Timm Kröger
Leute eigener Art
Timm Kröger

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Im Nebel

Feuerfunken fliegen fünfhundert und, wenn es hoch kommt, tausend Schritt, hat der alte, nun schon lange verstorbene Gottfried Ruhsert gesagt, als er den Platz für den Neubau seines abgebrannten Hofes wählte. Die tausend (das macht genau zweihundert Ruten Hamburger Maß) hat er bedächtig bis zum Schröder-Haus abgezählt. Die abgebrannten Gebäude sind näher gewesen. Gottfried Ruhsert wollte jetzt aber weiter westwärts wohnen, wo er noch mehr durch den Wald vor Wind geschützt ist.

Es traf sich, daß an passender Stelle ein Halbkreis alter Eichen stand, wie hingesetzt, einen Wirtschaftshofplatz einzurahmen. Beim Ausschachten des Baugrundes stieß man auf alte Mauerreste. Dadurch schien die Sage von dem Vorhandensein eines alten Seeräubernestes bestätigt zu werden.

Dort wuchs und erhob sich der stattliche Hof. Weit ab vom Dorf, einsam und allein. Was an Wald und Äckern rings umher liegt, gehört dazu, die Wiesen ebenfalls. Da kann nichts Fremdes hinkommen, die Wiesen bieten überhaupt keinen Baugrund. Ohne Gottfried Ruhserts Einwilligung wird nichts die Ruhe stören, die Haus und Hof so still umfängt.

Das Schröder-Haus führt den Namen vom letzten Vorbesitzer; es war früher ein selbständiges Anwesen, ist aber von den Ruhserts angekauft worden und dient jetzt als Abnahme- oder, wie man in dortiger Gegend sagt, als Verlehntshaus.

Stumm und still sehen die beiden Waldhäuser, Hof und Verlehntshaus, auf Wiesen und Moor, des Nebels gewohnt. Denn über den Sümpfen braut er des Abends immer. Und im Herbst, wenn der Tag anfängt, sich trüb und naß durch den Wald zu stehlen, ist alles in Nebel vergraben. Dann kommt es von den Wiesen und Mooren her, groß und grau – ein Riesenweib steigt herauf, einen langen, fließenden Schleier um Haupt und Schultern. Mit wallendem, weithin schleppendem Gewand steigt die Nebelfrau herauf.

 

Der vorsichtige Gottfried, der die tausend Schritt abmaß, ist der Großvater des jetzigen Besitzers gewesen. Zu den Eichen, die den neuen Wirtschaftshofplatz umgeben, hat er Linden bei den Wohnräumen, ja, eine ganze Lindenallee vom Hof nach der Verlehntskate hinüber gepflanzt. Die Linden waren zu der Zeit, wo unsere Geschichte beginnt, so groß und stark geworden wie die Eichen; der Hof sah einem zweiten Wald nicht unähnlich. Wäre nicht das Storchnest gewesen, das, dem Scheunengiebel kühn aufgepflockt, aus den Baumspitzen hervorsah, hätte nicht hier und dort ein Schornstein hervorgeragt, man hätte die in rundlichen Linien zerfließende Masse für ein wirkliches Gehölz halten können.

Bei den Ruhserts wechselten die Gottfried und Konrad. Der Besitzer zu Anfang unserer Geschichte hieß Gottfried nach seinem Großvater und hatte einen Konrad zum Sohn.

»Maleen«, sagte Gottfried eines Tages zu seiner Frau (es war die zweite Frau, und sie war die Stiefmutter von Konrad), »Maleen«, sagte er, »mit Konrad weiß ich nichts mehr anzufangen. Er ist wild und unbändig, das hat er von seiner Mutter. Die war auch so. Es liegt in der Familie. Er ist täglicher Ärger und Kummer für mich und für dich auch. Und der Schulweg nach dem Dorf hier ist weit. Weißt, was ich mir ausgedacht habe? Wir wollen ihn nach Dolensdorf geben; Martin-Ohm mag sehen, wie er mit seiner Schwester Sohn zurechtkommt. Dolensdorf ist ja just nicht so nahe bei; es ist aber gut, wenn ein Junge früh hinauskommt. Und Martin-Ohm wird ihn gern nehmen. Der Lehrer in Dolensdorf wird gelobt, da mag er denn auch die Schule besuchen.«

So kam Konrad Ruhsert nach Ohm Martin in Dolensdorf.

 

Mehrere Jahre war der junge Konrad in Dolmsdorf gewesen, er war in seinem braunen Haar groß und stark und stattlich geworden und sollte bald eingesegnet werden.

Und es war um die Zeit, wo die Winterschule wieder begonnen hatte. Mittags war es, und die Mittagspause war noch nicht vorbei, da saß die große, blonde, die hübsche, die frische Anna Offen auf ihrem Platz und weinte. Er war ihr ein schändlicher Streich gespielt worden. Sie hatte sich morgens ein neues Schönschreibebuch beim Höker gekauft. Und wie sie es eben vom Tischbord nehmen will, ist es ganz schwarz und naß und voller Tinte. Wer hat ihr das angetan?

Ihre besten Freundinnen? Trina und Elsbe heißen sie. Besten Freundinnen ist zwar nicht zu trauen, aber das kann sie doch nicht glauben, daß sie das getan haben. Die Tränen werden loser und schwemmen viel Gedankenunrat hinweg; dabei wird es ihr klar: das hat kein anderer als Konrad Ruhsert getan.

War er nicht der Generalbösewicht? Hatte die Schule nicht ungefähr jede Woche den Anblick seiner Abstrafung? Er miaute in der Klasse, er brachte Mäuse mit in die Schulstube, er warf Klaus Stürkens Schubkarren in den Brunnen und verübte noch eine ganze Menge Schandtaten ... gar nicht auszuzählen. Ihr selbst hatte er Maikäfer in die Tasche gesteckt, Regenwürmer in den Nacken fallen lassen. Auf dem Kinderfest hatte sie auch gar nicht mit ihm getanzt.

Allmählich überwand Anna Offen den Schmerz. Sie konnte ruhiger an den Verlust ihres Schreibheftes denken. Eine weiche, versöhnliche Stimmung blieb zurück. Sie wollte ihn nicht anzeigen. Nein, das wollte sie nicht.

Konrad Ruhsert hatte doch auch seine guten Seiten. Alle Knaben waren blond, er allein hatte braune Augen und braunes Haar. Und wie mutig er war! Hatte er nicht ganz allein den fremden tollen Hund mit seinem Knüttel totgeschlagen? Hatte er nicht noch gestern Christian Franzens Pferde, als sie durchgingen, zum Stehen gebracht, indem er sich in die Zügel warf und sich schleppen ließ? Und, was die Hauptsache war: er mochte sie leiden, das hatte sie längst gemerkt. Die Regenwürmer, die Maikäfer, auch die Tinte, alles sprach dafür. Nein, sie wollte ihn nicht anzeigen.

Aber wenn der Schulmeister kommt und die Hefte nachsieht?

Auf einmal stand der Übeltäter in Person vor ihr. »Heule nicht«, sagte er, »mach nicht son Geschichte davon, ich habs getan!«

Anna wurde von den letzten Schluchzern geschüttelt.

»Habs nicht bös gemeint, will dir ein Schreibbuch wieder kaufen.«

»Hast Geld?« brachte die Schmerzensreiche hervor.

»Ich hab keins, aber ich mach was.«

»Kannst das?«

»Das kann ich.«

»Und wenn der Schulmeister fragt?«

»Dann melde ich mich.«

»Dann kriegst du Haue.«

»Macht nichts.« Seine Miene setzte hinzu: ›Ich bin es gewohnt.‹

Konrad tat, wie er gesagt hatte. Bei der ersten Frage wuchs er aus seiner Bank heraus und bekannte. Da war denn nicht zu helfen, da mußte er mal wieder was haben.

Seine Abstrafungen bildeten ein rechtes Kreuz für den Schulherrn. Erst hatte er geglaubt, mit der Rute auszukommen, nun war er schon längst beim Stock.

Konrad nahm die Prügel mit Gelassenheit hin. Wir lesen sogar in des Unbands Seele: ab und zu war es ihm ganz recht. Müßige, ungebundene Kraft verführte ihn zu Streichen, deren Hauptreiz in der Gefahr bestand, entdeckt und bestraft zu werden. Er wäre sich nicht ganz ehrlich vorgekommen, wenn dem Wagnis niemals das Malör gefolgt wäre.

»Stopf dir Schreibbücher unter die Weste!« riet ihm sein Banknachbar und Genosse im Abgeprügeltwerden, Peter Lange. »Das klatscht tüchtig, aber man fühlts nicht.« Das wollte Konrad nicht, das hat er immer abgelehnt.

