Timm Kröger
Leute eigener Art
Timm Kröger

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9

Er entwich durch die Feldstraße, und die Polizeidiener fanden das Nest leer. Aber Erzengel mit Leuchttürmen und Fackeln in der Hand hatte der liebe Gott ihm, als er nach Hause ritt, nicht an den Weg gestellt.

Vorläufig war es so übermäßig dunkel noch nicht. Der Mond war freilich nicht aufgegangen, aber ein prachtvoller Sternenhimmel... blinkende, stumme, viel sagen wollende Lichter leuchteten über der Erde.

Franz lockerte dem Schwarzen die Zügel und brachte sich rasch aus der Nähe der Stadt. Aber im Wald, da wurde die Straße schwierig. Da wären Leuchttürme am Platz gewesen. Die Baumfackeln, woran sich sein Auge, als noch die Sonne schien, erfreut hatte, verdunkelten jetzt seine Straße, und im Gehölz, wo sie sich über ihm zusammenschlossen, sah er keine Hand vor Augen. Im Schritt suchten Roß und Reiter ihren Weg.

Im Wald erloschen die Sterne, sie erloschen auch in der Brust unseres Franz. Wo war sein Stolz hingekommen, wohin seine Selbstgerechtigkeit? Was bedeutete es, daß seine Seele zagte, wenn er an das scheue Verstummen aller ehrlichen Leute dachte?

Polizei und Gericht waren auf seinen Fersen. Er hätte das eine geringe Sorge genannt, wäre der Glaube an sein Recht noch so fest gewesen wie vor Stunden, als er dem eigenen Vater den Tod bereitete. War es Schauder vor sich selbst, was an seinen Gliedern rüttelte?

Daß doch der Vater am Leben bliebe und gesundete! Wie glühend rang sein Herz, diesen Wunsch jetzt der verblendeten Seele ab!

Wie er dahinritt, wollte das treue Pferd links, Franz zog es aber rechts. Denn so meinte er sich auszukennen. Und das gehorsame Roß folgte. Im Walde verzweigten sich die Geleise, führten aber alle nach demselben Ausgang. Im Dunkeln war indessen eigentlich nur eines gangbar. Franz sah bald, daß er auf einen Nebenweg geraten war. Der Weg war tiefgründig, holperig, von geschwollenen Wurzeladern durchzogen. Das Pferd stolperte, Franz stieg ab und führte es am Zügel.

Plötzlich! ... Franz riß seinen Rock vom Leibe und warf ihn dem Schwarzen über den Kopf. Das Pferd sollte nicht wiehern.

Er sah, sah Lichter, die er für Wagenlaternen hielt, und hörte – Wagengeräusch. Es fuhren Leute durch den Wald auf einem anderen Weg, der wahrscheinlich der richtige Hauptweg war, nahe an Franz vorüber. Er hörte Achsenstöße, Pferdeprusten und Zurückfallen der Räderschlacken ins Geleise. – Da blinkte es. Ein Etwas warf die Lichtstrahlen zurück. Was konnte das sein – Waffen?

»Brr!« sagte der fremde Wagenlenker. – Das Gefährt hielt, keine dreißig Schritt fern. Erst glaubte Franz, er sei gesehen worden, aber darauf deutete doch nichts hin. Ein schwerer, unbeholfener Mensch in schweren,, unbeholfenen Stiefeln (Franz hörte den Auftritt auf das Rad), in schwerem Mantel stieg schwerfällig ab. Das war der Landreuter, wie damals die Gendarmen genannt wurden. Das Handpferd hatte über die Stränge geschlagen, das sollte wieder in Ordnung gebracht werden.

»Wachtmeister«, sagte der andere, der auf dem Wagen verblieben war. An der Stimme erkannte Franz den Bauervogt seines Ortes. Hans Willem hieß er, hielt den Kopf gewohnheitsgemäß ein bißchen auf die Seite, war daher ›Willem mit dem schiefen Kopf‹ zubenannt.

