diesem unedlen Schößling ähnlich sah. ›Wartet nur‹, dachte Peter Bendix Schütt und bedrohte mit diesen Gedanken die Menschen, die sich herausnahmen, in ragender Stadt am indigoblauen Fluß angesichts der X-Pfeiler zu wohnen. ›Wartet nur! Ihr habt nicht allein das Recht, hinüberzuschreiten. Wartet, bis ich groß geworden bin, dann gehe ich auch hinüber so gut wie ihr.‹

Aber was hier das Aussehen des Neides hatte, war im Grunde nur der Druck der Spirale einer in enger Stahlkammer zusammengepreßten Seele, war die für und für in ihm bohrende Nötigung, der Welt zu zeigen, was für einer Peter Bendix Schütt eigentlich sei.

Sein Banknachbar (er hieß Timotheus mit Vornamen, wurde aber kurzweg Timotee genannt) bedrohte auch die ragende Stadt. Seine Drohung hatte aber eine andere Klangfarbe. »Und wenn wir über die Brücke gehen, Peter Bendix, dann tun wir es in Schmierstiefeln und mit Hufeisen unter den Hacken und wir schlagen auf, daß Funken aus den Steinen stäuben.«

Peter Bendix war der erste auf der Knabenseite; ihm gegenüber, getrennt durch den Mittelsteig, saß als die oberste der Mädchen Lotte Vossen. Und Lotte Vossen fragte: »Timotee, wo wollt ihr mit Hufeisenstiefel gehen, daß Feuer springt?« Da zeigte Timotee das Buch und das Bild und die große Stadt und antwortete: »Wenn wir aus der Schule sind und groß, dann wollen wir über die Brücke gehen in Schmierstiefeln, mit Hufeisen unter den Hacken, und dann wollen wir so fest aufschlagen, daß Feuer kommt.«

Peter Bendix ließ die Antwort gelten, obgleich er keinen Wert darauf legte, gerade mit Schmierstiefeln und Hufeisen und feuersprühend hinüberzukommen. Lotte lachte über Timotees Schwatz. Das junge schwarzbraune Kind hatte eine eigene Art zu lachen. Man hörte es nicht viel, hauptsächlich sah man, wie sie lachte. »Was seid ihr für dumme Jungen! Die Brücke ist aus Ziegelsteinen gemauert, da könnt ihr auftrumpfen wie ihr wollt, da fliegt kein Funke heraus. Und dann ist es auch eine königliche Residenz. Und schickt es sich in einer Stadt schon überhaupt nicht, mit den Hacken aufzuschlagen, so dort, wo der König wohnt, gar nicht.«

Da fiel Peter Bendix, der sich schämte, von Lotte ebenso eingeschätzt zu werden wie Timotee, da fiel er ein: »Und ich hab auch gar nicht gesagt, daß ich es tun will; ich will nur hinübergehen und auch in der großen Stadt sein.«

Hinter Lotte stand Anna Hotje, ein großes blondes Mädchen. Die nahm einen Apfel aus der Tasche und biß mit breiten weißen Zähnen hinein. Das Kernhaus spuckte sie aus. Sie lachte auch, ihr Lachen war aber anders als bei Lotte Vossen – laut, derb, bäurisch. Und zu Timotee sagte sie: »Die beiden haben es nun mal mit der Feinheit, da kehr dich man nicht an, Timotee! Für Bauern passen Schmierstiefel, sie mögen sein, wo sie wollen. Schlag du nur dreist mit den Hufeisen auf!«

»Ich geh nicht mit dir«, entgegnete Peter Bendix, »und will auch gar kein Bauer werden!«

»Kein Bauer?« fragte Anna Hotje. »Was willst denn werden?«

»Schulmeister«, antwortete er.

Anna Hotje und Timotee erklärten, das täten sie an seiner Stelle lange nicht, Lotte Vossen aber lachte ihn leise an und sagte: »Schulmeister, das ist ganz gut.« Dann fing sie an, Bibelsprüche zu lernen, lachte Peter Bendix dabei aber noch einmal aus den Augenecken an.

Lotte Vossen war anders als die andern Mädchen in der Schule; eigentlich war sie auch ein Stadtkind. Ihr Vater war Kaufmann in Lübeck gewesen, dort war sie auch geboren. Er hatte sein Vermögen verloren, war gestorben; es ist nicht einmal ausgemacht, ob es freiwillig geschehen. Die Mutter hatte eine Stelle als Haushälterin gefunden, Lotte war von der Großmutter, die im Dorfe wohnte, aufgenommen worden und besuchte hier die Schule. Sie hatte rehbraune Augen, ganz dunkelbraunes reiches Haar und ein feines Gesichtchen. Die Geschichte ihres Leids stand zwar darin, aber auch das Geheimnis einer dessenungeachtet bewahrten inneren Freude.

 

Peter Bendix hatte in seiner Brust nicht allein das Recht gefunden, über die Stadtbrücke zu gehen, sondern auch die Fähigkeit, hinüber zu fliegen. Überhaupt auf Flug, sogar auf Hochflug stand sein Sinn, und zeitweilig bildete er sich ein, ein Adler zu sein, dem man die Flügel gebunden. Es erging ihm wie andern Wolkenbesuchern. Wie einem Albatros, der auf plattem Schiffsdeck sitzt und den Aufstieg nicht gewinnen kann. Schließlich flog er zwar, aber mit einer nicht sehr langen Kette an der Klaue. Das heißt: er wurde Volksschullehrer. Und als er fünfundzwanzig Jahr geworden war, nahm er eine Hauslehrerstelle auf dem Gut Kuhlenkamp an.

Schulmeister war er geworden ... er flog mit kurzer, ihn stets niederziehender Kette am Bein, und selbst das hatte er erst nach vieler Mühe erreicht.

Sein Alter hatte nicht gewollt. Vier Jahre hat Peter Bendix seinem Vater und andern Landwirten als Bauernknecht gedient, vier Jahre lang hatte er aussichtslose und doch unaufgebbare Hoffnungen in seiner Brust getragen. Und diesen Hoffnungen hatte er ein Symbol gestiftet... ein Bild, oder vielmehr zwei Bilder. Erst die Burg und dann die hochragende Stadt am indigoblauen Fluß. Und so wenig er auch eine vernünftige Verbindung zwischen ihnen und den Plänen, die sich dahinter verbargen, herzustellen wußte, immer und immer war ihm, als werde alles erreicht sein, wenn er über die Brücke gegangen sei. Und zwischen Burgen und Brücke schwamm noch die Erinnerung an ein Drittes herum, auch ein Geheimes – ein schwarzbraunes Mädchen mit stillem Lachen.

Vier Jahre lang hörte Peter Bendix nicht auf, seinen Vater zu bitten, ihn Lehrer werden zu lassen. Aber der Alte wollte nicht – im Bauernstand allein sei Heil.

Vier Jahre. Nach Ablauf der vier Jahre gab der Alte plötzlich nach. Er war älter geworden, nicht mehr so frisch und rüstig wie ehedem, und da erstand auch ihm ein Traum, ein Ziel, ein Ideal.

Ein Dorfschulmeister hatte damals keine Arbeiten zu besorgen, die neben den Schulstunden herliefen. Es gab keine Hefte, die durchzusehen und zu verbessern waren. Sobald die Schule geschlossen war und Garten und Äcker seine Hand nicht forderten, war er ein freier Mann. Wie oft ist der alte Schütt noch beim Heuen und Pflügen gewesen, wenn der Lehrer bei hoher Sonne vom Schulberg ins Dorf hinunter geraucht hat, um Leuten, die nichts zu tun hatten, Geschichten zu erzählen. Früher hatte er sich nichts dabei gedacht, nun aber wurde ihm der Lehrer zu einer poesieumflossenen Gestalt.

Und auf einmal fiel ihm ein, daß er seinem zweiten Sohn Hans Jürgen die Stelle viel billiger lassen könne, wenn der Älteste als festangestellter Lehrer (natürlich irgendwo in der Gegend auf dem Dorf herum) versorgt sei. Und ganz heimlich malte er sich aus, wie er selbst dann zu seinem Sohn, dem Schulmeister, ziehen werde und mit ihm um die Wette zu Dorf gehen und rauchen und ›kloenen‹, als ein überall Willkommener – der alte, würdige Vater des Persepters.

Natürlich würden er und sein Sohn nicht zusammen ausgehen. Das hieße, sich gegenseitig das Wort und die Freude wegnehmen. O nein, den einen Tag der Junge nach Süden, der Alte nach Norden; den andern Tag umgekehrt, der Alte nach Süden und der Junge nach Norden. Und daß sein Sohn sich ihm zu Gefallen nicht verheirate, das sah der Alte in seinem unschuldigen Egoismus als ganz selbstverständlich an. Eine alte Magd für den Hausstand – sonst nichts. Frau und nun gar Kinder, die bringen nur Umstände und Plage und haben gar keinen Zweck.