Als Konrad sich gemeldet hatte, seufzte der Lehrer: »Ja, Konrad, denn hilft das nicht, denn müssen wir mal wieder!«

Der Bakel (er lehnte, wenn er nichts zu tun hatte, beim Pult am Ofen), der mußte heran. Aber die Hand, die ihn führte, war lässig, und der Bakel auch. Konrad hatte Heldentaten verrichtet, er hatte seine Missetat eingestanden; beide, Hand und Bakel, waren zum Prügeln nicht aufgelegt. Weich und sanft und rücksichtsvoll langte der Stock auf Konrads Jacke an. ›Duff, duff – laß die Streiche sein, mir zuliebe, ich schlaf am liebsten zwischen Pult und Ofen!‹ So sprach der hölzerne Zuchtmeister, so ungefähr klangen auch die Mahnungen aus, die der Lehrer folgen ließ.

Konrad aber, noch immer auf dem Hinrichtungsplatz im Steig zwischen Knaben- und Mädchenbänken, faßte mit beiden Händen seine Jacke in der Kragengegend und schüttelte, wie man Motten aus dem Pelz schüttelt, so schüttelte er Warnungen und Schläge ab.

An demselben Nachmittag mogelte er im Läuferspiel und gewann einen silbernen Sechsling im Wert eines halben Schillings. Beim Schmied nahm er einen Hammer und klopfte den Sechsling auf dem Amboß platt, nun war es ein Schilling. Mit diesem Schilling ging er zu Krischan Lerch, der rechts von der Diele Hökerwaren, links aber Schreibsachen verkaufte, und erstand ein neues Schönschreibebuch. Das neue Schönschreibebuch übergab er folgenden Tags Anna Offen.

Sie machte große Augen. Ein Schilling war in Anna Offens und Konrad Ruhserts Umgangskreisen eine Seltenheit. »Jung, Konrad, wo hest den Schüllnk her?«

Konrad lachte. »Ik segg jo, ik kann Geld maken.«

 

Martin-Ohm war ein Phlegmatiker: er war der Ansicht, daß sich alles zurechtlaufe, daß man an jungen Bäumen und an jungen Menschen nicht zu viel herumschneiden und herumerziehen müsse. So fiel denn die ganze Mühe, unsern Konrad auf den rechten Weg zu führen, in Wirklichkeit dem alten Lehrer und seinem Bakel zu.

›Wie komme ich dazu, ein Kind auf den Tugendweg zu bringen, das nicht mal zur Gemeinde gehört?‹ fragte der Bakel, wenn er wieder aufgestört wurde. ›Wie ich dazu komme, will ich wissen. Bin ich dazu verpflichtet? Und weshalb der Schulmeister sich darauf einläßt? frage ich.‹

Weshalb der Schulmeister sich darauf einließ? Der Bakel konnte es nicht wissen. Er wußte nichts von den Sorgen und Nöten des mit Kind und Kegel reichlich versehenen Schulmeisters; er wußte auch nichts von der Butter, die von Konrads Alten in des Meisters Keller wanderte, nichts von dem Schinken, der so vorzüglich schmeckte, nichts von Würsten und anderen Herrlichkeiten. Er hörte auch die Musik nicht, die so ein Stapel Talerchen macht, fingerfertig ... kling ... klang ... kling ... klang ... aus der Rechten in die Linke gezählt und dann (Gott, was ists für ein Ton!) schwer und vollwichtig auf die Tischplatte gesetzt. Und nicht das schüchterne, silberne Finale: die Schatulle ist geöffnet, die Klappe zurückgeschlagen. Der Stapel wird genommen, leise klirrt er in der Hand ... ganz leise ... kling ... klang ... wandert er in die Schatulle. Klipp, klapp, schließt der Deckel, der Schlüssel bohrt im Schloß. Nun ist alles aus und aller Glanz vergraben.

Dem Bakel war das alles unbekannt, aber Konrad ist einmal dabei gewesen, wie der Ohm dem Schulmeister die Taler aufzählte; er hat es niemals vergessen können.

 

Als Konrad Ruhsert eingesegnet war, lag das Leben, lag die Zukunft wie ein großes Fragezeichen vor ihm. Bei ihm war alles fraglich. Sein Charakter, sein ganzes Wesen gab der Rätsel genug auf.

Vor der Hand blieb er bei seinem Ohm im Dorf ... mehrere Jahre. Dann trat auch Anna Offen dort in Dienst.

Sie wurden Liebesleute, sie wollten sich heiraten.

Die anderen jungen Leute in Dolensdorf mochten Konrad nicht, sie mochten namentlich sein Gesicht nicht. Er hatte auch eigentümliche Augen. Sie zeigten so viel Weißes. Wenn er seine Pläne machte (er hielt sie geheim und zeigte sie keinem Menschen), lag was Verkniffenes und Lauerndes darin.

»Mach nicht son Gesicht!« rief Anna, »da wird einem ja bei graulen.«

»O du!« erwiderte er und umarmte seinen Schatz. Oder vielmehr: er umspannte ihren Hals, die Finger in ihrem Nacken, die Daumen unter dem Kinn.

Es ist eine wunderliche Sache mit den Frauensleuten. Konrad meinte es so gut, er meinte es in dem Augenblick wirklich gut. Er wollte zärtlich sein und dabei Spaß machen. Und nun tat sie, als wenn es ans Leben gehe. Sie weinte und schrie, in ihren Augen lag viel Schrecken und Angst.

Er ließ sie los. »Deern, was hast denn, wie tust und tierst dich?«

»Ach, mein Konrad! Tu das niemals wieder! Ich hab so Angst vor deinen Fäusten.«

»Darf ich denn das?« lachte er und riß sie an sich und küßte sie, bis ihn die Atemnot des armen Mädchens rührte.

 

Und der Hof seines Vaters sah Jahr um Jahr. Wenn es zum Herbst ging, wurde das Eichenlaub welk und rot, die Linden aber schütteten Blatt für Blatt in immer reinerem Gold hinab.

Einstweilen läßt der Bauer es liegen. Nach sparsamer ländlicher Art wird erst aufgeräumt und gesäubert und gefegt, wenn die Bäume nichts mehr hergeben. Im bunten Herbst schreitet der Bauer vom Hof nach dem Verlehntshaus auf moderndem Gold.

Und der Bauer auf dem Hof heißt Konrad.

Es ist recht lange her, seitdem er die letzten Schulprügel erhalten hat – eine Reihe von Jahren, seitdem er Anna Offen mit seinen großen Händen umhalst hat.

Was aus Anna Offen und aus ihrem Kinde geworden ist? Genau weiß er es nicht. Vermutlich dient sie bei fremden Leuten, und das kleine Mädchen ist ausgetan.

Als die Folgen ihrer jungen Liebe nicht mehr zu verbergen gewesen sind, hat er sie ehrlich machen wollen. Aber der Vater hat nicht gewollt. Der Vater hat den Beutel gezogen. Konrad war schwach; seinem Vater gegenüber versagte seine Liebe und auch sein Mut. Und doch hat er die Anna gern gehabt, hat sie wirklich geliebt.

Als die Zeit gekommen war, hat er sich auf Befehl seines Vaters passend mit einer reichen Bauerntochter verheiratet, Mutter und Kind aber im ersten Wochenbett verloren. Mit den Verwandten hat er um die Erbschaft prozessiert und den Prozeß verspielt. Nun ist er Witwer.

Im ersten Witwertum hat er an Anna gedacht, es dabei aber bewenden lassen. Sein Vater war krank, ein Aufkommen nicht mehr möglich, nach dessen Tode war er frei, wirklich frei. Aber die Krankheit zog sich hin. Als der Alte gestorben war, schob Konrad auf. Er war, ohne sich recht klar darüber geworden zu sein, anderen Sinnes geworden. Sein Seelenzünglein hatte lange Zeit senkrecht zwischen Eigennutz und Edelsinn eingestanden, nun war es nach links geschlagen, nun dachte er nicht mehr so wichtig und tief von seiner Jugendliebe. Und weil das Zünglein nach links geschlagen war, hatte er die Lust an Streichen und Listen verloren. Dafür war er düster und schwer und brütend geworden.

Zum Vater hatte sich niemals ein ganz harmonisches Verhältnis gestalten wollen. Hatte der Alte ihm das über das Grab hinaus nachgetragen? Nach Eröffnung des von dem Vater und der Stiefmutter gemeinschaftlich gemachten Testaments blieb unserem Konrad jedenfalls nicht mehr als ein bis zur Leistungsfähigkeit beschwerter Hof.

