Timm Kröger
Leute eigener Art
Timm Kröger

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3

Von der Kirche geht eine düstere Sage. Vor hundert und aber hundert Jahren ist es gewesen. Da ist ein Pastor im Dorf gewesen, ein alter Mann. Und er ist vergeßlich geworden und hat eines Tags seine Bibel, nachdem er Beichte gehalten, in der Kirche auf dem Altar liegen gelassen. Und hat zu seinem Mädchen gesagt: »Grete«. hat er gesagt, »hol doch mal meine Bibel, sie liegt in der Kirche auf dem Altar.« Aber die Grete hat sich gefürchtet. Denn es ist trüber Herbsttag gewesen und spät am Abend und dunkel. Aber der Pastor hat gesagt: »Fürchte dich nicht, meine Tochter! Nur die Gottlosen und Spötter und die, die Gott versuchen, haben hierzu Grund. Du aber bist ein frommes Mädchen. Deshalb sei getrost und tu, wie ich gesagt habe!«

Das hat Heinrich, der als Knecht bei dem Pastor diente, gehört und hat darüber, was der Pastor zu Grete sagte, in seiner Kammer gelacht. Denn er ist ein Spötter gewesen. Und hat bei sich gedacht: ›Nun wollen wir doch mal des alten Narren Wort zuschanden machen.‹ Und hat ein Bettlaken genommen und ist der Grete nachgeschlichen.

Und als die Grete eintritt, ist es in der Kirche ganz dunkel, nur die langen, schmalen Finster sehen wie Gespenster in den finsteren Raum. Grete hat Holzpantoffeln an und klappert über die Steinfliesen. Und wie sie den Kirchensteig entlang geht, klingt jeder Schritt hohl von den Wänden und von dem Gewölbe her. Und es ist ihr immer, als wenn jemand ganz leise hinter ihr hergehe. Aber sie sieht sich nicht um. Wohl aber denkt sie an die Worte des Pastors und ist getrost. Und tritt auf die Stufen des Altars und findet das Buch.

Und wendet sich ... da ... sieh – o sieh! Da steht ein großes, weißes Gespenst vor ihr. Und das große, weiße Gespenst sagt dumpf und hohl: »Grete, du mußt sterben!«

Und Grete ist ganz still, aber sie fühlt, wie ihr Blut stockt. Doch sie bewegt die Worte des Pastors in ihrem Herzen und ist getrost. Und macht drei Kreuze und stürzt und läuft zwischen den Kirchenbänken durch, den breiten Kirchensteig entlang, zur Tür hinaus. Und schlägt die Kirchentür hinter sich ins Schloß und dreht den Schlüssel um.

So ist der Spötter gefangen worden. Und der Teufel hat freie Hand gehabt.

Man hat die halbe Nacht hindurch ein Geheul gehört, wie noch niemals. Das sind die bösen Geister gewesen. Und dazwischen hat man Bitten und Flehen gehört und Jammern. Das ist Heinrich gewesen, mit dem die höllischen Mächte ihr Spiel getrieben haben. Und es ist so herzzerreißend gewesen, wie man noch nimmer aus menschlichem Munde vernommen.

Erst gegen zwei Uhr ist es still geworden. Aber dann hat ein Poltern und Klatschen, wie wenn ein Mensch gegen die Wand geworfen wird, angefangen, und das hat gedauert bis zum ersten Hahnenschrei.

Der Wächter hat alles gehört. Er hat ein Vaterunser über das andere gebetet, er hat gezittert und gebebt, aber in die Kirche zu gehen, hat er nicht das Herz gehabt.

Morgens hat man den Unglücklichen gefunden – tot, mit offenem Leib, die Gedärme über die Kirchenbänke gesponnen. Und an der weißen Wand ein großer, roter Blutfleck.