Die besondere Art des alten Schütt brachte es mit sich, daß er seine Zukunftsträume für sich behielt. Er sagte nur eines Tages: »Ich habe mich bedacht, Peter Bendix, du sollst Schulmeister werden.« Er sagte nicht: »Du kannst jetzt Schulmeister werden, wenn du willst« – nein, er sagte: »Du sollst Schulmeister werden.« So wichtig war ihm das Ideal, mit dem er sich trug, geworden, so selbstverständlich des Sohnes Zustimmung.

So kam Peter Bendix ins Lehrfach, machte das Seminar durch, machte ein vorzügliches Examen, hatte glänzende Zeugnisse und nahm die Hauslehrerstelle auf Gut Kuhlenkamp an.

Der Vater verschloß seine Ideale in der Brust, der Sohn tat es auch. Der Vater dachte, das Paradies mit der Dorfschulmeisterei solle gleich beginnen, Peter Bendix aber dachte anders, er glaubte ein Adler zu sein, wollte daher vor allen Dingen Zeit und Muße haben, Flugübungen zu machen, nach den Burgen hin, nach der ragenden Stadt. In einer Dorfschule wollte er sich nicht festlegen; hatte die ihn erst, dann wird sie ihn nicht mehr lassen. So nahm er die Hauslehrerstelle auf Kuhlenkamp an.

Eine Viertelstunde vom Gut lag ein Kirchdorf. Ein Sohn seines Seminardirektors war dort Geistlicher. Er und der Seminarist Peter Bendix hatten schon früher zusammen in den alten Sprachen gearbeitet; das sollte fortgesetzt werden.

»Nun kommt viel junges Blut bei uns zusammen.« So bewillkommte ihn die Gutsfrau, als er auf Kuhlenkamp antrat. »Sie und unsere junge Brut und Pastor Lammers – Pastor Lammers kann ich ruhig mitrechnen, denn mindestens dreimal in der Woche schenkt er uns einen Abend.«

Die junge Brut. Was man davon hatte, konnte Zweifeln unterliegen. Es waren zwar zwei hübsche Kinder, aber sie zählten sechs und acht Jahre, ein Mädchen, ein Knabe.

»Und morgen«, setzte Frau Richelsen hinzu, »kommt noch ein junges nettes Mädchen. Sie, Herr Bendix, müssen sie kennen; sie hat ja einen Teil ihrer Kindheit in Ihrem Dorf zugebracht.«

Peter Bendix mußte sich zusammennehmen, denn er fühlte, daß er rot wurde. Er hatte Lotten niemals aus den Augen verloren; es konnte keine andere sein als Lotte Vossen. Doch erkundigte er sich mit guter Fassung nach dem Namen.

Sie hieß wirklich Lotte Vossen. »Nehmen Sie sich in acht, sie wird nicht allein für eine Schönheit gehalten, sondern sieht auch wirklich gut aus.«

 

Am folgenden Tag sah er sie selbst von Angesicht und drückte ihr die Hand. Lotte Vossen stand in voller Blüte und hatte die von ihrer dreizehnjährigen Lieblichkeit gemachten Zusagen voll eingelöst. Und noch immer ein stilles Lächeln in jedem Zug. Als die beiden jungen Leute sich begrüßten, wußten sie, daß sie sich innerlich längst einig gewesen seien, und daß sie es von jetzt an auch äußerlich sein würden.

Er hatte sie niemals aus den Augen verloren. Ein Verwandter von ihr, der in Hamburg wohnte, hatte sich ihrer eine Zeitlang angenommen und sie an dem Unterricht seiner Tochter teilnehmen lassen. Aber nach ein paar Jahren war sie zu ihrer Großmutter zurückgekehrt; sie mochte lieber auf dem Lande sein als in der Stadt.

Niemals hatte er den Versuch gemacht, sich ihr zu nähern. Ein einfacher Seminarist? Sein Adlerflug hatte als Hemmnis dazwischen gestanden. Galt es doch für ihn, erst die Universitätsreife zu erlangen, darauf ein langes Studium. Die Mittel werden, weil der Alte nicht dafür zu haben sein wird, durch Erteilen von Stunden aufgebracht werden müssen. Viele, viele Jahre harter Arbeit liegen vor ihm. Frau und Kinder und Familie kann er dabei nicht gebrauchen; in einem langen Brautstand wird ihre Jugend, ihre Schönheit welken. Und selten hatte er sie gesehen. Nun, da das Geschick sie so eng zusammenführen wollte, wo er ihr als Hausgenosse ins Auge blickte, wußte er, daß er sie doch zu seiner Braut machen müsse, und daß ein alterndes Mädchen mit ihm vor den Traualtar treten werde. Er sah ihre Schönheit und war traurig über die kalte Verschwenderin Natur.

Das wertvolle Gut lag hinter Wald und Busch an einem kleinen, von einem lebhaften Bach gespeisten See. Wo die Brücke über ihn wegführte, schäumte sein Strom über ein Wehr, drehte ein Mühlenrad und fiel tief hinab. Und in den Speichen hing der hier gebietende Pan als feuchter Nix. Wochentags drehte er sein Rad und mahlte und mahlte, Sonntags schlief er als grün bemooste Riesenspinne im Gestänge. Und wenn er im Schlaf die nassen Locken schüttelte, schlugen große Tropfen lang und bang auf tiefe, stille Wasser, und von den Granitwänden der Grube klang es hohl zurück.

Der Gutsfrau Mutter wohnte im Kirchdorf; an Sonn- und Feiertagen wurde nach Tisch dort mit Mann und Kindern besucht. Hauslehrer und Stütze blieben zurück, und der Hof war wie ausgestorben. Bis vier Uhr schlief das Gesinde in den Kammern und im Heu, den Mittagsschlaf nachzuholen, den es wochentags bei hilder Zeit entbehren mußte.

Der Hof war wie ausgestorben, an allen Zäunen lag das All und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Aber Hauslehrer und Stütze waren wach, und sie standen am Geländer der Mahlgrube.

»Schau her, hör hin, Lotte!« fing er an. »Tropf ... tropf ... Sinds Tränen der Natur oder ist es ihr Schweiß vom Wochenfron?«

»Ich hörte von weisen Männern, der Wert des Lebens bestehe allein in Arbeit. Ich denke, es ist der sauren Arbeit Tropfen. Ich will von Tränen nichts wissen, so lang ich dich und deine Liebe habe.«

»Und da hast du recht, Lottchen. Nichts von Tränen! Aber auch nichts von eklem, saurem Schweiß. Wir haben schlecht gedeutet. Hör genau hin: Tropp, tropp und wieder tropp! Wie sanft das klingt, wie rund und ruhig, Leid und Last von uns nehmend. Tropf ... tropf ... Und nun spitz gar fein die Ohren, nun singt und klingt es noch besser. ›Die Liebe‹, sagt der gute Kerl, der in der Grube wohnt, ›die Liebe‹, sagt er, ›ist der Menschen Glück‹. Jawohl ... der Menschen ... Glück ... ihr wohlverdientes Glück. – Ich will glücklich sein. Komm in meine Arme!« Er küßte sie.

Sie gingen zusammen in den Wald, und auch in seinem stillen Weben verstanden sie: ›Die Liebe ist der Menschen Glück«... Und dann waren sie in dem kleinen Lustgarten des Hofes und saßen unmittelbar am Ufer des Wassers in einer Laube. Und die kleinen, für und für an das Ufer schlagenden Kräuselwellen, Schilf und Ried stimmten ein, alle sagten: ›Die Liebe ist der Menschen Recht... Liebt euch!‹

Das heißt, meistens war er der Deuter. Lotte war verständiger, wenn man will, nüchterner. Und er hatte zu ihr noch nicht von den Adlerflügen seiner Zukunft gesprochen, noch nicht von der Wolkenhöhe, worin er für und für schwebte. In Gedanken verstieg er sich zu nichts mehr und nichts weniger als zu der Hoffnung, für die Welt noch mal was auszurichten, was seinen Namen, und sei es auch nur irgendwo in einem ganz kleinen Winkel in einer ganz kleinen Ecke, für einen ganz kleinen Zeitraum als ganz kleinen Silberstern festlege. Von diesen Träumen hatte die glückliche Unglückliche keine Ahnung.

»Nicht wahr, Guter?« sagte sie zu ihm, »zu der nächsten guten Schulstelle melden wir uns und richten dann unser Nest ein und werden Mann und Frau.«

Man denke sich seinen Schrecken! Er sah das Stadtbild mit der langen Brücke, sah auch die Burgen. Und hörte das Rauschen seiner Adlerfittiche. Und das sollte in dem Schulmeisteridyll eines Dorfhauses versinken?

»Lotte«, fing er an, »ich muß dir was sagen. Sei ein tapferes Mädchen, es wird dir schlimm ankommen.«

Sie wurde blaß. »Sprich!« antwortete sie.

Und da sagte er ihr alles: seine Träume von der Brücke und von der Burg, seine Flüge, seine Hoffnungen.