Die Stiefmutter saß im Verlehntshaus – fünf Kühe im Stall, für die die fetteste Weide und das beste Heu vorweg genommen war. Dazu die Korn-, die Kartoffel-, die Feuerunglieferung, die Hand- und Spanndienste, Gartenland und Flachsland ... und was sonst an hundert Teilen im Haushalt einer Verlehntsfrau gebraucht wird. Das wäre noch zu leisten gewesen, das und Ähnliches hatten andere auch. Aber so lange die Mutter lebte, bezog sie alle Zinsen. Was er als Stellbesitzer alljährlich am ersten November an die alte Frau zu zahlen hatte, war ein erheblicher Betrag.

Die alte Stiefmutter war kein böses Weib, Konrad hatte sich immer besser mit ihr als mit dem eigenen Vater gestanden. Aber die Zinsen wollte sie pünktlich haben. Darin hatte sie ihren eigenen Sinn. Der Sohn klagte ein paar mal: »Mutter, kannst du mir das Geld dies Jahr nicht lassen? Ich brauche es, und du hast es nicht nötig, bei dir liegts im Kasten.« Aber das half nicht. »Nein, mein Junge!« sagte sie. »Da kann nichts aus werden. Dein Vater hats gewollt; ich spars für dich. Wenn ich tot bin, bekommst du alles. Zu gut müssen junge Leute es nicht haben, Ruhe und Wohlleben ist fürs Alter.« Einmal hatte er vierzehn Tage in den November hinein gewartet. Das probierte er nicht wieder. Er bekam einen Brief von einem ›Kerl von Advokaten‹ und mußte Kosten zahlen. »Sünde ist es«, murmelte er, aber er zahlte.

Konrad Ruhsert entdeckte an sich Liebhabereien, die ihm nicht gefielen und denen er doch nachging. Von der Knabenzeit her (es war ihm bei Aufzählung der Taler an seinen Lehrer zum Bewußtsein gekommen) liebte er den Klingklang des Silbers. Hatte er einmal einen Haufen zusammen, bei dem es sich lohnte, so schloß er sich ein und zählte, und zählte immer wieder ... Stunden hindurch. An solchen Tagen waren seine Lippen von einem warmen Lächeln übersonnt, dann hatte das Gesinde mit dem sonst so ernst und mürrisch auftretenden Bauern gute Tage.

Solche Sonnentage konnten freilich die Leidensgänge der Zinstermine nicht wettmachen. Schrieb man den ersten Tag im November (in der Regel war es graues, trübes Wetter), dann ging er mit schwerem Herzen und schwerem Beutel auf weichem, schlüpfrigem Goldlaub die Lindenallee zur Alten hinunter und zählte seine Taler hin, bildete sich aber noch im Augenblick des Hinzählens ein, daß sie im Grunde ihm gehörten und ihm zu Unrecht genommen würden. Diese ihm genommenen Taler wurden dann in den sattsam bekannten Blechkasten der Alten hineingeschüttet und wanderten mit dem Kasten und in dem Kasten in die Schatulle.

Der Kasten hatte ein abgesondertes, durch ein Kunstschloß gesichertes Fach, und über alles legte sich die breite Klappe. Da hatte Mutter ihren Hausbrief, worin das Verlehnt beschrieben war, eine Testamentsabschrift und andere Papiere. Was für Schätze sonst wohl noch? Ob das Fach gar Staatspapiere barg? ... Der Handelsmann Nathan ging bei der Mutter aus und ein. Nathan gehörte zu den Agenten, die äußerlich nicht gerade Vertrauen erwecken, nichtsdestoweniger aber Vertrauensperson einer ganzen Gegend werden. Der Bauer wußte, daß Nathan Zinsscheine für die Mutter in der Stadt verkaufe. ... Es waren sicher Staatspapiere in dem Kasten.

 

Und wieder schrieb man den ersten November. Bauer Konrad war mit seinem Beutel bei der Mutter. Er hatte ihn auf den Tisch gestellt.

Mit seiner großen Hand griff er hinein und wühlte und stieß unter den klingenden Dingern herum, als ob er die, die er doch so sehr liebte, aus Herzensgrund hasse. Dann zog er sie herauf, seine große Hand, eine geschlossene, eine Hand, der man ansah, wie ungern sie das hergab, was sie hielt – eine geballte Faust voll von strotzendem Silber. Und er fing an zu zählen ... kling ... klang ... Taler um Taler. Sie glitten zwischen Daumen und Zeigefinger aus der Rechten in die Linke, stets mit dem weichen, kurzen, selbstvertrauenden, fragenden Aufschlag harter Silberstücke.

Und auf der Tischplatte wuchs Stapel um Stapel. Der Leinenbeutel wurde klein und schlaff, es faltete sich Runzel um Runzel. Schließlich war er nur noch eine Haut. Und Konrad nahm die Haut, schüttelte sie (es war nichts mehr darin), rollte sie zusammen und steckte sie in die Tasche. »Da hast du deinen Willen, Mutter, nun zähl nach!« brummte er, und sein Atem ging kurz.

Und Mutter zählte nach. Sie war froh, die Sache in Richtigkeit zu bekommen. Breit und feierlich, wie zur Andacht, zum heiligen Werk, setzte sie sich in den Lehnstuhl am Geldtisch. Neben sich den Blechkasten. Mit gespreizten Beinen saß sie da, aus Schürze und Röcken wurde eine Grube. Mit einer Art Jubel fielen und sprangen die Taler hinein. Voll und stark schlugen sie auf. Bei ihm selbst war es ein schmerzvoll verhaltener Ton gewesen, nun klang es wie Gesang protzenden Wohlbehagens. ›Mein ist die Kraft und Herrlichkeit!‹

Konrad erbebte. Es war das alte Lied, er kannte es schon von der Schulzeit her, das Loblied der Selbstgerechtigkeit, der Eigenliebe, das Klingen selbstgefälliger Taler. ›Kling, klang!‹

Die Mutter war genau. Mit langen, mageren, zersponnenen Fingern hielt sie ihm einen Taler fremder Prägung vor die Nase. Den kannte sie nicht, den wollte sie nicht, sie wollte einen richtigen preußischen. Er griff in die Tasche, er hatte noch einen einwandfreien Preußen.

So kam alles in Ordnung. Lärmend rollte der Silberlinge Heer in die Kassette. Und die Alte trippelte damit zur Schatulle. Die Klappe wird zurückgeschlagen, nochmals ganz leise ... klirr ... klirr ... Nun steht das blecherne Ding in der Schatulle, und nun ist auch die Klappe geschlossen.

Dem Bauern kamen wunderliche, unheimliche Gedanken. Er wollte sie nicht, er war ärgerlich, ja, er war bestürzt, daß sie kamen. Aber er mußte die Gedanken denken, die seinem Wesen entsprachen.

Er erinnerte sich, wie er einmal als kleiner Knabe seinem Vater aus derselben Schatulle, die seine Taler aufgenommen hatte (sie stand damals in Vaters Wohnstube), einen Schilling und ein ander mal zwei Zigarren gestohlen hatte. Die Klappe hatte er mit einem Schlüssel aufgekriegt, der jetzt noch auf dem alten Kleiderspind steckte. Er hatte sie freilich nicht wieder zuschließen können, aber sein Vater hatte angenommen, es sei vergessen worden, sie zuzumachen. Es war nichts entdeckt worden, und nichts war an den Tag gekommen.

Es ist eigentlich gefährlich, dachte er weiter, gefährlich für eine alte Frau, allein mit einem Dienstmädchen bei so viel Geld im Hause zu schlafen. Böse Menschen, die fremdes Eigentum nehmen, gibt es genug. – Es ist wirklich gefährlich. Es kann ja zum Beispiel nur vergessen werden, die Kuhstalltür zuzuketten, und der Dieb ist drin. Und so eine Schatulle ist auch nicht von Eisen und Stahl; die soll schon hergeben, was sie hat. ... Wenn man einen Schlüssel hat, der dazu paßt, dachte er ganz heimlich hinzu, ist es die einfachste Sache von der Welt.

Die alte Frau saß wieder am Ofen und ließ ihr Rad schnurren ... Konrad war in Gedanken und stumm. Die Pfeife hing ihm kalt am Mund.

»Konrad, du smökst je gar ni! Stopp doch mal in!«

In jeder Bauernstube steht ein Tabakskasten zum allgemeinen Gebrauch, einerlei ob ein Raucher im Hause wohnt oder nicht. Eine Pfeife Tabak ist man jedem schuldig. Bei Frau Ruhsert war einer von gelbem Messing, ein feiner stählerner ›Piepenporter‹ hing mit sauberer Kette daran.