»Wachtmeister«, sagte Willem mit dem schiefen Kopf, »Zweck, glaub ich, hat unsere Reise nicht. Er müßte ja mit dem Dummbeutel geklopft sein, wenn er nicht längst Reißaus in die Welt genommen hätte ... weit weg, wo ihn niemand kennt. Hier finden wir ihn nicht, und auch nicht in der Stadt. Da muß man in dunkler Nacht, wenn alle Leute im Bett liegen und schlafen, da muß man im stockfinstern Wald herum kajolen. Und das für nichts und wieder nichts.«

Der Wachtmeister hatte das Geschirr in Ordnung gebracht, stand aber noch bei den Pferdeköpfen. »Ich glaub, Sie haben recht, Bauervogt. Aber umkehren, das geht nicht. Nun müssen wir durch. Vielleicht hat man den Bruder Franz in der Stadt schon im Kasten.«

»Ja, ja«, stöhnte der Schulze. »Es ist fürchterlich, gar nicht zu sagen ... Wunderlich ist er ja immer gewesen, aber so was!... Das hätte doch kein Mensch gedacht, das ist doch wohl noch nicht dagewesen ... Was soll daraus werden? Wenn er auch in die Welt hinausgegangen ist ... Mit der Tat auf dem Gewissen kann er doch nicht leben!«

Der Wachtmeister hustete und schickte sich an, auf den Wagen zu steigen. »Es ist eine schlimme Sache, Vogt. Aber was hilfts?«

»Sie sind klug gewesen«, begann der Schulze wieder, »Sie haben Ihren Mantel an. Ich will es auch so machen, Wachtmeister. Mich friert ordentlich. – Brr! Wollt ihr wohl stehen! Brr! sag ich. A, Wachtmeister, wollen so gut sein und ein bißchen anfassen? ... So ists recht, danke. – Was ich noch sagen wollte, Wachtmeister, Sie kennen ja die Gesetze. Was steht denn drauf? Was wird mit ihm, wenn man ihn kriegt?«

Eine kleine Pause, der Schulze zog seinen Überrock vollends an. »Dank vielmals. – Das ist besser, da hat man warm. Dann könnten wir ja so sachte weiter ... Hü .. hü ..!« Der Wagen setzte sich in Bewegung.

»Ja, Bauervogt«, klang es zwischen Achsenstößen und Sielengeräusch hindurch. »Einen Kopf wird es dem jungen Mann jedenfalls kosten, und in einer Kuhhaut wird er zur Richtstätte geschleift...«

Franz hörte nicht mehr alles ... »Nebenstrafen ...« kam es dann wieder ... »Wenns nach der ganzen Strenge des Gesetzes gehen soll, kann es gar. Rad...« hörte Franz noch und abgerissene Worte, die er nicht verstand, Stoßen des Wagens .. Wenn Franz sich auf die Zehen hob, sah er noch Licht ... klein, matt, immer matter.. Dann war auch das weg.

Er lachte. Ihn, den Gottgesandten, auf einer Hürde zur Richtstätte ... ihn schleifen, ihm den Kopf abschlagen ...? Er war ein Tor, wenn er nicht auf Nimmerwiederkehr in die Welt hinausritt. – Es blieb ihm nichts anderes übrig. Mit Witten, mit ihr... Ja, mit Witten!

Aber solche Tat auf dem Gewissen? Was sagte Hans Willem? Kann man da noch leben und glücklich sein? ›Gewissen?‹ fragte er beinahe erstaunt,... ›was ist Gewissen?‹

Er konnte wohl erstaunt sein. Denn bisher war er bei allem, was er getan, im Recht gewesen, oder hatte sich doch im Recht gefühlt. Das Gewissen und er kannten sich nicht.

Er brauchte aber nicht mehr auf die Bekanntschaft zu warten. Denn das Gewissen war auf einmal bei ihm und redete mit ihm. Es lag in seiner Brust, es hämmerte in allen Pulsen, es flüsterte ihm ins Ohr.

Franz führte sein Pferd noch immer am Zügel, die richtige Straße zu gewinnen, und mußte auf die kleine scharfe Stimme seines Gewissens hören. Am Waldesausgang schwang er sich auf den Schwarzen, das Gewissen tat es auch und hatte noch immer sein Ohr. Es flüsterte ihm Sachen zu, die ihn grausen machten. Er spornte das Pferd. Im sausenden Galopp ging es dahin, aber das Gewissen behielt das Wort.