»Wir werden alt werden, bevor wir uns ganz angehören können, Lottchen. Aber du bist ein stolzes Mädchen. Da wirst du auch einen Mann haben wollen, den man in der Welt vorzeigen kann, der etwas anderes ist als ein die Buben mit der Rute streichender Schulmeister.«

Ein paar mal hatte er gestockt, weil er eine Antwort, eine Zwischenbemerkung erwartet hatte, aber sie hatte geschwiegen. Er hatte in ihren Mienen geforscht, aber nur einen tiefen, bleichen Ernst darin gesehen. Nun war er zu Ende, hielt sie in seinen Armen und strich ihr immer das Haar aus der Stirn und küßte sie. Dann ließ er sie frei und wartete.

Die im Gutstürmchen aufgehängte Uhr fing an zu schlagen. Lotte schrak auf. »Es ist vier, ich muß Kaffee kochen«, sagte sie und erhob sich. »Bleib!« fügte sie hinzu, als er das Gleiche tat. »Bleib, ich komme wieder.«

So blieb er und hing seinen Gedanken nach. ›Wird sie verlangen, daß ich Dorfschulmeister werde?‹ Und wild wogte es in ihm. Er schätzte die Gewalten ab, die dabei waren, in der Seele seiner Geliebten die Schalen zu füllen, – das, was sie in der Richtung seiner Wünsche treibt: ihre Liebe, ihr Stolz, ihre Hoffnung; aber auch das Hemmende: die Sehnsucht, ihm gleich anzugehören. Welche Schale wird auf den Boden stoßen? Und wenn sie das Opfer von ihm verlangt, das er nicht bringen kann, nicht bringen darf, weil es ihm Verrat an allen Zwecken dünkt, die die Natur mit ihm vorhat, was dann? Was dann?

Lotte kleidete sich in hellen Farben, die standen ihrer dunklen Schönheit gut. Ihr Rosakleid zeigte sich an der Pforte des Gartens. Sie sah weich und freundlich aus und winkte ihm. »Komm«, sagte sie, »der Kaffee ist fertig und die Leute vespern. Für uns habe ich zurückgestellt. Wir wollen noch mal nach der Mühle gehen und hören, was die Tropfen sagen. Nicht wahr?«

Er hatte sich erhoben und ging schweigend neben ihr her.

»Und damit du die Sprache wiederfindest«, fuhr sie fort, »will ich gleich sagen: Ich hätte lieber auf das verzichtet, was du deine Ideale heißest. Aber wenn du darin dein Glück siehst, dann will ich warten, dann will ich eine alte Braut werden.«

Auf einem Hof am See und hinterm Wald, dessen Herren stille Leute sind, verliefen damals die Tage einsam und still. Ein Hausierer mit buntem Kram brachte schon Abwechslung, wandernde Musiktruppen und Dudelkasten mehr, Bergwerke und solche Sachen ebensoviel – der beste und seltenste Genuß war der Guckkastenmann mit Bildern aus aller Welt.

Es entstand eine große Aufregung, als ein solcher Kasten nach Kuhlenkamp kam.

Der Hausherr bedauerte, daß seine Frau bei der Pastorin im Ort Kaffee trinke und die Kinder mitgenommen habe. Dieser Kummer fiel aber weg, als der Kastenmann erklärte, direkt nach dem Pastorat gehen zu wollen, um dort seine Herrlichkeit zu zeigen. Das Dienstmädchen war auf Besuch bei ihrer Tante im Dorf Glüsen, das im Nachbarkirchspiel lag. Ihre kleine Schwester verrichtete inzwischen in Stellvertretung ihre Dienste und weinte beinahe bei dem Gedanken, daß Anna den Kasten nicht zu sehen kriege. Der Meister hatte auch dafür einen Trost. In Glüsen sei er gestern gewesen, auch bei der Tante. Und ein junges Mädchen mit hellem Haar habe alles gesehen und es habe ihr gut gefallen.

Und dann ging die Herrlichkeit los.

Wie es sich für einen deutschen Guckkasten schickt, zeigte er erst die Fremde. Zu allererst London und Paris, dann ging er nach Spanien und Italien, überflog darauf die Alpen und war in der Schweiz. Und von der Schweiz her machte er auch Deutschland einen Besuch. In der Petrikirche zu Rom segnete der heilige Vater sein Volk, und alles im Dom, sagte der Kastenmann, sei Gold und Edelstein, herrlich anzuschauen. Die Hochgebirge der Schweiz kamen nicht recht zur Geltung, sie standen zu sehr im Hintergrund.

Die Walze knarrte oft, und jedesmal warf sie ein anderes Bild vor die Linse. Die Bewohner von Kuhlenkamp sahen zahlreiche Städte, und der Vortrag des Meisters floß nebenher, und zum Schluß kam die große Überraschung.

Rr–r–r–rr! Ein Stadtbild.

Peter Bendix mußte einen Ausruf unterdrücken, so groß war seine Freude. Lotte stand neben ihm; er griff nach ihrer warmen Hand und fühlte ihren Gegendruck. Auch sie hatte das Bild erkannt. Was sie sahen, war das Bild vom Schönschreibheft, war das Symbol seiner Träume, war die hochragende, am indigoblauen Fluß hingelagerte Stadt. Sie sahen die X-Pfeiler der Brücke, sahen alles, just so, wie einst auf dem Umschlag, nur voller, breiter, lebendiger, größer. Es gingen viele Leute über die Brücke. Aber es war keiner darunter, der Funken aus den Steinen schlug.

Und angesichts der langen Brücke kam eine Vision über Peter Bendix. Er stand gar nicht vor der Glaslinse der Kastens, sondern trieb im Menschenstrom hinüber nach dem Schloß, nach der hohen Kirche – nach der Stadt. Auf der Brücke, erklärte der Guckkastenmann, muß wegen des Gedränges jeder rechts gehen; auch Peter Bendix ging rechts und tat es mit leisen behutsamen Sohlen, ohne Hufeisen. Er sah sich nach Lotte um; er hatte gehofft, sie an seiner Seite zu sehen, aber er gewahrte sie nicht.

Auf der links vom Brückenende befindlichen hohen Terrasse beugte sich ein schwarzgekleideter feiner Herr mit feinem, schwarzem Hut über das Geländer und schaute in den indigoblauen Fluß. Als Peter Bendix die Brücke passiert hatte, stieg auch er hinauf und tat so wie der feine Herr. Ja, er tat noch mehr, er schlüpfte in seine Haut – nun war der feine schwarzgekleidete Herr kein anderer als Peter Bendix Schütt. Und Peter Bendix Schütt träumte über das Geländer gelehnt und sah zu, wie der indigoblaue Fluß durch die Enge der X-Pfeiler schäumte.

Rr–r–r–rt! Die Brücke versank. Peter war im Dom der Hofkirche. Die schlanken Säulen, die reich gegliederten Fächergewölbe trugen seinen Glauben und seine Hoffnung nach oben. Auch hier war alles Gold und Marmor und Edelstein. Von den Emporen brauste und rauschte Musik aus lauten, zuversichtlichen Hörnern, daß die Zweifel zu Boden schlugen und Peter Bendixens Seele von weichen, schmeichlerischen, beredten Geigen emporgetragen wurde, hinauf ins wolkenlose Blau – und immer umarmt von jungem, weichem Gesang. Überall glaubensvoller, mutiger Springquell, melodisches Hinabrauschen stiller Ergebung.

Rr–r–r–rt! Ein Rundbild liegt auf der Walze. Man wandelt langsam unter hohen Bäumen dahin – es ist der prächtige Lustgarten der Residenz. Vornehme, leidenschaftslose Paläste blinken wie aus Wolkenhöhe hinein, erzene, hoheitsvolle Männer stehen und reden mit Hand und Miene oder ruhen im Grün. In einer Seitenstraße ein lindenumrauschtes Haus. Das war das Beste, was Peter Bendix sah.

Rr–r–r–rt! – Klacks! Pappen und Walzen ... Die Vorstellung war zu Ende.

 

Der Kastenmann hatte den geheimnisvollen, eine ganze Welt bergenden Apparat aufgeschnallt und war mit krummem Rücken weitergegangen; der Gutsherr hatte sich nach den Wiesen begeben, die Fünfzehnjährige half auf dem Wirtschaftshof beim Melken aus, vor Abend wird Frau Richelsen von Pastors nicht zurück sein – Hauslehrer und Stütze hüten den Herd.

Lotte Vossen putzte ihn sogar. Vertretungsweise verrichtete sie alle Dienste einer Magd. Und beim Reiben der Messingstangen hörte sie die Stubentür des Hauslehrers und ihn selbst die Treppe herabkommen.

Ja, er ging ins Erdgeschoß, der Händedruck seines Mädchens bebte in ihm nach, er hatte zu viel Sehnsucht. Und nun stand er vor ihr. Er wollte lachen, aber es gelang nicht recht.

»Das war schön, Lotte, was?«

»Ja, das war es.«

»Aber Lübeck haben wir nicht gesehen.«

»Nein, das haben wir nicht.«

»Darf ich dirs zeigen?«

›Lübeck zeigen‹ ist ein unter Vertrauten üblicher, wenn auch ein bißchen handgreiflicher Scherz.

»Ich habe keine Zeit, zu albern.« Sie hatte aber ganz gut Zeit, denn sie lachte ihn aus ihren braunen Augen an.

