Timm Kröger
Leute eigener Art
Timm Kröger

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2

Der alte Pastor war weg, es war ein neuer gekommen, ein gemütlicher, jovialer Mann, der nichts von Franz wußte, aber das Wohlwollen, das zwischen der Mühle und der Kirche herrschte, als ein gutes geistiges Kircheninventar fröhlich verbuchte.

Da erkrankte die sogenannte gute Mutter Marieken, des Müllers und Kirchenjuraten Frau zweiter Ehe, ganz plötzlich. Sie hatte es im Leib und schrie, daß man es über den Weg hörte.

»Es ist das Reißen«, sagte der alte Müller, »es ist ihr auf die Gedärme geschlagen, das wird sich geben. Macht nur kalte Umschlage!«

Man machte kalte Umschläge; mit der Krankheit war es aber am zweiten Tage schlimmer als je. »Ich nehme den Schwarzen, Vater«, sagte Franz, »und reite zum Doktor.«

Aber der Vater wollte es nicht haben. Das sei nicht nötig. Er vertraue auf Gottes Hilfe. »Wir wollens mit warmem Verband versuchen«, befahl er den Mädchen.

Mutter Marieken schrie und jammerte noch einige Tage und war dann – tot.

Als tiefgebeugter Witwer folgte der Alte dem Sarge seiner guten Frau. »Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du werden«, predigte der Pastor, und warf die erste Schaufel Sand auf den Sarg. Der Müller brach in Tränen aus, verlor ganz seine Fassung und erlangte sie bis zum Schluß der feierlichen Handlung nicht wieder.

»Hat der Müller Kirchenjurat doch ein prächtiges Herz«, äußerte der neue Geistliche abends zu seiner Frau. »Diese warmherzige Empfindung, diese freie Gottesliebe und diese tiefe Gottesfurcht!«

So war oder schien es wirklich. Kein anderer sah so würdig und fromm aus wie der Müller in der Kirche. Niemand stand so aufrecht vor seinem Gott und niemand verbeugte sich so tief und zerknirscht vor Seiner Größe. Wenn der Pastor den Segen über die Gemeinde sprach: »... und erhebe Sein Angesicht über dir und gebe dir Seinen Frieden!« ... dann beugte sich tief und demütig des Juraten ehrwürdiges Haupt. Das alles sah Franz in neidloser Bewunderung. Er stand in der Kirche ernst und brütend, wie immer, und sah in seine Mütze, als ob er überlege, ob sie ein neues Futter verdiene oder ob es auch ohne Futter und gar mit einem zerrissenen gehe. Verbeugen konnte er sich nicht, dazu trug er zu schwer an dem Rätsel seines Seins.

Mutter Mariekens Grab wurde zugeschaufelt und ein Stein mit dem Spruch: »Selig sind, die im Herrn sterben« darauf gesetzt. Der Totengräber, dem der Alte die Instandhaltung des Grabes übertrug, pflanzte Schneeglöckchen darauf.

Nach einiger Zeit fingen die Blumen zu blühen an, und der Frühling kam. Ein frischer Wind setzte die Mühlenflügel auf dem Kapuzinerberg in rasche Bewegung. Und das war gut, denn es gab viel zu tun. Die Furchen der Mühlenkoppel waren noch ziemlich naß, der Frühling sollte sie trocken machen. Und auch dabei half der Wind.

Franz knickte die Weidenbüsche ab. Überall hing es voller weicher Kätzchen. Auch in diese grüblerische Seele fiel eine Ahnung von dem Glück eines warmen Sonnenstrahls. Er fühlte, daß der Frühling doch noch etwas anderes bedeute, als Wiederbeginn der schweren Ackerarbeit und Ende der verhältnismäßig faulen Winterrast. Er lag am Wall, warm in der Sonne, und vesperte.

Da hörte er neben sich, auf der andern Seite des Knicks im Weg nach Oldenkamp, Schritte (sie kamen, wie es schien, von zwei Seiten) er hörte Tagesgruß und ein Gespräch: Jürn Schütze und Krischan Rebenstorf hatten sich getroffen.