Welcher Abgrund, sagte es, scheidet dich von den Gerechten! Mals jagt dich wie ein wildes Tier. Man kündigt dir die Gemeinschaft. Man verhüllt sein Angesicht, wenn man von der Strafe spricht, die du erleiden sollst. Und wenn die ehrlichen Leute sich ausmalen, was du verdient hast, dann verreckt ihre Phantasie. Du hast in das Rechtsgefühl aller ehrlichen Leute eingegriffen, als hättest du jedem einen Vater vergiftet. Die Bilder, die du dir von deinem Amt als Rächer gemacht hast, erbleichen. Aber die Züge deines Opfers werden lebendig. Die wirst du überall mitnehmen, wohin du auch entfliehst. Nach einer solchen Tat läßt sich nicht leben.

»Sollte es nicht gehen?« stöhnte er, »weit von hier? Mit ihr, an ihrer Seite?«

Ihm war, als ob jemand lache.

 

Den sogenannten Dusenberg, eine Viertel- bis zu einer halben Stunde vor seinem Dorf, hatte er hinter sich, nun mußte gleich rechts der Weg kommen, der, ohne den Ort zu berühren, über das Wimmersberger Moor nach den Vierth führt. Eine verdorrte Tanne stand an der Wegecke, eben tauchte sie im Sternenscheine auf, da wurde er beim Namen gerufen. Es klang wie eine Kinderstimme und kam wie vom Weggraben her, aus dem Weggraben kroch denn auch der Rufer hervor.

»Edi, du?«

Sein verkümmertes Brüderchen war es, es kam zu warnen. Dem großen Bruder wurde, als er ihn sah, warm ums Herz: es gab also doch noch eine Seele, die ihn liebte.

Der Vater sei sehr krank gewesen, erzählte der Kleine, habe geschrien und gejammert, nun schreie er nicht mehr, nun sei er tot.

Da war es also ... da war vollendet, was er gewollt hatte. Aber wie anders jetzt, wie anders sah jetzt das in himmlischer Sendung übernommene Strafgericht aus!

Er hatte das Pferd verlassen und hielt den Bruder im Arm. »Nein, Edi, sag nicht, daß Vater tot ist! Er wird schlafen nicht mehr bei Sinnen sein, aber nicht tot. Nicht wahr, du hast mich nur bange machen wollen, Vater ist nicht tot.«

Aber Edi blieb dabei, Vater sei tot, und Franz zweifelte nicht mehr. Vater sei schon tot gewesen, als der Doktor gekommen.

Nun ließ sich nichts mehr deuteln, Franz war ein Mörder. Er fühlte Enge und Krampf im Schlund, sein Herz schluchzte auf. Er war ein Mörder, verruchter als Kain; der erschlug nur einen Bruder, er aber einen Vater, – der in Wallung des Zorns, er mit Überlegung und Vorbedacht. Für und für werden die Züge seines Opfers vor seinen Augen sein.

Edi rüttelte ihn auf und zeigte nach dem Moor. Es war der einzige Ausweg. Da drückte er den Bruder an seine Brust, schwang sich auf den Schwarzen und sprengte die Straße hinab nach der Wimmersberger Heide.

Wie flogen die Hecken rechts, wie flogen die Hecken links, dürres Raschellaub und kahle Weidengebüsche, hundert Verzweiflungsarme gen Himmel emporgereckt. Dann kam freies Feld, und eine große Eiche streckte eckige Äste über den Reiter. Franz erbebte, er war auf der Galgenwiese.

Aber er schämte sich seines Schrecks. »Holla, Schwarzer, wir sausen hinüber!«

Aber der Schwarze zitterte und schnob – um Roß und Reiter floß heller Schein, er sah jeden Halm und jeden Stein und mitten in der Strahlenflut... eine Gestalt... eine Erscheinung ... ein Frauenbild ... die dunklen Locken gelöst, auf Hals und Schultern fallend.

»Mutter!« will er sagen, kann es aber nicht. Ihr Gesicht schön und sanft und lieb, wie einst. Sie breitet die Arme aus, sie will den von Gott und Menschen verlassenen Sohn, und liegt auch ein Vatermord auf seinem Gewissen, sie will ihn mit Mutterarmen umfangen.

War es Gedanke, war es Erscheinung? Er sah nichts mehr als schwarze Nacht, und in der schwarzen Nacht, auf schwarzem Pferd flog Franz über den verrufenen Fleck.


 << zurück weiter >>