Die rechte Art, Jürn Wullenwewers Hansestadt zu zeigen, kommt ›von achtern‹ her, Peter Bendix tat es aber von vorne, preßte zwei große Hände gegen ihre Schläfe und küßte sie – einmal – zweimal – dreimal auf den Mund.

»Hast Lübeck gesehen?«

»Einen mallen Jung hab ich gesehen.«

»Und der malle Jung zeigt dir noch mal, wo du geboren bist.«

»Das sollt er man mal wagen!«

Er wollte es tun, sie protestierte, aber es war ihr nicht ernst damit.

»Töv, ik krieg di!« rief er.

»Wenn du mich kriegst, schlag ich.«

Sie schlug aber erst, als sie Lübeck gesehen hatte. Sie schwang das Tuch des Staubes ungefähr in dem Augenblick, als er über die Küchenschwelle sprang und ihr beim Hinausspringen als Schelmengesicht eine lange Nase machte.

Und dann schritt er die Stiege, hinauf nach seiner Stube.

Er glaubte nicht mehr nötig zu haben, an die zu denken, die um die blanke Reinheit des Gutsherds von Kuhlenkamp besorgt war, er glaubte die alten Lateiner hernehmen zu können, aber er merkte bald, daß das nicht ging, daß der Geist des Aufruhrs in ihm umging und die Grundlinien seines Wesens verwirren wollte. ›Bet mich an, dann will ich sie dir restlos geben‹, sagte dieser Fremdling und gebärdete sich wie zu Hause.

Es war zu arg, Goethe mußte helfen! Er suchte ›Tasso‹. Wenn er ›Tasso‹ nahm, ging die Stimmung in gebundenem Ton. Ein edler Geist in Wahn und Zorn zerstört, du hörst nur noch ein mächtig Rauschen und ein sanftes Wehn im klaren Springquell reiner Kunst. O komm, du herrlich Buch, und nimm von mir die Schlacken meiner Seele!

Er las und las, aber er mußte erfahren, daß auch der Macht des Altmeisters und seines ›Tasso‹ Grenzen gesteckt seien. Er legte das Buch weg und öffnete die Tür. Die bald hallende, bald webende Stille des Hauses stand wie zur Wache vor ihm.

Seine Stube war ein Giebelzimmer; keine zehn Schritte davon am andern Ende die Kammer seines Mädchens. Er wollte, er mußte sie sehen, er ging die Treppe wieder hinab, und vor ihm Stufe um Stufe ging die Ruhe des Hauses mit hoch erhobener Hand. So suchten sie die, die in seinem Herzen lebte. Sie suchten sie erst in den Stuben, aber sie war noch in der Küche, saß dort in einer großen blauen Schürze vergraben und schälte Kartoffeln. Sie bediente sich dabei eines kleinen, scharfen, spitzen Messers. Und als sie ihn sah, erhob sie ihr Messer zu Stich und Stoß und sagte: »Nun komm mir man mal!«

Peter Bendir antwortete nicht, er nahm Eimer und Mulde behutsam weg, löste die Waffe aus ihrer Hand, legte sie zu der Kartoffelschale, band die blaue Schürze mit einer von Sachkunde zeugenden Geschwindigkeit los, faltete sie über ihrem Inhalt und hielt den Anrichtetisch für einen geeigneten Platz, Schürze und Messer und Kartoffelschale aufzunehmen. »Man muß«, sagte er, »schönen Schlangen die Giftzähne ausbrechen, dann werden sie lieb und gut. Und nun komm her, sei Schlange, ich heiße Laokoon!«

 

Noch an demselben Abend offenbarten sich die geheim Verlobten ihrer Herrschaft und nahmen herzliche Glückwünsche entgegen. Beim Schlafengehen aber sprach die Hausfrau zu ihrem Mann: »Das ist ja soweit ganz gut, es ist eine passende Partie, da ist nichts dagegen zu sagen. Leider bedeutet das ein Ende ihrer Stellung bei uns. Jetzt heißt es freilich: wir wollen noch nicht heiraten. Aber man weiß schon, wie das geht. Es ist auch ja ganz natürlich, daß man, wenn es so weit gekommen ist, gern zusammen will. Und Lotte muß selbstverständlich gleich anderswo hin. Ich hab mir schon immer Gedanken gemacht, zwei so junge Leute allein auf dem Boden wohnen zu lassen. Sind sie nun gar Bräutigam und Braut, dann ist es ganz unmöglich.«

»Was ist unmöglich?« fragte ihr halbwacher Mann. Er war just im Begriff gewesen, wegzusinken.

»Daß du noch länger wachst, das ist unmöglich«, antwortete sie. ›Was soll ich da lange reden?‹ war ihr Gedanke. ›So was ist Frauensache. Die Tochter von Kaufmann Reher ist auch ein nettes Mädchen, sie hat schon längst um die Stellung gefragt. Frau Urban auf Dobershagen ist um eine Stütze verlegen, da kann Lotte Vossen hinkommen.‹

Und als sie das zurecht gedacht hatte, schlief auch sie ein, und wachte bis zum Morgen nicht wieder.

So glaubte sie wenigstens, als sie Fräulein Lotte Vossen in der Frühe die Wohnstube aufräumen hörte. In Wirklichkeit war sie zwei mal von einem Geräusch, als ob irgendwo im Hause eine Tür aufgemacht werde, wach geworden. Sie war aber gleich darauf wieder eingeschlafen und wußte jetzt nichts mehr davon.

 

Sie hatte aber doch recht gehört. Und weil sie recht gehört hatte, hatte Peter Bendix das Gefühl, daß er die Begründung seiner Zukunft nicht bis zu dem Tag aufschieben dürfe, wo er die lange Brücke und die Burgen gefunden habe. Brücke und Burg wollten sich im Nebel auflösen, aber innerlich hielt er noch immer an seinem Ideal fest.

Lotte siedelte nach Dobershagen über. Sie sprach nichts über die Veränderung ihrer Lage, hielt es aber für selbstverständlich, daß nach dem, was geschehen, so bald wie möglich ein Nest zu suchen sei.

Ein angenehmer, nicht zu langer Heckenweg verband die beiden Güter. Sonntag nachmittags besuchten sich die Brautleute. Und dann brachte Lotte Bossen alle Schulamtsanzeigen mit und begann mit ihrem Verlobten nach einer Stelle zu suchen. Da rückte es Peter Bendix ganz nahe, seine Adlerfittiche wegzuhängen.

Eines Tages kam jemand, der es ihm noch näher brachte. Es war ein alter Mann, ein rotes Tuch, worin Äpfel verknotet waren, unter dem Arm, die Pfeife im Mund. Durch die Haustür des Herrenhauses ging er, es war der alte Schütt. Er hielt noch immer an seinem Altersideal fest, nun kam er, an der Verwirklichung mitzuwirken. Er war ein alter Bauer mit roter Gesichtsfarbe, dabei von kurzer Statur. Auch seine Pfeife, woraus er erst die Wohnzimmer der Gutsleute vollgeraucht hatte und nachher die Stube seines Sohnes vollqualmte, war von geringer Länge. Er kam, seinem Sohn mitzuteilen, daß der alte Lehrer Vollert von Holle zum Herbst in Pension gehe.

Die Schulgemeinde Holle umfaßte zwei politisch selbständige Dörfer, das Schulhaus lag ziemlich genau in der Mitte an einem großen Wald. Es war groß genug, ihn mitaufzunehmen. Es war wie geschaffen für den Schulmeister Peter Bendix und für seinen alten Vater. Sie konnten ›umschichtig ‹ die Dörfer besuchen, ohne sich ins Gehege zu kommen. Die Frau des Jungen schien dem Alten freilich noch immer eine überflüssige Zugabe, er hatte aber den Weg über Dobershagen gemacht, hatte die Zukünftige seines Peter Bendix kennen gelernt und hatte Gefallen an ihr gefunden. Nun konnte er sich auch damit zufrieden geben.

Sein Sohn sagte freilich, es müsse noch überlegt werden, sprach sich aber sonst günstig aus. In Wahrheit gab es auch weit und breit keine besser dotierte und bequemere Schule. Sollte und mußte es sein, dann Holle. Vielleicht fand sich sogar ein Splitter Muße für eigene Studien.

Sein Gutsherr kannte die Mitglieder der Behörde, die die Stelle zu vergeben hatte; er sprach mit ihnen, lobte seinen Hauslehrer, die Zeugnisse taten das gleiche – Peter Bendix wird die Stelle bekommen, wenn er sein Gesuch einreicht.

Seinem Vater hatte er eine halbe Zusage gegeben, seiner Braut die andere Hälfte, aber noch immer tobte in ihm der Kampf. Vor der Hand wollten er und seine Braut Holle besuchen. Das Gut gab den Wagen her, so fuhren sie Sonntags nachmittags hinüber.