Konrad stocherte damit in den Pfeifenkopf, er ließ die Asche fallen, er blies den Kopf aus und stopfte. Er fing auch ein Gespräch an. Es war der erste November – Dienstbotenwechsel. Eine Trina ging bei der Mutter ab, bei dem Nachbarn einzutreten, ein anderes Mädchen sollte wieder kommen. Die Mutter wußte weder ihren Namen noch den Ort, wo sie herkam; Weber-Hans hatte alles besorgt.

Plötzlich durchfuhr es den Bauern. Die Mutter hatte hingeworfen, die Neue habe Order geschickt, sie könne erst morgen früh kommen. Die Mutter wird also diese Nacht allein sein. Sie schläft in der Kammer, sie ist harthörig und hat einen festen Schlaf. Wars ein Zeichen des Himmels oder der Hölle? Gleichviel, es war ein Zeichen. Er mußte tun, was er so ungern tat, was er nicht wollte und doch nicht lassen konnte, was zu tun er bestimmt war. Er mußte es tun, es stand in den Sternen. Übrigens eine Übeltat war es bei Licht besehen nicht, vor Gott war das Geld sein rechtmäßiges Eigentum. Er wollte es in der Nacht wieder holen, es war kein Unrecht.

Er hatte das Gefühl: du darfst es nicht zulassen, daß die Mutter die Nacht allein im Hause zubringt. Aber die Klugheit, die Habgier, ja, es war seine ganze Seele, widerrieten ihm: ›Tu das nicht, sag nichts! Du verdirbst den ganzen Plan!‹ Er fühlte die Verpflichtung, sich selbst als Wächter anzubieten, der Mutter zu sagen, er wolle in der Mädchenkammer schlafen. Aber es erhob sich dieselbe Seele: ›Sie könnte es annehmen, tu das nicht! Sag nichts! Tu du man ruhig, als wenn nichts dabei wäre, daß die alte Frau eine Nacht allein im Hause ist!‹ Er wußte es, er sagte sich: ›In diesem Augenblick gehst du sittlich zugrunde. Da du den Entschluß zu solcher Tat fassen kannst ... dann ... ja ... dann ist alles aus.‹

In eigentümlicher Bewegung, halb weich und halb verstockt, stand er vor seiner Mutter: »Es soll dir gut gehen, Mutter«, sagte er und drückte ihre Hand, so warm und fest, wie er noch niemals getan hatte.

»Was hast du, Konrad?« fragte die Alte. Aber er war schon aus der Stubentür. »Komm wieder!« rief sie ihm nach.

Der Bauer war auf der Diele, ging aber nicht gleich hinaus. Er begab sich in den Kuhstall und besah die Kühe und löste dabei unversehens die Ösen von den Haken, oben löste er sie und auch unten. Er probierte ganz leise: nun war die Tür offen und frei. Als er zwischen den stöhnenden und wiederkäuenden Tieren hindurch auf die Diele zurücktrat (man kann es nur, wenn man sich bückt), vergaß er, die Tür wieder in Ordnung zu bringen.

Die Alte kam gerade aus der Stube, in der Küche nachzusehen. »Ich hab deinen Viehstapel revidiert, Mutter!« schnitt er ihre Frage ab. »Ein Staat ists. Zumal Wittfoot ... die ist ja plummenfett.«

Das paßte der alten Frau. Sie lachte. »Nun ja«, sagte sie, »es geht so an. Freilich so wie große Bauern können Verlehntsleute es nicht.«

 

Es folgte die Nacht, eine trübe, schwarze Novembernacht ... In der schwarzen Novembernacht geschah die unerhörte, die schwarze Tat.

Witten Scheff – sie kam zu der alten Frau Ruhsert früh morgens zur Aushilfe. Als sie wie immer durch die Hintertür (sie hatte den Schlüssel dazu) ins Haus kam, fiel ihr nichts auf. Sie machte Feuer auf dem Herd, hängte den Kessel über und heizte den Beileger der Wohnstube von der Küche aus. Dann holte sie wie sonst den Speisekammerschlüssel aus Frau Ruhserts Schlafgemach. Auf leisen Socken, bei flackerndem Licht.

Die Alte schien zu schlafen, wurde aber durch den Schein geweckt. »Büst du dat, Witten?« Die Antwort wartete sie nicht ab, sie nahm die andere Seite und schlief weiter. Zur Winterszeit blieb sie immer bis zehn Uhr im Bett.

Witten Scheff kochte Kaffee, setzte sich das Frühstück zurecht und aß. Sie aß und trank in aller Ruhe. Sie glaubte, mit der Alten allein im Hause zu sein, und fühlte sich als Herrin.

Sie ging zum Aufräumen in die Wohnstube, die trübe, unbedeckte kleine Lampe in der Hand.

Was ist das? Die Schatulle offen, die Klappe zurückgeschlagen? Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen. Rechts in der Schatulle, da ist das Fach für den Blechkasten. Was für 'ne Geschichte, man kann ja in Verdacht kommen! – Sie leuchtet hin, der Kasten ist nicht da. – Ein blanker, wie in der Hast und im Dunkeln verschütteter Taler liegt auf der Klappe, dicht am Rand, und sieh! ein zweiter, ein dritter und noch einer ... am Fußboden ... Witten schlägt in sich: hier ist eingebrochen worden, hier sind Diebe gewesen.

Es wird ihr unheimlich, mit aufgeregter Hand leuchtet sie überall umher. Die Dunkelheit gähnt sie aus den Ecken an, als wolle sie Ungeheuer ausspeien ... Witten will weg, Witten will Leute holen ... Witten ... nur noch einen Blick ringsum! ... Sie erschrickt auf den Tod ... Da in der Ecke liegt etwas, es scheint ein Mensch ... Es ist ein Mädchen, ein Mädchen im bloßen Hemd.

Witten Scheff faßt sich ein Herz und leuchtet ... Sie leuchtet einer Toten ins Angesicht.

Was kreischt und lärmt auf dem Hof?

Witten ist in ihrer Angst, in der Aufregung hin zum Großknecht gelaufen; zwei Bauern, die zur Stadt wollten, fuhren just vorbei. Im Nu ist ein Haufen prahlender, schreiender Leute beisammen.

Der Bauer schlief in dem neugebauten Flügel. Er hörte alles, er war wach. Er wußte gar nicht, daß er fieberte, daß ihm die Pulse klopften. Er fühlte sich so kalt, so ruhig, so hart wie ein verstocktes Gewissen. Seine Tat war zwar riesengroß über das, was er geplant hatte, hinausgewachsen, nun aber galt es, sich mit dem, was geschehen war, abzufinden.

Ein Mensch, ein Mädchen, wahrscheinlich das neue Mädchen, hatte ihn überrascht, hatte geschrieen. Er hatte sie nicht gesehen, es war eine dunkle Tat gewesen, die er ausgeführt hatte, und im Dunkeln war es geschehen. Ob er sie hatte töten wollen, ob er sie getötet hatte, er wußte es nicht. Er hatte die, die ihn gesehen und erkannt hatte (sein Lichtstümpfchen war sofort erloschen), zum Schweigen bringen wollen. Nun schwieg sie. Er wußte nicht, wie sie ausgesehen, die ihm entgegengetreten war, er kannte sie nicht; es war ihm auch einerlei, wer es gewesen: er hatte sie zum Schweigen bringen müssen, und er hatte sie zum Schweigen gebracht ... Mit seinen großen Hängen hatte er sie umhalst, die Finger um den Nacken, die Daumen am Kehlkopf. Die Daumen hattens getan, die hatten gedrückt, die hatten gepreßt, die hatten ihre Pflicht getan ...