Hundertmal hat man den Fleck abgekratzt, hundertmal den Mörtel, die vorgemauerten Ziegelsteine und schließlich gar die Feldsteine der in ihrem Grundstock aus Findlingen bestehenden Kirchenmauer weggeschlagen, hundertmal haben neuer Kalk und neue Steine die Stelle bedeckt, und hundertmal ist das Blut des armen Sünders wieder zum Vorschein gekommen.

An dies Blut dachte Franz, als er am nächsten Sonntag zusammen mit dem Vater die Kirche besuchte. Sie saßen auf der ersten Bank. Denn dort war der zur Mühle gehörige Kirchenstuhl. Gleich links sah man den gemarterten Erlöser am Kreuz und daneben die Stelle, wo der Blutfleck des armen Heinrich zu sehen sein sollte.

Franz hatte schon früher die Wände abgesucht und nichts gefunden. Heute sah er ... ja er sah ... lange, krause, rote Spritzfiguren sah er an der weißen Wand.

Der Pastor und die Kirche kamen in wiegende Bewegung. Die blutigen Streifen an der Wand ordneten sich, sie rundeten sich, sie wurden zu Zeichen, die zu lesen waren. Ein Finger – ein langer Frauenfinger kam und schrieb.

Der Finger schrieb ein einziges Wort, aber das stand groß und rot und blutig an der weißen Wand.

›Rache!‹ schrieb der lange, weiße (Franz kannte den Finger) ›Rache!‹ schrieb der Frauenfinger rot an weißer Wand.

Franz ging wie im Traum aus der Kirche und ging auch all die Tage träumend und brütend umher.

Er sah die Gestalten der Mütter an seinem Lager. ›Dein Vater ist durstig‹, sagte seine für und für mit allem Liebreiz geschmückte Mutter. Sie reichte ihm einen Becher. ›Dein Vater ist durstig, gib ihm zu trinken. Er hat mir auch gegeben.‹ Und im Hintergrunde stand das gute Mütterchen Marieken mit ihrem hauswirtschaftlichen Essenkochen- und Einmachegesicht und sagte auch: ›Tu das, Franz, er hat uns auch gegeben.‹

Wilder und mystischer wurden seine Träume.

Er stand auf einer weiten Heide. Er wußte, es war der Vierth, aber die Heide war viel größer und rauher und anders als der Vierth. Ringsherum Grabhügel, und am dunkeln Horizont wallende Nebelleiber ungesühnt Dahingemordeter.

Und die Erde wurde dunkel und der Himmel liebeleer. Und am schwarzen, liebeleeren Himmel leuchtete ein einziger Stern. Und dieser Stern war ein Irrstem, und der Schweif lang und gebogen.

Und siehe! Es erhob sich eine Stimme, eine große Stimme, eine starke Stimme. Die erfüllte den Weltenraum und den Vierth vom Aufgang bis zum Niedergang.

›Dein Herz fragt, weshalb die Erde so dunkel und der Himmel so liebeleer? Es ist das Geschrei von schwarzen Taten und der Haß, den solche Taten erzeugen. Deshalb ist der Himmel dunkel und die Erde liebeleer. Und der schwefelgelbe Stern ist an den schwarzen Himmel gesetzt, dir den Weg zu weisen. Sieh hin! Er hat die Form des Schwertes. Und das Schwert ist das des Rächers. Sieh hin! Es ist ein Becher, und der Becher hat einen gebogenen Griff. Mit dem kann man Erquickung reichen, aber auch Tod. – Hast du verstanden?‹

›Ich habe verstanden‹, sagte Franz und – erwachte.

Franz, wach geworden, war ganz verstört. Da war nicht mehr zu deuteln und mißzuverstehen. Seine Mutter war schändlich gemordet worden, sein Vater war der Mörder, und er der vom Himmel bestimmte Rächer.

Er zündete Licht an.

»Was hast du?« fuhr der Alte auf. Franz schlief mit seinem Vater zusammen in der Kammer.