 

Am Hecktor stand ein langer, hagerer, eisgrauer Mann, das war der alte Lehrer, neben ihm ein kleinerer mit kurzer Pfeife, das war Vater Schütt. Unter den Fenstern der Wohnstube wucherte der Weinstock. Die Fenster sahen in den Garten, und wenige Schritte vor der Hauswand grünten hoch und üppig aufgeschossene Stauden von Erbsen und Bohnen. Als Peter Bendix und Lotte Bossen und der Alte Haus und Wirtschaft besahen und im Garten standen, sagte die Schulmeistersfrau in spe: »Unsere Erbsen und Bohnen setzen wir weiter nach hinten hin. Hier müssen Rosen stehen. Ich liebe die großen mit dem weichen Sammtblatt. Da haben wir sie stets vor Augen.«

Der Alte sog aus seiner Pfeife einen hastigen Zug und fragte (er hatte eine etwas drängende, knarrende Stimme): »Aber Lotte, wo soll denn das hin, was hier jetzt wächst?«

»Das, Vater, kommt dahin, wo die Kartoffeln sind.«

»Und die Kartoffeln?«

»Die müssen nach der Koppel.«

Vater Schütt ließ die Pfeife an den Zähnen hängen.

»Ja, Tochter! Dann hast aber dreist eine und ne halbe Tonne Korn weniger im Jahr.«

Lotte lachte: »Muß sich helfen, Vater. Der Mensch lebt nicht allein von Brot, Blumen gehören auch dazu.«

»So – so«, knarrte Vater, »dat hev 'k na gar ni wüßt. – Will mal sehn, ob de Per na wat inne Kröpp hebbt«, setzte er hinzu. Er behielt ein ruhiges, trockenes Gesicht; so ging er den Gartensteig entlang dem Hause zu.

»Lotte«, fing Peter Bendix an.

»Was, mein Lieber?«

»Das hättest nicht sagen sollen.«

»Hätte ich nicht sagen sollen?«

»Nein, das vergißt er nicht wieder.«

»Ist der Alte so nachträgerisch? Das kann ich nicht glauben.«

»Nachträgerisch will ich nicht sagen. Aber er wird sich auf seine Weise Gedanken machen.«

Es entstand eine etwas peinliche Pause. Dann waren sie wieder bei ihren Zukunftsplänen.

»An meine Rosen darf keine fremde Hand kommen!« plauderte Lotte, »die pflanz ich, die besorge ich ganz allein. Ich schneide ab, was sie hergeben, da haben wir jeden Morgen frische Blumengesichter auf dem Tisch.«

»Andere dürfen nicht daran kommen?«

»Nein!« »Auch nicht dein Mann?«

»Ach du, das ist doch ganz was anderes! Ein Mann ist doch kein anderer!«

»Und die Kinder?«

»Die Schulrangen würde ich schön auf den Trab bringen, die das wagten.«

»Von denen sprach ich eigentlich nicht. Die Schulmeistersleute könnten doch auch welche haben?«

Lotte errötete bis in ihr braunes Haar hinein. »Ach du, das muß sich dann finden.« Weiter sagte sie nichts.

Vater Schütt und der alte Lehrer Vollert kamen plaudernd den Gartensteig herauf. Der Herr des Hauses lud zu einem Abendimbiß ein; Vater Schütt aber kam, Adjüs zu sagen. Er wurde zu Hause erwartet, sein Weg führte ihn eine kleine Stunde durch die Bruchwiesen.

»Adjüs meine Tochter!« sagte er zu Lotte. »Und ich meine nur, Schulmeister auf dem Dorf sind Bauern wie wir. Und wenn ich recht bin, wird unser Brot aus Roggen gebacken und nicht aus Rosen. Aber nimm mir nicht übel, ich mein nur so! Und ich bin ein alter Mann.«

Als Peter Bendix und seine Braut aus dem Hecktor fuhren, hatte die Natur die großen Tinten abendlichen Schweigens über sie hingeworfen und der Wald riegelte die Pforten seiner Ruhe auf.

Nachtschwalben schossen über die Pferde hin, ringsum war es still wie in der Ewigkeit. Und wenn auch noch immer Baumriesen ragende Häupter über das einsame Fuhrwerk streckten, und wenn auch im Wald allgemach das nächtliche Treiben begann, und wenn auch die Fugen und Riemen des Wagens stöhnten und klagten, wie auch immer die Natur lockte und rief – alles unterstrich das große Schweigen, das Peter Bendix und seine Braut umfing. Und es peinigte und drückte den jungen Hauslehrer um so mehr. Das, was er auf sich genommen hatte, war ihm zu schwer. Er stöhnte noch mehr als der Lederstuhl, der ihn durch die tiefen Wagengeleise warf. Die Zukunft, seine Zukunft hatte reich und voll und sonnenhaft vor ihm gelegen. Aber beim Schulhaus von Holle war es so totenhaft, einsam und still. Die Brücke auf den X-Pfeilern sah er deutlich, Timotee, wie er hinüberging, Anna Hotje an seiner Seite, Feuer sprühte bei jedem Schritt; aber vor Peter Bendix hob sie sich in die Wolken, und sein Wagen fuhr darunter hinweg.

»Liebe Lotte«, schrieb erfolgenden Tags an seine Braut, »gestern abend beim Abschied meintest du, ich sei nicht bei Stimmung gewesen. So war es in der Tat. Ich fühlte mich müde, ich war zerschlagen und bin es noch jetzt. Es ist viel Weh in der Welt; wir haben auch unser Teil zu tragen. Wenn ich nicht dich und deine Liebe hätte... Und wiederum ist es gerade deine Liebe.

Ich wills gestehen: die Einsamkeit beim Schulhaus ist mir aufs Herz gefallen. Und die alten Träume, die du kennst, sind wieder erwacht. Kann ich, können wir, hab ich mich gefragt, es vor Gott verantworten? Ich wills nicht weiter ausführen. Du weißt ja, was ich mir zutraue. Und es gab eine Zeit, wo du mirs zugesagt hast: ich will eine alte Braut werden. Das war hochherzig. Alle Leute, die sich was zutrauen, sind egoistisch, dürfen egoistisch sein. Ich glaubte es mir, ich glaubte es uns beiden schuldig zu sein, dein Opfer anzunehmen.

Aber es stand anders mit uns als jetzt. Besser. Wir konnten, wenn wir uns in die Augen sahen, noch immer glauben, Kinder zu sein. Es ist anders geworden. Durch meine Schuld. Leider! Und wenn wir unsern alten Plan wieder aufnehmen, dann müssen wir uns bestreben, wieder Kinder zu werden. Soweit es nach allem, was geschehen, noch möglich ist... Als du von den Rosenstöcken sprachst, die keine Kinderhand anrühren dürfe, da warf ich ein Wort hin, das dich erröten machte. Ich habe auf meine Weise gedeutet, und wenn meine Deutung die richtige ist, so steht noch immer der Weg nach den Burgen offen, ist noch immer der Weg nach der Brücke frei. Laß dein Tintenfaß in Ruh! Sonntag sehe ich dich auf Kuhlenkamp, dann sag mir, was gesagt sein muß.«

Sie kam zwar am Sonntag, aber sie hatte wegen eines Besuchs erst kommen können, als der Tag zu Ende ging.

»Es ist gut, daß du da bist«, seufzte er und sah sie bedrückt an.

»Das ist es«, antwortete sie. Sie sah ernst, aber nicht finster. Er forschte nach dem Lächeln, das ihren Lippen so gut stand und niemals fehlte. Es war noch da, aber es war kleiner als sonst.

»Tinte und Papier möge ich in Ruhe lassen, schriebst du, und das war recht. Ich hätte gar nicht so viel in meiner Kommode gehabt. Und das, was ich zu sagen habe, schreibt keine Tinte hin. Ja Lieber, du wirst Dinge hören müssen, die nicht nach deinem Sinn find.«

Darauf antwortete er nicht; er sagte nur: »Wenn es dir recht ist, gehen wir in den Wald.«

Und sie gingen erst unter den hohen Buchen hin, an die sich die Gutsgebäude lehnten, und wendeten sich dann dem Promenadenweg zu, der quer durch den Wald lief, meistens durch Tannengebüsch verdeckt.

Sie glaubten allein zu sein, es saß aber nicht weit vom Weg ein Gutsknecht mit seinem Mädchen im Dickicht auf einer Bank. Die haben ihre Stimmen gehört; das heißt meistens allein die von Lotte Vossen, deren Laut immer ruhig daherfloß. Verstanden haben sie aber von der ganzen Unterhaltung kein Wort. Bei beginnender Dunkelheit ist es ganz still geworden, Knecht und Magd sind nach dem Gutshof zurückgekehrt – da haben sie den Hauslehrer und seine Braut bei der Mühle am Wehr gesehen.

Am Rande der Mahlgrube verweilten Peter Bendix und Lotte Vossen lange Zeit und sahen in das Schimmern des verrinnenden Tages. Die Sonne war hinter den Wasser- und Schilfrand des Sees hinabgesunken, das Abendrot erblich. Morgen wird die Sense zum ersten mal im Roggenfeld surren; dann feiert man das kleine Erntebier mit Bier und Gelag. Und die Vorfeier lärmt und klagt und frohlockt bereits mit Gejohle und mit Harmonika über den Wassern zu Peter Bendix und Lotte Vossen her.