Draußen lärmte es. Er verstand, was die tobenden Leute aufregte. Er wußte, daß sie in wenigen Minuten vor seinem Bett sein würden. Er fühlte sich entschlossen. ›Gut‹, dachte er, ›laß sie kommen! Ich kann ruhig sein, ich weiß von nichts. Ich kann tun und kann mich gebärden, wie sichs schickt und wie sichs paßt.‹

»Der Bauer ist der Nächste«, sprach es draußen, »der muß wissen ...«

›Sie kommen‹, sprach der Bauer für sich. ›Soll ich sagen: Ich war es, ich habs getan? Oder soll ich leugnen, nachher aber in meiner Mergelgrube mich und meine Tat begraben? Sie ist tief, und der Schilf rauscht verschwiegen darüber hin. – Was ist, entgeh ich auch dem Richter, mein Leben? Und was mein Gesicht? Mein Gesicht wird mir niemals zu eigen gehören. Zweierlei Gesichter werd ich haben, eines für mich in meinem Kämmerlein, wenn ich zerstoßen, wenn ich wahr bin (die Hölle wird an diesem Gesicht Freude haben), eines ... ein verlogenes ... ein fremdes, vorgebundenes, wie man eine Maske vorbindet, für den Mummenschanz der Welt und für die Obrigkeit. Ein Verworfener... ein Geächteter... gerichtet in Ewigkeit.‹

Das Zimmer, in dem der Bauer schlief, war über dem Milchkeller, ein halbes Dutzend Stufen führten vom Hausflur aus hinauf. Nun polterten und trampelten Pantoffeln und Bauernstiefel über die Stufen. Lärmend und aufgeregt riß man die Tür auf... lärmend und aufgeregt standen Menschen vor des Bauern Himmelbett.

Die Zuflucht der Mergelgrube blieb ihm noch immer. Der Bauer im Himmelbett war entschlossen, sein armes Leben und seine Freiheit zu verteidigen.

Mit halb erschrecktem, halb neugierigem Gesicht eines im Schlaf Gestörten richtete er den Oberkörper auf und fragte: »Nanu, was habt ihr denn?« Anders hätte er auch nicht sein können, wenn er der gewesen wäre, den zu spielen er sich vorgenommen hatte.

»Ja, mußt flink aufkommen, Konrad!« nahm einer das Wort. »In der Kate ist was passiert.«

»Was du sagst!« Ein natürlicher Schreck flog über seine Züge. »Mutter...?«

»Die Alte ist wohlauf, sie weiß von nichts, sie schläft. Da sei ruhig!«

»Was ist denn?«

»Die Schatulle ist erbrochen... was darin war, ist...«

»Gestohlen?«

»Ja ... und dann das Schreckliche, das Mädchen ... das neue Mädchen...«

»Was für ein Mädchen? Die alte ist weg, die neue kommt heute erst. Ich hätte nicht zugeben sollen, daß die Mutter allein im Hause schlief.«

»Ja, du weißt nicht. Sie ist gestern abend doch gekommen. Und...«

»Und? Was ist mit dem Mädchen?«

»Sie liegt tot in der Stube.«

Der Bauer wurde ganz bleich, als er das hörte. Da soll einer nicht blaß und bleich werden! Mord und Totschlag auf dem Hof. Ein unheimliches Feuer flackerte (wie viel Weißes hatte er!) flackerte in seinen Augen. War es ein Wunder, daß er blaß war und bleich? Als er sich erhob, flogen ihm die Hände. Was war natürlicher als das? Man mußte ihm helfen.

Inzwischen graute der Tag. Und als sie in die Verlehntsstube traten, lag die Leiche noch dort, wo Witten Scheff sie gesehen hatte, an der Südwand auf dem Fußboden. Es war ein großes, schönes, starkes, nicht mehr ganz junges Mädchen, ein Mädchen mit wundervollem Haar. Lang und golden und blond und aufgelöst war es über die Bretter hingeworfen; es glänzte im Lampenlicht.

Die Männer nahmen die Mützen ab, umstanden die Tote im Halbkreis von den Füßen her, der Bauer am Kopfende, und falteten die Hände. Und der Bauer riß die Augen auf. Er sah aus ... bleich sah er aus ... und stier ... und ... entsetzt.

»Wie heißt sie?« fragte er Witten.

»Anna Offen heißt sie und ist aus ...«

Sie nannte das Dorf, wo Konrad die Schule besucht hatte, sie nannte – Dolensdorf.

Die Behörde legte die Hand auf den Fall. Es begannen Erhebungen und Ermittelungen und hatten kein Ende und hatten kein Ergebnis. Bei dem Staatsanwalt gab es eine neue Nummer, da gab es neue Akten. Erst waren sie dünn und schlank, die Akten, aber sie nahmen zu und wurden dick und stark. Und sie waren fast immer auf Reisen zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft und Gericht und bildeten sich was darauf ein, ein schweres Verbrechen zu behandeln, und fühlten sich wichtig und wohl.

Und es verging eine lange Zeit.

Allmählich aber versumpfte der Fall. Nun wurden die Akten seßhafter und wanderten in ein Fach, das einen lateinischen Namen führte und für versumpfte oder in Versumpfung begriffene Fälle bestimmt war. Da lagen sie nun mit ihren schönen Protokollen. Es war wirklich schade, daß sie so selten gelesen wurden. Denn es gab gewiß wenig Aktenhefte, die von mehr Arbeit und Mühe erzählten und interessantere Fälle behandelten.

Als die Tat geschehen war... wie lugte sie umher, die gute Obrigkeit! – Konrad Ruhsert? ... Man dachte wohl an ihn, es gingen auch namenlose, vorsichtige Andeutungen enthaltende Schreiben ein – aber das war doch wohl gefehlt. Der Täter hatte Holzstiefel angehabt, und Konrad hatte gar keine. Der Täter war von Süden gekommen, und Konrad wohnte im Norden. Konrad galt zwar als ein sonderbarer, aber doch als ehrbarer Mann, bei ihm konnte man sich der Tat nicht versehen.

Durch die Kuhstalltür war der Täter gekommen und hatte auf demselben Wege das Haus verlassen. Die großen Holzstiefel hin und zurück konnte man im klebrigen Novemberboden auf der Landstraße durch den Wald bis zu der Stelle verfolgen, wo ein wilder Fußsteig über feste Koppeln nach dem nächsten Dorfe führt. Der leere Blechkasten war im Knick aufgefunden; von dem Inhalt ist niemals wieder was entdeckt worden.

Man suchte die ganze Gegend nach verdächtigen Personen ab. Die Herbergen, die Paß- und Heimatlosen, die von der Straße, die Wanderer, die nichts hatten und nicht wußten, wo sie ihr Haupt hinlegen sollten, hatten böse Zeiten. Viele, wurden verhaftet, viele, die sonst frei und ungehindert ihre Bettelpfennige und Brosamen vor den Türen aufgesammelt hatten, wurden, wenn auch ein Zusammenhang mit dem Morde nicht zu entdecken war, wenigstens wegen Bettelns und Landstreichens dem Gericht vorgeführt.

Und selbst für Einheimische hatte der Fall Unannehmlichkeiten. Viele arme Schlucker, gegen die weiter nichts vorlag, als daß sie das, was die Verlehntsfrau im Kasten gehabt hatte, gut gebrauchen konnten, mußten sichs gefallen lassen auf die Polizei geladen und vernommen zu werden.

Einmal, zweimal hatte es den Anschein, als ob man etwas Festes in der Hand habe. Aber es ging immer fehl. Schließlich glaubte die Behörde selbst nicht mehr, daß noch was herauskommen werde. Der Fall fing an zu versumpfen, der Rost der Zeit legte sich auf die Akten.

 

Was ist die Zeit? Weise sagen: Sie ist garnicht. Aber dem Sekretär, der die Akten bewacht, rupft sie die Haare aus und die Akten bedeckt sie mit Staub.

Wenn man die Bandknoten der Aktenbündel löst, federn die Deckel, und wie Seufzen von Mutter Themis geht es durch der Kanzlei geheiligte Räume.

Der Sekretär (als die letzten Haare auszugehen drohten, kam wie zum Ersatz der Kanzleirattitel) führt Kalender und Register, alle nett und schön und volltönig lateinisch benannt. Alle Jahre stand auch unser Fall darin. Alle Jahre wurden die Akten hervorgekramt; einmal wurde eine Belohnung ausgesetzt, einmal ein Geheimpolizist entsandt.

Die Zeit geht weiter... Die Jahreskalender machen schon einen ganzen Berg aus, zum letzten mal eine schöne lateinische Verfügung: Repon. acta!

Nun sind die Akten im Ruhestand. Im abgelegenen Raum auf einem alten groben Eichenständer, da harren sie der Stampfmühle, da harren sie der Vernichtung und ... Auferstehung.

Wartet nur, vergilbte Blätter, juristischer Weisheit voll! Einstmals werdet ihr wieder rein und fleckenlos sein, vielleicht würdigt ein Dichter euch gar der Aufnahme seines Schmerzes, der Aufnahme seiner Lust.

Von dem Hof wich selbst im Sommer kaum der Geruch von Wasserdampf. Kehrte aber der Nebelmonat ein, dann erstarrten die kahlen, verwitterten Eichen in wortloser Klage; in weinenden Liedern zerflossen die weichlichen Linden.

Die alte Frau im Verlehntshaus war gestorben; Konrad trug seine Maske mit dem Ansehen und mit dem Aussehen eines Ehrbaren.