»Was hast du?« wiederholte der Alte. Kannst nicht ruhig liegen und alten Leuten ihren Schlaf gönnen?«

»Vater, ich habe schreckliche Träume.«

»Träume?«

Man mag über den Charakter unseres Franz denken, wie man will. Tückisch und hinterhältig war er nicht, er war nur ein Unbedingter.

»Vater«, sagte er. »Ich träume immer: Du hast Mutter ›vergeben‹ und auch Mutter Marieken.« Die Wirkung dieser einfachen, über den Kirchenjuraten kommenden Worte war fürchterlich. Er wurde weiß wie die Wand, der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er saß aufrecht im Bett, er konnte sich nicht halten, er sank zurück.

»J–u–u–Junge«, hatte er sagen wollen. »Bist du bei Trost?« Er konnte es aber nicht herausbringen.

Franz sah das alles und zweifelte nicht mehr. »Vater«, sagte er. »Wir sind hier beide allein in der Nacht. Uns sieht niemand als Gott allein und Mutter Marieken und meine arme Mutter. Tagelang haben sie geschrien und gejammert, und meine arme Mutter hat ihr schönes, junges Leben unter Schmerzen, vor denen uns schaudert, ausgehaucht. Schwarz und schwer ist deine Missetat. Aber Gott im Himmel und sein für uns gestorbener Sohn vergeben alles, wenn man gesteht und bereut und Buße tut.«

Der Alte hatte sich gefaßt. Er konnte seinen Sohn fester ansehen. »Sag mal, mein Junge! Was hat das zu bedeuten? Du sagst, du hast geträumt. Und ich sage, du träumst noch. Du redest wie ein Irrer. Ich könnte schlimm mit dir verfahren, wenn ich wollte. Aber ich werde es nicht tun, ich werde Geduld mit dir haben. Gott hat es gefallen, mich mit Wohlstand zu überhäufen. Er kann mich auch schlagen. Er hat mich geschlagen. Mit einem schwachen Kinde hat er mich geschlagen – weshalb nicht auch mit einem wahnsinnigen? Der Herr gibt alles Gut und alles Leid. Ihm allein die Ehre.«

Franz hörte nicht hin, was der Vater sprach. »Vater, sag mir«, fuhr er fort, »was ich schon weiß, sag, daß du es getan hast. Sag es mir, deinem Sohne, ihrem Sohne, und sie wird dir vergeben, und ich, Vater, auch ich werde dir vergeben. Reue und Buße machen alles wett. Tu Buße, gesteh, daß es wahr ist, daß du es getan hast. – Du schweigst«, fuhr Franz fort, »du zauderst, aber du wirst es tun, damit ich meinen armen Kopf aufs Lager legen und zu mir sagen kann: ›Schlafe, Franz! Dein Vater bereut und tut Buße.‹ Der armen Mütter wegen wirst du es tun, damit auch sie Ruhe haben im Grab, das ihre Leiber umfängt, damit sie nicht als Geister umzugehen nötig haben, mich zu mahnen. Vor allen Dingen wirst du es tun deiner ewigen Seligkeit wegen.«

Franz hatte sich das Schweigen des Alten als Kampf ausgelegt, der damit enden müsse, der Wahrheit die Ehre zu geben. Aber der Alte dachte nicht daran, etwas zu bekennen. Er hatte nur seine Fassung wieder zu erlangen gesucht und hatte sie gefunden.

Er sah einen fürchterlichen Ankläger gegen sich erstehen, einen Ankläger, dem alles zuzutrauen war. Ihm fielen die Worte ein, die der Pastor von der Minennatur seines Sohnes gesagt hatte. Wie er sich in der Folge mit ihm abzufinden habe, wie das gut zu machen sei, das mußte zu gelegenerer Stunde festgesetzt werden. Im Bösen, das sah er ein, war mit dem nichts anzufangen. Da konnte leicht ein Funken auf die Sprengmine hinüberfliegen. Er mußte es durch gütliches Zureden versuchen.