Sie glauben noch immer in den Abend zu sehen, aber es leuchtet und knistert schon eine sternenhelle, bogenhohe Nacht, und neben dem jungen Paar tropft es wie einst langsam vom Rad. Und noch immer kennt man sich nicht aus: sinds Tränen, ists Schweiß und Müh, oder ist es Stöhnen und Klagen? Sibyllenton? Prophetenwort? Vielleicht gar Drohung geknebelter Kraft?

Sie standen am Geländer, und noch immer sprach die Braut. Sprach, wie ihr Wesen sich gab, wie sonst sprach sie, ruhig und milde. »Als ob es«, sagte sie, »überhaupt denkbar wäre, als ob dus könntest, als ob deine Hand, dein Fuß sich nicht widersetzen müßten, beföhle es auch dein kluger Kopf.«

»Lotte!« fiel er ein.

Aber sie ließ ihn nicht. »Da bin ich ganz sicher. Dazu bist du zu treu. Dein Wort hat die Kraft eines Eides. Du magst es nun wollen oder nicht: du wirst es vor jedem Nebenweg finden, und keine Zollbreite wird frei sein, vorbeizuschlüpfen. Und dann«, – da blinkte ihr stilles Lächeln im Sternenschein – »deine Liebe leidet es auch nicht. Denn, Peter Bendix, ich muß es dir sagen, damit dus weißt: Lotte Vossen liebst du noch immer. Und deine Lotte wirst du nicht in Unehre bringen. Eher ginge ein Kamel durch ein Nadelöhr«, setzte sie hinzu. Und wieder sah er ihr Lächeln.

Peter Bendix schwieg. Was sollte er antworten? Es war alles so schlüssig, so bündig, so sittlich. Und nach dem, was er heute erfahren hatte, wie es mit ihr stand, da mußten seine Burgen und Brücken wohl im Nebel versinken. Hinter den Fenstern vom Schulhof blühen Rosen von der Art, wie Lotte sie liebt, die mit dem großen, gelben Samtblatt. Kartoffeln, die gehören nicht in den Schulgarten vor die rebenumsponnenen Stuben. Wozu ist die Schulkoppel da?

So dachte er, so stürmte es in ihm. Er hätte gern gesprochen und sei es auch nur, um ihr einen Begriff von der Größe seines Opfers zu geben, zu sagen, was er leide. Aber – sie war eine so gute Lotte, ein nur ein bißchen anspruchsloser Gatte wird bei ihr wie im Himmel leben.

Aber den Flug der Funken, die man Ehrgeiz nennt, die wie Feuer brennen, den kennt das Lottchen nicht. Oder wenn sie ihn kennt, kennt sie ihn nicht so, wie er. Und wenn ein Feuerchen vor ihre Füße stäubt, tritt sie es aus. Er aber hat eine Mannesseele. Und die Mannesseele hat der Schöpfer doch wohl besonders zum Gefäß hoher Ideale gemacht. Tritt ihn tot, den Ehrgeiz! Wenn du den tot gemacht hast, dann wird im Schulhaus bei solcher Frau der Himmel auf Erden sein.

Er seufzte.

Sie verstand ihn nicht. »Meine Tat, unsere Tat, wir werfen sie getrost auf den Herrn.«

Und wiederum schwieg Peter Bendix Schütt. Alles, was Recht und Sitte sagen mochten, schien ihm so zwerghaft klein gegen die Riesengröße des Verzichts, den er seiner Seele abrang.

»Du sagst mir nichts, Geliebter, und du hast recht. Was ist da viel zu reden? Bittern Trank ohne Laut zu schlürfen, das ist des Mannes Recht und Pflicht.«

Sie stockte, sie hoffte trotz alledem auf ein Wort. Und als es auch jetzt nicht kam, da sah sie ihm ernst ins Angesicht. Und wartete auf sein Wort – wartete an seiner Seite am Rand der Mahlgrube. Und horchte auf den hohlen Tropfenfall vom Rad.

Er drückte ihre Hand und sagte – nichts.

Da sprach sie leise: »Komm, es ist spät, wir wollen nach Hause gehen.«

Er antwortete ein karges: »Ja, es ist spät. Ich will anspannen lassen. Der Mond kommt erst um zwei. Zwischen den Hecken ist es dunkel. Ich will anspannen lassen und dich rasch hinüberfahren.«

»Tu das, mein Lieber!«

Aus der Grube klang es hohl und bang. ›Und wenn er nicht der ist, für den ich ihn halte?‹ dachte Lotte Vossen, ›dann bleibt mir die Grube.‹ Und Peter Bendix: ›Ob es wohl ein leichtes Ende ist, kopfüber in den Schacht.‹ Aber beide verschlossen es in ihrer Brust.

»Ich will ›Tasso‹ lesen«, murmelte Peter Bendix Schütt, als er von seiner kleinen Reise zurückgekommen war. »Die beiden letzten Akte. Vielleicht wirds helfen.«

Erst dachte er im Lehnstuhl zu bleiben, dann aber rückte er einen soliden Tisch ans Bett, stellte die Lampe darauf, legte sich nieder und nahm ›Tasso‹.

Und über den Versen des Altmeisters schwebte immer die Frage: ›Was ist das höhere, das vornehmere Gebot? Was ist die höhere Pflicht? Die gegen sich selbst oder die gegen seinen Nächsten‹? Er entschied: ›Die gegen mich selbst.‹ Und die Entgegnung: ›Auch dann, wenn ein Schaden zu bessern ist, den man selbst herbeigeführt hat.‹ Und es erhob sich eine Stimme, die wollte sagen: ›Auch dann.‹ Sprach es aber nicht rund aus. Peter Bendix behielt es nur in Gedanken.

Zum Beispiel: ›Da ist einer ein schlechter Schwimmer; er wird wahrscheinlich ertrinken, wenn er einen andern zu retten versucht. Sein Leben soll auch kostbarer sein als das, das im Wasser mit dem Sterben ringt. Er zaudert. Wer will ihn schelten? ... Aber wenn nun der andere von ihm schuldhafterweise ins Wasser gestoßen worden ist, dann muß er doch nachspringen?‹

Das und ähnliches dachte er zwischen den Zeilen von ›Tasso‹ hin.

›Die deutsche Literatur‹, dachte er weiter, ›kennt einen großen Dichter, dessen Geliebte Elise hieß, der sich aber mit einer Frau verheiratete, die einen ganz anderen Namen führte. Wahrscheinlich wäre er der Welt nicht das geworden, was er ihr ist, wenn seine Frau Elise geheißen hätte ...‹

 

Im Walde herbstete es, auf Baum und Blatt lag ein müder Zug; auch er fühlte sich matt. Und der Weg war doch eben und nicht zu steil. Er setzte sich auf einen Stein, der Atem ging schwer. Nach seiner Rechnung hätte er schon oben sein müssen, dort, wo die Burg liegt. Er hatte sie vor Eintritt in den Wald gesehen, hoch und frei, wie zum Greifen. Er fuhr sich über die Stirn, alten verwelkten Erinnerungen die Bahn frei zu machen.

Die Burg? Hatte er sie nicht auf dem Mittelfeld seines Schreibheftes gehabt? ... Wolkenballen und windgefegte Krähenflüge? ... Türme und Zinnen und Glanz falber Vergangenheit? ... Wie lange war das her?

Er wußte es nicht. Man hatte ihm das Gedächtnis von dem Mittelstück seines Lebens gestohlen; er wußte nicht, wo es hingekommen war. Wie lange lag der schreckliche Tag hinter ihm, wo man sie, die er zu lieben geglaubt hatte und der er sein Wort gebrochen, aus der Mahlgrube gezogen?

Wie lange? Das feuchte Ungeheuer hing an grünbemoosten, langen Armen in den Speichen des Mühlenrads, schüttelte das Haar, und die Tropfen fielen lang und bang und rund und schwer in die Tiefe.

Er steht auf und geht weiter, er will hinauf zur Burg. Ein altes, welkes Weib, das dürres Holz und Pilze sammelt, kommt ihm entgegen.

»Guten Tag, Mütterchen!«

»Guten Tag, Alterchen!«

Alterchen? Das ist ein guter oder besser ein schlechter Spaß; er wills aber mit Humor tragen.

Das Weib, von der Kiepe krummgebogen, steht vor Peter Bendix Schütt und stützt sich auf einen langen Stock. Graugrüne stechende Augen laufen an seiner Figur prüfend auf und ab.

»Wie weit, Mütterchen?«

»Man rechnet eine halbe Stunde.« Ihre Stimme rasselt und pfeift und wird von Husten unterbrochen. »Unsereiner zwingts in zwanzig Minuten. Ihr, Großväterchen? Ich rat, nehmt ein Stündchen und ein Viertel, dann mags treffen.«

»Schön«, erwiderte er laut. ›Habt ein ungewaschen Maul!‹ brummt er in den Bart und geht weiter, immer sachte bergan.