Der Wirtschaft ist er müde geworden, seinen Hof hat er an einen Sohn seines Vaterbruders abgetreten. Das Verlehntshaus war frei, er zog aber nicht hinein. »Das ist ihm nicht zu verdenken«, sagten die Leute. »Im Mörderhaus kann einem grausen.« Konrad Ruhsert wohnt im Dorf, das verrufene Schröderhaus ist an Peter Lange abgetreten, denselben, der in der Schule den Bakel um die Frucht seiner Arbeit betrog. In dem Mörderhaus wird Gast- und Schenkwirtschaft betrieben, da wird Kümmel und Bier verzehrt. Und Peter Lange weiß nichts von Grausen.

 

Der Alte reckt seine Gestalt noch immer lang und gerade, sein Haar ist noch voll, aber es ist weiß. Wer denkt daran, wie braun es einstmals gewesen ist? Sein Gesicht... aber was ist von seinem Gesicht zu reden – das, was man sieht, was er zeigt, ist nicht das wahre... Konrad Ruhserts kleine Augensterne sind noch kleiner geworden, weiß und flackernd liegen seine Augen in tiefen Höhlen.

Er schweigt. Dreißig Jahre schweigt er. Aber die Wände um ihn herum fangen zu reden an. Was haben die jungen, aus Mörtel und Stein gefügten Wände mit der alten, verschimmelten, mit der vergessenen Tat zu tun? Was haben sie zu reden, für und für, von der Nacht, von der einen, der grausigen Nacht, von der einen, der fürchterlichen, der grauenhaften Tat? Ihr Wände aus Mörtel und Lehm, Mauern wollt ihr sein, fest wollt ihr sein und könnt nicht der Schatten wehren?

Sie konnten es nicht. Wenn Dämmerung regnete, wenn die Nebelfrau umging, dann kam sie, an die der Herr der Wände dachte... dann war die Gemordete da.

›Conrad, laß die Hand von meinem Hals! Küsse mich! Laß den Hals! Ich fürchte mich vor deinen großen Fäusten.‹

›Ich habe dich gemordet.‹

›Das hast du. Aber schlimmer ist: du mordest, du tötest Tag für Tag deine Seele. Ein Unwahrer bist du, ein Lügner, ein Falscher, ein Gottverächter. Mit deiner gemordeten Seele bist du – ein dreimal Verstockter.‹

›Ein dreimal Verstockter.‹

›Wenn du nur Mut hättest, der Welt dein wahres Gesicht zu weisen, zu zeigen, was für Kummer deine Seele trägt! Ja, könntest du nur mal weinen... weinen über die Qual, die deine Seele täglich leidet! Vielleicht wäre noch Rettung möglich.‹

 

Es dämmerte, es war beinahe dunkel, da schreckte ihn eine Stimme auf.

»Was zu schleifen?« fragte ein heller Ton in der Küche. Er kannte die Stimme.

»Was, Grete, so spät?« kam die Frage der Haushälterin zurück.

»Ja«, erwiderte die Angeredete, »Vater wills in Ordnung machen. Er ist bei Peter Lange. Ich brings morgen zurück.« Eine Kinderstimme. »Vater«, wiederholte sie wichtig, »will nach Reher und Osterstedt und Borstet, und ich soll bei Lange bleiben.«

Der Alte kannte die Stimme, es war sein Fleisch und Blut. Nicht seine Tochter (es jährte sich die Tat jetzt ja dreißig mal), es war die Tochter des von der ermordeten Anna Offen, wie die Welt sagte, in Sünde geborenen Kindes.

Eine heiße Sehnsucht nach seiner Enkeltochter überkam den Alten. Ihm war, als ob sie seine Schuld lösen könne. Er wollte rufen: »Laß sie hereinkommen!« Aber er konnte nicht.

Er hörte, wie man in der Küche schaffte, es wurde Licht gemacht. Die Haushälterin ging mit der Lampe von der Küche auf die Diele. Durch das Guckfenster, das bei der Stubentür angebracht war, fiel Helle. Sie lief über die Wände, zeigte die Bilder, die Blumentöpfe, das Sofa und blieb dicht am Fenster stehen. Man hatte die Lampe auf eine Lade gestellt. Und auf der Diele rasselte es mit Scheren und Messern. Nun war es Zeit zu rufen, Konrad wollte rufen ... aber kein Ton kam über seine Lippen.

Grete hatte ihre Scheren und Messer. Sie ging ... sie sagte »Gute Nacht« und schlug die Tür hinter sich zu. Der Alte wollte rufen, konnte aber nicht. Er hörte ihre Schritte durch den Garten, die Gartenpforte schlug an den Pfahl. Nun war es zu spät, nun erreichte sein Ruf sie nicht mehr.

Wieder fing das Licht zu wandern an, die Schritte der Trägerin kamen näher, die Tür öffnete sich, die Wirtschafterin stand mit heller Lampe im Türrahmen. »Es wird Zeit«, sagte sie, »Martinitag schummert man bis fünf. Dann gibts Licht, dann wirds hell. Zu Haus verhielt Mutter es auch so.«

Um acht Uhr brachte sie Abendbrot, es war später als sonst; sie wollte sich entschuldigen, kam aber nicht dazu. Denn, was sie wahrnahm, war zu wunderlich: der verschlossene, harte Mann saß und schluchzte und weinte.

 

Früh am Tage nahm er seinen Stock. Wenn er seinen Stock nahm, handelte es sich um lange Märsche. »Es kann spät werden«, sagte er. »Ich nehme den Schlüssel mit, stell Milch und Brot zurecht und geh schlafen!«

Man hat ihm nichts Besonderes angesehn. Fest und grade ging er dahin. In Peter Langes Wirtschaft ist er eingekehrt. Bei seinem Eintritt hat die kleine Grete eben aus geballter roter kleiner Faust vier Groschen auf den Tisch fallen lassen. »Wenns nicht genug ist, Vater will zahlen«, hat das Mädchen gesagt.

»Sie will bis morgen bleiben«, hat Peter erklärt. »Es sind fahrende Leute, aber ehrlich. – Ja, Grete«, hat er sich an das Kind gewendet, »kannst bleiben. Geh man hin und trink Milch!«

Peter Lange und seine Frau haben es nachher allen Leuten erzählt, wie der alte Mann nett und so ganz anders als sonst gewesen ist.

Er hat sich an den Tisch gesetzt und hat das kleine Mädchen an der Hand gefaßt und zu sich, herangezogen. »Magst Zwieback, wollen wir mal sehen, ob Mutter Lange Zwieback hat?« Über Kopf und Haare hat er das kleine, hübsche, schmutzige Ding gestreichelt und es unter das Kinn gefaßt. »Schönes Haar«, hat er gesagt, »obs wohl so gelb bleibt?« – »Ich will braunes Haar haben«, hat das kleine, kecke Ding gesagt, »meine Mutter hat auch braunes gehabt.« – »Ja, Grete«, hat er gesagt, »du gewinnst eher das große Los, als daß du braunes Haar kriegst. Deine Haare sind mir aber ganz recht. Die sind gut, die sollen so bleiben.« Dann hat er das Kind wieder unter das Kinn gefaßt: »Was hast du denn eigentlich für Augen, kleiner Schelm? Laß mich mal hineinsehn!« Schließlich hat er ihr einen Taler gegeben: »Den soll Vater haben, dafür soll er dir was zu Weihnachten kaufen.«

Das kleine Mädchen ist fortgesprungen, der Alte hat noch einige Zeit heiter und aufgeräumt mit Peter und seiner Frau über deren Verhältnisse gesprochen.

Schulden hatte Peter auf seiner Wirtschaft nicht, und Ruhsert hat ihn tüchtig rausgestrichen, wie weit er es als Taglöhnerkind gebracht habe. »Peter«, hat er gefragt, »wie hoch stehst in der Brandkasse?«

»Fünf Tausend«, hat Peter geantwortet.

»Eine Tonne Land – macht sechs Tausend. Du, Peter, wenn ich acht gebe, darf ich dann alles haben?« So hat Ruhsert gefragt. Wie spaßig er doch gewesen ist!

»Das darfst du.«

»Mit allem, was drin ist?«

»Mit allem, was drin ist.«

»Darf ichs auch aufbrennen?«

»Auch aufbrennen, ja, wenn die Polizei nichts dagegen hat.«

Ruhsert hat ein Streichholz in Brand gesetzt. »Anzünden und aufbrennen, wie das hier?«

Peter hat laut gelacht: »Ja, ja!«

»Abgemacht!« ...