»Ich habe dich ausreden lassen, Franz«, sagte er, »zu sehen, wie weit dein Wahnwitz geht. Anfangs, ja, das will ich gestehen, hat mich deine Rede erschreckt. Wer soll bei dem Fürchterlichen, was du dir zurechtträumst, nicht erschrecken? Du bist krank, mein Sohn, sonst könntest du nicht die Gedanken haben und nicht solche Reden führen. Ich habe gewiß meine Fehler. Es hat mir nicht recht gelingen wollen, mich mit deinen Müttern so, wie es wohl hätte sein sollen, zu stellen. Ich bin ein großer Sünder vor dem Herrn. Aber, Franz, so was! Du bist ja ganz von Gott verlassen. Wir stehen ja nicht, wie Vater und Sohn, stehen sollten, aber das von dir zu erleben, das ist zu viel.« Er brach in Weinen aus. Franz beachtete das nicht. »Hast du es getan, Vater? Ich bitte, sag mirs und beweine mit mir, was geschehen ist. Dann soll alles gut sein.«

»Aber Franz«, erwiderte der Alte, wieder in Angst, »glaubst du denn meinen Worten, glaubst du meinen Tränen nicht? Was soll ich denn tun, um mich gegen solchen Wahnsinn zu schützen? Willst mir die Obrigkeit schicken? Ich kann nur wiederholen: Du bist krank, mein Sohn, du fieberst, du könntest sonst gar nicht auf so was kommen. Ich bin nicht schuld an dem Tode deiner Mutter und Mutter Mariekens.«

Franz war aufgestanden, er hatte, ohne sich anzuziehen, die Kommode aufgezogen und etwas aus der Schublade genommen. Nun kehrte er zum Bett seines Vaters zurück.

»Sieh, Vater, das ist die Bibel. Du kennst sie besser als ich. Sie stammt vom Urgroßvater und weiter hinauf. Sie hat Goldschnitt und Silberbeschlag und hier auf dem Deckel das heilige Kreuz. Mir ist das Buch heilig und ich hoffe, trotz allem, auch dir. Das Kreuz zeigt uns, wenn man glaubt und Buße tut, den Weg zur Seligkeit; wenn man bei diesem Zeichen lügt, den Weg zum Gericht und zur Verdammnis. Kannst du mir bei dem gerechten, dreieinigen Gott, kannst du mir angesichts dieses Zeichens auf dem heiligen Buch, kannst du mir einen heiligen Eid schwören, daß du nicht schuldig am Tode meiner Mutter bist?«

»Das will ich, das kann ich!«

»So schwöre!«

Der Alte erhob seine Hand. Den kleinen Finger und den Ringfinger drückte er in die Handfläche, zum Zeichen, daß Leib und Seele verloren sein sollten, wenn er falsch schwöre. Den Daumen, den Zeigefinger, den Langfinger richtete er gegen die Zimmerdecke zum dreieinigen Gott in der Höhe.

Beide, Vater und Sohn, sahen düster aus, und beide waren im bloßen Hemd. So standen sie vor der Bettstelle, im Zwielicht eines flackernden Talglichts.

»Ich ... Ich ... schw ... ö ... re... bei Gott ...«

»Halt!« rief Franz.

Er nahm die Bibel und legte sie in die Kommode zurück. »Ich leide nicht, daß du schwörst«, sagte er. »Noch hoffe ich auf Besserung und Reue und Buße. – Ich leide nicht«, wiederholte er, »daß du schwörst. Du würdest falsch schwören, Vater!«

Den sterblichen Leib konnte der Unbedingte allenfalls vernichten, die Seele, die unsterbliche Seele dem Höllenpfuhl überantworten, dazu hatte er nicht das Herz. Das verbot ihm sein Glaube.


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