Eine Stunde ist hin, und noch ist er im dichten Wald. Er steigt ein Weilchen weiter, es öffnet sich eine Lichtung: Schloß, Türme, Zinnen, Wolkenballen, windgefegte Krähenflüge – falber Glanz der Vergangenheit. Noch ein kleiner, steiler Weg, die letzten Reservekräfte her! – Peter Bendix steht schnaufend am Schloßtor.

Oben sind viele Leute, Reisende wie er. Er weiß nicht, wie sie heraufgekommen sind; es ist ihm auch einerlei. Das Schloß wird besehen, der Kastellan und seine Gehilfen machen die Führer.

Der reiche, weite Prunksaal! Peter Bendix hat dem großen Kristallspiegel gegenüber seinen Stand. Das Bild aller Leute kehrt darin wieder: der große, breite Engländer mit dem Roastbeafgesicht, ein Generalsuperintendent mit sieben häßlichen Töchtern, modische Damen mit riesigen Ungeheuern von Hüten, darunter Halbwelterscheinungen, die Züge verblüht. Alles ist zu sehen, nur nicht sein eigenes Bild. Wo er sich selbst sehen soll, steht ein ganz alter, müder Mann.

»Setzen Sie sich, alter Herr!« hört er eine Stimme und sieht, wie der Schloßwart ihm einen Stuhl hinschiebt. »Hier wirds länger dauern, es möchte Ihnen sauer werden.«

Er hält sich in der Tat nur noch mit Mühe auf den Beinen. Aber ›alter Herr‹? Das ihm? Ist er ein alter Herr? »Für wen ist der Stuhl?« fragt er.

»Für Sie.« Und der mit den blanken Knöpfen lächelt. »Sind Sie etwa noch nicht alt genug? Setzen Sie sich nur! Es wird Ihnen niemand verargen.«

Da setzt sich Peter Bendix Schütt, und das Spiegelbild des müden Greises setzt sich auch. Er ist es selbst – er ist ein ganz alter Mann.

Was gehen ihn die Prunkgemächer an? Er ist ein alter Mann. Was die Türme und Zinnen und die Dohlen, die flügelschlagend im Winde stehen? Und was die Zecherfreude und der Vergangenheit falber Glanz und der durch die Jahrhunderte herüberquellende Klang? Er ist ein alter, ein sterbensmüder Mann ...

Er wagt nicht darüber nachzudenken, wie lange Zeit verflossen sein mag, wo er Lotte in Schande gebracht und in den Tod gejagt hat. Bald ist ihm, als habe er es selbst miterlebt, wie man sie aus der Mahlgrube zog, bald glaubt er es aus Erzählungen zu wissen. Der Doktor hat jedenfalls gesagt, daß der Tod auf der Stelle eingetreten sei, da sie sich beim Hinabsturz den Schädel an der Granitwand der Grube zerschmettert habe.

Peter Bendix muß immer an das reiche, schwarzbraune Haar denken, das auf diesem Kopf wuchs. Es ist doch nicht dick und voll genug gewesen, die Gewalt des Stoßes aufzuheben. Als man sie aus der Grube gezogen hat – so sehr blutig ist das Haar gar nicht gewesen. Lotte Vossen hat ganz am Grunde gelegen, die Mühle ist im Gang gewesen, und der Strom, der dann über das Wehr springt, hat das Blut weggeschwemmt und alles wieder rein gewaschen.

Sie ist erst am andern Tag gefunden worden, als all ihr Herzblut schon zu Tal geführt worden war.

›Nacht der Vergessenheit, komm wieder! Gib mir den Schleier her, ich will ihn über die Dinge decken, die nicht mehr sind! Über die Schrecken, die mich alt gemacht haben.‹ ...

Aber nicht die Nacht kommt, es kommt der Tag und macht licht, was dunkel sein sollte:

Die Träume seiner Jugend sind Träume geblieben. Der Adler des Ruhms fliegt nicht über seinem Haupt. Er glaubte um Kopfeslänge über dem gemeinen Volk hervorzuragen. Aber als er auf dem Markt stand, sah er viele Riesen, zu denen er aufzusehen sein Haupt in den Nacken beugen mußte. Und er selbst ging in der Menge unter. Und niemand hat nach ihm gefragt. Und nun ist er ein armer, ein alter, ein ungekannter Mann.

Er hat bald gewußt, daß er nicht der sei, für den er sich gehalten, daß die Stimme seines Innern, der er sein Ohr geliehen, Lügenworte gesagt hat. Er hat nur noch nach einer Rechtfertigung seiner Tat gesucht. Wie hat er wissen können, daß sein Stolz und seine Hoffart log und trog? War er nicht zwischen zwei Gebote gestellt, von denen das eine als Pflicht hinstellte, was das andere untersagte? War die Pflicht gegen sich selbst nicht auch die gegen die Allgemeinheit, oder schien es doch zu sein? Mußte er da nicht glauben, daß das auch die höhere sei?

In brünstigem Flehen hat ers seinem Schöpfer ans Herz gelegt. Es wäre Untreue gegen sich gewesen, wäre er nicht über sie, über ihre Ehre und über ihre Leiche hinweggeschritten.

So hat er es dem Herrn des All vorgetragen, aber das All ist bei dieser Bitte erbebt. Und eine starke Stimme hat die Himmel erschüttert: »Du Narr, hast du die Pfunde eurer Seelen an meiner Wage abgelesen? Warst du dabei, als ich sie in meiner Gotteshand wog? Nun steht das Gewicht deiner Seele und das Gewicht ihrer Seele in deinem Schuldbuch eingeschrieben.«

Er stand im Burghof, im Glanz falber Vergangenheit, und wieder erbebte das All, und die starke Stimme wiederholte und sprach: »In deinem Schuldbuch, Peter Bendix, steht es eingeschrieben.«

»Dat weer des Düwels!« fiel jemand ein. Es war eine alte, knarrende Stimme, die das sagte, eine, die Peter Bendix bekannt klang. Er wußte nicht, woher sie kam, und wußte nicht, was sie meinte und was sie wollte ...

Und die lange Brücke liegt vor ihm und jenseits des indigoblauen Flusses ragt die hochgetürmte Stadt.

»De Tid löppt gau«, bemerkte der Knarrende.

Jawohl, die Zeit lief rasch, Peter hat gar keine Erinnerung davon, wie lange es her ist, daß er zur windverwehten Burg hinaufgestiegen, weiß auch nicht, was ihn jetzt dahin getragen hat, wo die lange Brücke über X-Pfeiler zur ragenden Stadt hinüberführt.

»In deinem Schuldbuch stehts geschrieben«, wiederholte die starke Stimme, und das All wiederholte: »Da ist es eingetragen«.

Ganz fern, tief am Horizont, flog ein großer Vogel, und er trug die Zeit, die seit Lottes Tod vorübergerauscht war auf seinen breiten Schwingen davon ...

›Vor einem grauen Haupte sollst du aufstehen.‹

Er geht über die Brücke er ist ein alter, von Erfahrung gesättigter Mann.

Einem grauen Haupte gib den Weg frei! Auch dem, der Sünden grau geworden ist? In dessen Augen der Unfriede des bösen Gewissens wohnt? Aus deren düsterm Glanz die Qual der Reue spricht? Empfängt man auch von ihm, wenn man am Brückengeländer stehen bleibt und das Haupt entblößt, den Gruß der Ewigkeit?

Der Kastenmann hat gesagt, alles müsse rechter Hand gehen; auch Peter Bendix geht rechter Hand. Und er ist ein alter Mann und stützt sich auf einen derben, braunen Stock, und er wird vom Strom fortgeschoben, und die Brücke will kein Ende nehmen, und ihm ist, als schreite er schon viele Jahre auf der Brücke über den indigoblauen Fluß.

»Man muß nur Geld haben«, knarrte die alte Stimme.

Peter Bendix ging über die lange Brücke, und wie ein trüber Strom wogte die dunkle Menge der Menschen. Und alle gehen ruhig wie bei einem Kirchenbittgang.

Und über dem Menschengebraus schwebt ein Madonnenbild hin. Und Peter Bendix reibt sich die Augen, und siehe – es ist Lottchens Bild. Und wieder reibt er sich die Augen, da scheint ihm, es ist nicht Lottchens Bild – sie ist es selbst.

Und noch einmal prüft er seine Augen, da kann er nicht mehr sagen, daß es wahr ist, da liegt ein Nebel darüber. Aber ganz deutlich sieht er, da gehen Anna Hotje und Timotee Arm in Arm. Und Timotee schlägt hart mit den Hacken auf die Steine, und bei jedem Schritt springt ein Fünkchen auf.

Ein junger Mann steht auf einem der X-Pfeiler, wo der Weg ausgebuchtet ist, am Brückengeländer, den Hut in der Hand, und begrüßt den alten Peter Bendix, der über die Brücke geht. Und vertritt ihm den Weg, immer mit gebeugtem Nacken und mit entblößtem Haupt. Und spricht zu ihm: »Meine Ehrerbietung, alter Herr! Ich begrüße dein graues Haupt und deine Weisheit und deine Erfahrung und deine Liebe und deine Güte. Und ich lese auf deiner Stirn den Gruß der Ewigkeit.«

»Dat is en schöne Sak«, sagte der Plattdeutsche.