Peter begleitete seinen Gast hinaus. Der stand draußen still und sah zum Strohdach hinauf. »Was ist das?« fragte er.

Peter konnte nichts sehen.

»Das da, meine ich.« Vor dem Eulenloch schwebte ein feiner Nebel. »Das Blaue! Ist es Rauch?« Ruhsert sah den Wirt voll an. »Dein Schornstein ist doch dicht?«

»Spaß!« erwiderte Peter.

»Ich meine wirklich, du solltest nachsehen.«

»A, mach einen nur nicht bang!«

Peter beschattete seine Augen.

»Es ist Daak. Nein, Konrad, das ist nichts.«

 

Konrad Ruhsert hat in der Stadt erst seinen Notar aufgesucht. Dort sind lange Verhandlungen aufgenommen worden. Dann hat er nach der Staatsanwaltschaft gefragt und sich dort beim Sekretär gemeldet.

Der alte Kanzleirat hatte mit den laufenden Strafsachen genug zu tun und liebte es nicht, mit zurückgelegten und erledigten (das heißt in seinem Register erledigten) Sachen belästigt zu werden. Er wurde etwas verdrießlich, als Ruhsert von der ›alten Scharteke‹ zu sprechen anfing und eine Erklärung abgeben wollte.

Verdrießlich ging der Kanzleirat nach dem Aktenraum, verdrießlich kam er zurück, verdrießlich legte er ein Bündel auf den Tisch. Eine Staubwolke modernder Vergangenheit erhob sich.

Der Beamte faßte die Blätter wie mit der Zange, fing aber an, hier eine Seite und dort eine Seite zu lesen. Es war ihm um jede Minute schade, das sah man seinem Gesicht an. Und schließlich sagte er es: »Was Sie auch vorzubringen haben, es ist alles einerlei, alles unnütz. Die Tat ist verjährt. Da ist nichts mehr zu machen.«

»Verjährt?« Das verstand Konrad nicht, das überhörte er. Und wenn er es auch verstanden hätte, er hätte es für unmöglich gehalten, daß man ihn zurückweise, wenn er mit einem Schuldbekenntnis erschien, wenn er bereit war, seine Sünden abzubüßen.

»Herr Kanzleirat, es tut mir leid, wenn ich Ihnen ungelegen komme. Was ich zu sagen habe, ist bald gesagt. Ich bitte um meine Verhaftung, ich war es, ich habe das Mädchen getötet.«

Der Kanzleirat konnte nur die Hände über den Kopf zusammenschlagen. »Ruhsert«, rief er, »sind Sie bei Trost? Sie, der ehrliche, achtbare, der wohlhabende große Bauer Haben Sie Ihre Sinne beisammen?«

»Ich bin bei gesunder Vernunft, vernehmen Sie mich! Sie werden sehen, daß alles stimmt, daß Sie mich nicht loswerden. Ich will das, was mir zukommt, meine Strafe.«

Der alte Herr sah den Sprecher an. Nun war er ihm viel interessanter als vor einer Viertelstunde. Aber es war das Interesse, das der Unheimliche, der Verruchte, erregt. Und er fing an, einen Bogen zu falten. Bei der Wichtigkeit wollte er den Vorgang protokollieren. Er nahm eine Verhandlung auf, worin Ruhsert mit allen Einzelheiten bekannte. Dann gingen beide in das Arbeitszimmer des Chefs des ersten Staatsanwaltes. Der sollte entscheiden.

Der Staatsanwalt (der genaue Titel war Erster Staatsanwalt) war ein neuer, hier erst ein Jahr im Amt. Persönlich kannte er Ruhsert gar nicht, und von der Tat hörte er zum ersten mal. Er hatte sichs längst zur Gewohnheit gemacht, gegen nicht juristische Affekte gewappnet zu sein. Er hatte daher keine Rührung und keine Verwunderung zu bekämpfen und kam gleich auf die Sache.

Er hörte den Vortrag seines Sekretärs, las das Protokoll, klemmte ein Augenglas ein, strich sich den Bart und schmunzelte und sagte: »Die Tat ist wirklich verjährt. Ich kann Ihnen nicht den Gefallen tun, Sie zu verhaften. Ihr Geständnis entbehrt jedes rechtlichen Interesses.«

»Aber, Herr Staatsanwalt, ich kann doch meine Strafe verlangen?« Ruhsert war über die Eröffnung verstört, er faßte sie nicht.

Der Staatsanwalt mochte gerne belehren. Er war kein übler Mann, gehörte aber zu den Juristen, in deren Herzen ein geheimer Triumph aufjauchzt, wenn das formale Recht zu Ergebnissen gelangt, die die Laienwelt verdutzt. Der freie Gedankenflug der juristischen Dialektik beseelte ihn mit einem Hochgefühl, wie es der Luftschiffer haben mag, der die Alpen überfliegt. Das Bedauern, daß eine Gesetzesverletzung nicht ihre formelle Sühne finde, war ihm, als Vertreter der öffentlichen Anklage, selbstverständlich nicht fremd, er kam aber mit seiner Gondel leicht darüber hinweg. Das Gesetz betrachtet eine verjährte Tat als im Gedächtnis des Volkes ausgewischt (es ist Gras darüber gewachsen); das Gesetz will eine Strafe nicht mehr; es mißbilligt das Bedauern das sich in des Staatsanwalts Juristenseele einschleichen will.

Das kluge Monokelauge, das den alten Verbrecher ansah, wollte anfangs finster und empört blicken. Konrad Ruhsert stand aber der Strafverjährung gegenüber so rat- und hilflos da, daß die Freude am Belehren mit dem Staatsanwalt durchging. Die rechte Hand und der Zeigefinger wiesen dem Verlehntsmann alles nach.

»Sehen Sie, Ruge ... Ruge heißen Sie doch?... Nicht Ruge ... nun, das ist einerlei, das tut nichts zur Sache...« Unserm Ruhsert wurde alles so faßlich dargelegt, wie es dem Staatsanwalt möglich war. Der Erste Staatsanwalt sah dem Bauern triumphierend ins Gesicht.

»Das verstehe ich nicht«, erwiderte der. Er verstand wirklich von den gelehrten Ausführungen nichts. »Wenn ich nun aber komme«, fuhr er fort, »und bekenne und meine Strafe haben will... eine schwere Strafe...« (»damit meine Seele genese«, setzte er leise hinzu), »dann müssen Sie mich doch in Haft nehmen!«

»Ja, ja, so urteilen Sie. Das ist aber nicht richtig. Wir müssen nicht allein nicht, wir dürfen nicht einmal. Sehen Sie, hier stehts.«

Konrad Ruhsert wurde nichts erspart, nicht das Strafgesetzbuch, nicht der Paragraph 214, nicht der Paragraph 67, nicht die Lehre von der Unterbrechung der Verjährung... »In zwanzig Jahren war die Tat verjährt, jetzt sinds neunundzwanzig. Nun ist es zu spät, nun müssen Sie sich darin finden.«

»Herr Staatsanwalt! Ich verstehe nichts von Gesetzen. Aber ich meine doch ... meine Seele...«

»Ihre Seele?« Der Staatsanwalt lächelte, sein Augenglas fiel auf die Weste. »Mein lieber Mann! Ihre Seele geht uns Juristen nichts an. Wir wissen nicht, was das ist ... Seele!«

Da stand nun Ruhsert mit seiner drangvollen Seele. Viele Jahre hatte die Obrigkeit auf ihn gefahndet; nun meldete er sich, da wies man ihn zurück. Er wollte das Schwerste leiden, um Frieden mit seiner Seele zu machen, und die Obrigkeit kannte die Seele nicht, wußte gar nicht, was sie war.

Wäre ihm nicht so unendlich friedlos und traurig zu Mute gewesen, er hätte lachen mögen, als er die Stiege hinunterschritt.

»Was soll ich anfangen?« fragte sich Konrad Ruhsert... »Muß ich ein zweites Verbrechen begehen? Dem Peter Lange die acht Tausend hinzahlen, wäre eine rechte Bußtat für meine Finger... Und dann alles in Flammen! Einsam genug liegt es, daß niemand geschädigt wird. Gnädiger Gott, zeig mir einen anderen Weg zur Sühne!«

 

Der Tag ging zu Ende.

Bei Peter Lange im einsamen Krug waren keine Gäste und auch keine mehr zu erwarten, still und einsam war es bei Peter Lange. Die Herdflamme beleuchtete vom Küchenfenster her den trostlos zerklüfteten und doch unverwüstlich treibenden Holunderstumpf und seine jungen Schößlinge.

Unter ihnen auf hartem Stein saß die Nebelfrau. Grau war ihr Gewand, und ihr Gesicht in grauen Nebelhänden vergraben.

Sie weinte. Sie war etwas gefragt worden und hatte die Antwort nicht gewußt.

Die bedrückende, die riesengroße Stille war vor sie hingetreten und hatte Antwort geheischt: Was ist die Welt und was das Leben?

Die Arme hatte den Wald angesehen ... stumm stand er und starr. Sie hatte nach den Wiesen hinuntergerufen... kein Laut. Niemand hatte sagen können, was die Welt und was das Leben ist.

Nun kann sie sich vor Wehmut nicht fassen, nun hat sie sich unter den Totenbaum gesetzt, hat ihr Haupt verhüllt. Nun sitzt sie und – weint.

 

»Summ, summ!« surrte die Einsamkeit. Sie lag bei Peter Lange am Schornstein im Stroh.

»Knick, knack!« entgegnete ein Funke. Er war in den Morgenstunden aus einem Schornsteinriß in den Torf gesprungen. Erst lag er im trockenen, zerkrümelten – da ging es ihm ganz gut, da war er im Haufen eine Art Licht, das blauen Rauch blies, einen dünnen blauen Faden sogar zum Eulenloch hinaus. Es war ein ganz nettes Stück, in das er sich hineingefressen hatte; gegen Mittag kam er aber an eine Stelle, die nicht so trocken war. Da wurde er klein und konnte lange Zeit nicht leben und nicht sterben.

Am Abend ging man mit der kleinen Grete hinauf, ihr in der Kammer ein Bett zu machen. Dabei fiel ein bißchen Stroh auf den Torfhaufen, wo der Funke um sein Dasein kämpfte. Nun ging es ihm besser.

»Knick, knack«, sagte der Funke.

»Summ, summ«, antwortete die Einsamkeit.

 

Es ist spät. Der kleine Funke ist ein großes Feuer geworden. Das Haus steht in Flammen und leuchtet in den Nebel hinein. Der Stein unter dem Holunder ist leer.

Der Feuerschein liegt, vom Dorf aus gesehen, auf den Baumspitzen ... Bum ... bum ... dumpf und schwer ... läuten die Glocken.

Die Langes und noch einige Männer (es sind Leute vom Hof), die retten. Eine rote Lade, eine Schatulle werden hinaus getragen. Noch steht das Dach. Koffer, Kommoden, Betten, Hausgerät kommen kopfüber aus dem Fenster; die Kühe sind ins Freie getrieben, ein sich sperrendes, schreiendes Schwein wird an Ohren und Schweif herausgeschleift.

Noch steht das Dach. Noch kann man schaffen. Wenn es prasselnd heruntergeht, wenn die Weiden, die es an Latten und Sparren binden, durchgebrannt sind, dann ist es vorbei. Dann bildet es eine feurige, zwischen Haus und Rettern aufgerichtete Wand.

Was ist das? Welch grauses Entsetzen hat die harten, wetterfesten Menschen gepackt? Was Furchtbares hat man entdeckt?

Ein Schrei ... ein Kindesschrei!

Es ist ein Mensch im brennenden Haus. Man hat – in der Hast, im Trubel ist es geschehen – man hat nicht an das Scherenschleiferkind gedacht.

Hinauf! Hinauf! Noch steht das Dach. Peter will in das brennende Haus, die Treppe hinauf ... Da, es ist schrecklich, das Dach setzt sich in Bewegung. Hätte man ihn nicht zurückgerissen, er wäre unter den brennenden Trümmern begraben worden. Fürchterlich, ein Kind lebendig verbrennen! Es schreien hören und nicht helfen können! Das wird ihr Leben lang für Peter und seine Frau ein Druck, in ihrer Todesstunde ein Grauen sein. Ihnen war das junge Leben anvertraut, sie haben an Hab und Gut gedacht, aber das Kind vergessen.

Ist keine Möglichkeit?

Es gibt keine. Freilich, die Kammer steht noch, sie ist von einer Lehmdecke geschützt. Aber lange kann es nicht mehr dauern, dann stürzen die Sparren. Dann bricht der Fußboden. Dann stürzt alles zusammen.

Und man kann nicht hin!

Das Geschrei, das Jammern und Flehen, das Weinen und Flehen um Rettung ... Das Knistern und Singen der Flammen!

Den harten Männer, die so gerne helfen möchten und nicht helfen können, wird weich ums Herz. Durch das Feuer kann keiner. Sie können nur die Hände falten ... Es muß ein Wunder geschehen.

Ein Wunder?

Wer ist der alte Mann, und woher kam er? Grade und groß und aufrecht! Wie funkelt es im kleinen Auge! Wie fliegt das weiße Haar! Wer ist der? Ist das der Retter?

»Hurra, es ist Konrad Ruhsert, der alte Konrad! Als Knabe schon erschlug er einen tollen Hund.«

»Platz da!«

Er trieft von Wasser und Morast. Er hat sich in dem tiefen Graben, der sich am Garten hinzieht, gewälzt. Die Leine aus dem Schuppen hat er um den Leib gerollt, eine Leiter schwingt er in den Händen. Was will er, was hat er im Sinn?

»Platz da!«

»Es geht nicht, Ruhsert! Tu es nicht! Das heißt Gott versuchen.«

»Ich darf ihn versuchen.«

»Platz da!«

Er stieg im Funkenregen hinauf. Wären seine Kleider nicht voll Wasser und Schmutz gewesen, die Flammen hätten ihn gar nicht hinausgelassen.

Mit Grausen verfolgen die unten Gebliebenen die kühne Tat. Es war eine Art Erlösung, als er ins Fenster hineinstieg; ein Freudenschrei begrüßte das Kind, als er es zum Fenster hinausschob. Er hatte ihm die Leine um den Leib gebunden. Nun schwebte es herab. Nicht unversehrt, aber auch nicht wesentlich verletzt, wurde es von den Männern aufgefangen.

In der Gegend ist nachher viel darüber gesprochen worden, wie verkehrt man alles angefangen habe, und wie man es hätte anfangen müssen, auch den Retter zu retten. Die Kleine hat drei Wochen im Krankenhaus gelegen und ist vollständig genesen – den Retter hat man nicht wieder gesehen.

Wollte er sterben?

Das am Boden liegende Strohdach hatte sich mehr und mehr in sich verzehrt, man hatte es mit Feuerhaken auseinandergerissen, man hatte die Hitze mit Wasser gedämpft. Eine neue Leiter war herbeigeschafft worden, etwas kurz zwar, aber doch zur Not ausreichend. Rettung wäre möglich gewesen.

Wenn er sich nur am Fenster gezeigt hätte!

Man hat gewartet ... zwei lange Minuten hat man gewartet ... er ist nicht gekommen ... Noch eine ... eine entsetzliche Minute! Die Katastrophe mußte jeden Augenblick eintreten ...

Da ist denn auch das Grausige geschehen. Die Sparren sind gestürzt, die Decken der Kammer – oben und unten sind sie gewichen, der ganze Aufbau hat sich langsam geneigt, die Trümmer sind donnernd herabgestürzt und haben den Retter unter sich begraben.

Das Haus ist wieder aufgebaut worden – mit Pappdach und Kniestock ist es wieder aufgebaut worden, nach des Eigners und der ganzen Gegend Meinung viel schöner, nach anderer Ansicht nüchterner und häßlicher. Aus der Asche stieg aber doch ein Phönix, er flog zu Scherenschleifers Grete. Der Alte hat Recht behalten: sie hat noch immer blondes Haar, aber eine Art großes Los hat sie gezogen.

In den Erklärungen, die ihr Großvater vor dem Notar abgegeben, war von großen Schenkungen an die unmündige Grete Ochsen, Tochter des Schleifers Bendix Ochsen in der Donnerharde, die Rede. Über die Gültigkeit dieser Verfügung brauchte sich niemand den Kopf zu zerbrechen, denn Konrad Ruhsert hatte die Grete zugleich als Universalerbin seines Nachlasses eingesetzt.

Wir bleiben bei unserer Meinung: Kniestock und Pappdach fügen sich schlecht in die Melancholie des Platzes; mit dem Strohdach ist ein Hauptteil der Poesie des alten Hauses dahin.

Aber einsam ist es noch immer allda.

Wenn die Novemberabende kommen, wenn die Stille der Landschaft aus den Mooren heraufsteigt, die alte ungelöste Frage im Antlitz, dann sitzt die graue Frau unter dem Totenbaum auf dem Stein und schluchzt in ihre schemenhaften Hände hinein.

Sie weiß nicht, was die Welt und was das Leben ist.


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