Peter Bendix kehrt sich nicht daran; er sagt zu dem, der ihn angesprochen hat: »Junger Mann, du liesest schlecht. Du wirfst deinen Gruß einem Unwürdigen hin, und er fällt in den Schmutz der Straße.«

»In den Schmutz der Straße?« fragt der Jüngling.

»Ja«, erwidert Peter. »Du verstehst mich nicht, ich will dir weisen, wie ichs meine. Sieh hin« (nun schwebte Lottchens Bild wieder im Menschenstrom), »sieh hin, das ist die, die ich geliebt habe! Sie ist jung und schön. Sieh ihr Haar an! Die Sonne versteckte so gern ihre Strahlen darin. Als Mutter Natur ihr liebstes Kind ins Erdental verstieß, gab sie ihr dies Haar als Schmuck. Die Menschenkinder mußten doch wissen, woher sie komme. Und alle Augen sind mit Liebe über die Pracht dahingegangen, meine zumeist. Alle Hände haben es streicheln und kosen wollen, wenigen ist es vergönnt gewesen; aber von den wenigen taten es diese zumeist.« Er erhob beide Hände; sie waren alt und faltig und mager.

»Wohl ihnen!« sagte der jung« Mann.

»Nein, weh ihnen! Und weh ihrem Eigner! Ich habe die, deren Bild du siehst, in Unehre gebracht und in den Tod gejagt.«

Der junge Herr sah verstört aus und – schwieg.

»Und ich habe sie doch immer geliebt«, fügte Peter Bendix hinzu.

Er sah den nicht mehr, mit dem er sprach. ›Weh‹, dachte er, ›wenn die Posaunen des Ewigen blasen!‹ Er stand und stand, und ihm war, als habe der junge Mann, der anfangs verstummt war, zuletzt gesagt: »Weh dir, Alter, wenn die Posaunen des Ewigen ertönen!« Ja dann, o dann! Wenn der Trompetenstoß zum Weltgericht über das Erdreich hallt, dann, o dann! Und er sah um sich, und der Himmel war finster und dunkle Donner rollten herauf.

»Ik glöv; dat ward ni so slimm, dat Weller holt sik.«

So oft der Zwischenredner hineingesprochen, war es zu Peter Bendixens Ärger geschehen. Nun aber senkte sichs wie Trost in seine Seele. ›Steht auch für mich im Buche des Ewigen ein Wort der Vergebung? Und wird das, was dräut, werden Wetter und Donner und Wolken vor seinem Atem vergehen? Und wird seine Sonne wieder über meinem Haupte scheinen?‹

Eine weiche Stimme antwortete der knarrenden: »He is jung, dor smeckt de Slap so söd.«

›Jung‹? War er wieder jung? Wollte der Herr Wunder und Zeichen an ihm tun? Die wieder lebendig machen, die er getötet hatte? Ihm und ihr die Jugend wiedergeben? Die Jahre, die gewesen sind, auslöschen und in den Abgrund der Ewigkeit versenken? Den Tag wieder heraufführen, wo sie an der Mahlgrube standen, den Glanz seiner Sterne noch einmal über sie ausgießen? Ihnen ein Nestchen herrichten wie das Schulhaus Holle, ihr junges Glück zu bergen?

Ein wohlig Gefühl überkam ihn. Und da deuchte ihm, er sei wieder im Garten des Schulhauses, sei aber allein und mustere allein die Beete.

Da hat Lotte recht. Vor den Fenstern müssen Rosen stehen, gelbe mit dem großen Samtblatt. Aber auch ein paar rote dazwischen, das wird sich gut machen. Erbsen und Bohnen kommen nach dem andern Ende hin, und die Kartoffeln nach der Koppel. Eine Tonne Roggen oder gar zwei weniger, das muß sich helfen. Dafür schreib ich Bücher und schreibe für Zeitungen. Und das bringt leicht zwei Tonnen Roggen ein.

 

»Ja, denn will ik mal rop«, knarrte der alte Schütt. Er saß im Erdgeschoß unter dem Bett seines Sohnes und plauderte mit Frau Richelsen.

»Das tun Sie man«, entgegnete diese. »Es wird auch Zeit zum Schulhalten. Nun können Sie ihn dreist aufwecken.« Ein schwerer Schritt kam die Stiege herauf. Auf jeder Stufe stieß ein guter Stock seinen Herrn nach, und gleich darauf saß der Alte an Peter Bendixens Bett und schalt ein bißchen ernsthaft, zur Hauptsache aber scherzhaft auf den Langschläfer. ›Tasso ‹lag am Fußboden, und die Lampe schwelte.

»Jung, Peter«, sagte sein Vater. Die Pfeife hatte er in der Linken (es roch nicht schön, was er rauchte), mit der Rechten putzte er sich die Nase. »Steist ümmer so lat op? Opn Scholhoff ward dat ni gahn. Wat opn Dörpen en richtigen Scholmeister is, de schafft as en Bur.«

Bei dem Zusammentreffen im Schulhaus war besprochen worden, daß der Alte in der nach Osten gehenden Gartenstube wohnen werde. Es müsse aber noch ein Ofen gesetzt und ein Rauchfang gemauert werden. Halb wollte der Vater die Kosten tragen, die andere Hälfte wollte er gerne auf die Schulgemeinde, deren Grundstück dadurch doch auch verbessert werde, abwälzen, und sein Sohn sollte ein Gesuch aufsetzen.

Nun kam der Alte, dies zu verhindern. Er wollte überhaupt nicht mit, er wollte bei seinem Hans Jürgen bleiben und sich ein Altenteil ausbedingen.

»Warum?« fragte Peter Bendix. Er mußte der Wirklichkeit hart ins Auge sehen, um an seine Jugend zu glauben. »Warum?«

»Ja, min Jung, ik will seggn, as mi ümt Hart is. Büst min goden Jung, un Lotte is min leeve Dochder, awer ik glöv, wi paßt ni tosam.«

»Hett Lotte di wat dan?«

»Dan hett se mi nix. Awer dat mit de Rosen, un denn ümmer hodütsch. Se is mi to fein. Un du, Peter, büst mi ok to fein.«

»Hest wull gans recht, Vadder!«

»Ik hev vör Nacht weni Slap kregn, un hev mi dat all dördacht. Un süh – dor is dat ok mit dat Smöken. Un dat is eerst recht son Sak. Ik smök roden G, un den kann se ni verdregen. Ik hev dat god markt, wo se de Näs trock, wenn ik mit min oln Brœsel ehr to neeg keem. Un Portoriko will 'k mi ni eerst anwenn. Dat kann se ni verlangn.«

Peter Bendix lachte und nickte.

»Un denn is dat anner mi ok ni rech to Paß. Twintig Minuten sünd dat wiß na dat een Dörp un ebenso wid na dat anner. Un man ward jo ümmer öller. Un denn kenn ik de Lüd dor ok jo ni so genau. Nä, dorüm will 'k mi leever in min Dörp to Dod smöken.«

»Ja, ja, Vadder, dat hest du god bedacht.«

»Un denn, du büst 'n Widlöftigen, Peter Bendix. Wakeen weet, wo lang du dor blivst. Treckst wull gar int Utland oewer de Eider or oewer de Elw. Un ik schall as son ol Wrak mit. Nä, min Jung, dor smök ik mi leever op min eegen Hofstell to Dod.«

»Vadder, schall ik di mal wat seggn? Wat min Vadder sin Soehn sin Ol is, dat is en höllisch klöftigen Kerl!«

 

Der Vater war gegangen, es war Nachmittag geworden, und Peter Bendix wollte eben seinen Handstock nehmen, um seiner Braut einen andern Peter als den von gestern, einen neuen, wiedergeborenen, zu bringen, da legte der Postbote ihm ein amtliches Schreiben in die Hand, worin angefragt wurde, ob er sich um die Schulstelle zu bewerben gedenke. Für diesen Fall wurde sie ihm in sichere Aussicht gestellt. Er las, nickte und schrieb sofort das erwartete Gesuch.

Und dann ging er zuerst nach der Mahlgrube und sah eine Weile hinab. »Dummer grüner Kerl, kannst lange lauern, die Lotte kriegst du nicht. Ihr Bräutigam ist vernünftig worden, er mußte sich nur mal ordentlich zusammennehmen. Und als er das getan hatte, da fand er sich als einen hausbackenen, glücklichen und zufriedenen Mann.«

›Tropf, Tropf!‹ erwiderte der Grüne.

»Und weil du ›Tropf, Tropf!‹ sagst und sonst nichts, einsilbig bist und daher auch, wie ich annehme, gut schweigen kannst, will ich dir auch was verraten. In ganz kurzer Zeit machen Lotte und ich stille Hochzeit.«

›Tropf, Tropf!‹

»Aber nicht weitersagen!«

›Tropf, Tropf!‹ versicherte der Grüne. Und es klang ruhig hinab und schwang sich ruhig im Granitschacht wieder herauf.


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