Jürn Schütze und Krischan Rebenstorf waren Nachbarn und Landleute aus dem Ort. In der Mühle sah man sie nicht öfter, als nötig war. Die Freundschaft mit dem Müller schien so gar arg nicht zu sein, und Kirchgänger wie der Jurat waren sie auch nicht. Franz kannte sie aber an ihren Stimmen; auf dem Dorfe wird ja ungefähr jedermann an seiner Stimme erkannt. Er spitzte das Ohr, als er hörte, daß man von seinem Vater sprach.

»Marieken ist nun ja auch tot«, sagte der eine.

»Ja, die ist damit durch.« So der andere.

»Soll höllisch ausgehalten haben«, erwiderte es auf der anderen Seite des Knicks. »Man hat sie übern Weg gehört!«

»Was hat ihr wohl gefehlt?«

Franz verstand nicht die Antwort.

»Merkwürdig«, begann der Sprecher wieder, »just wie bei Lisette Schünemann.«

Dem Lauscher pochten alle Pulse. Lisette Schünemann war seine verstorbene, seine rechte, von ihm über alles geliebte Mutter.

Längere Pause.

»Sie haben wohl ein Testament gemacht?«

»Du meinst, der Alte und Marieken?«

»Das haben sie sicherlich. Das ist in Ordnung, so sicher, wie zwei mal zwei vier ist, war ja auch bei Lisette in Ordnung. Da wollte er wohl für aufpassen, da kennst du meinen Müller schlecht.«

Franz hinter seinem Knick sah ordentlich die Miene, die Jürn dazu machte.

»Ja, Jürn«, fing der Sprecher wieder an, »dann fällt ja all das Geld von der Mohrfamilie an die Mühle?«

Die verstorbene Marieken war eine geborene Mohr; sie hatte vor kurzem ihren Bruder, einen reichen Schlächter Mohr aus der Stadt, beerbt.

»Das tut es«, sagte Jürn Schütze.

»Du, Jürn!«

»Was denn?«

»Der Müller muß doch groß Freund an den Tod sein.«

»Wie meinst du das?«

Die Redenden hatten mit unbekümmerter Stimme gesprochen, jetzt dämpfte Krischan Rebenstorf sie.

»Nun«, flüsterte er, »zwei reiche Frauen, jedesmal ein Testament. Und beide tot. Er steht sich wirklich gut mit dem Tod. Erst Lisette und nun Marieken!«

Kurze Pause, dann leises Lachen – Franz hörte aus dem Klang dieses Lachens die Gesichter heraus, die sich auf der anderen Seite des Knicks ansahen.

Unserem Franz am Wall im Sonnenschein wurde, er wußte selbst nicht, es überlief ihn heiß und kalt. Erst war es Wut, aber nur kurze Zeit. Dann ganz anders. Ihm fiel so manches ein, was er sich jetzt deutete, und je mehr er an die vergangene Zeit dachte, desto mehr verflog sein Zorn gegen Jürn und Krischan, desto dringender stieg ein entsetzlicher, ein fürchterlicher Verdacht gegen seinen Vater auf.

Franzens Mutter war eine Lisette Schünemann aus Bargenfeld gewesen, eine vielbewunderte dunkle, mit Glücksgütern reich gesegnete Schönheit. Man hatte dem Vater nachgesagt, daß er noch vor der Heirat darauf bedacht gewesen sei, sich ihr Vermögen für alle Fälle zu sichern. Ob das richtig war, wußte Franz nicht, er hatte sich niemals um solche Dinge bekümmert, jedenfalls hatte er, Franz, kein Geld bekommen.

Man hatte dem Vater auch nachgesagt, daß er brutal gegen seine Frau gewesen sei. Wo das Gerücht hergekommen, war gleichfalls unbekannt. Seine Mutter war viel zu scheu und zu verschlossen gewesen, um sich zu Herzensergießungen herbeizulassen. Die schöne, dunkle Frau mit der weißen Hautfarbe, mit dem wunderbar reichen Haar hatte wie eine Heilige über ihrem Leid geschwebt. Aber er, der Sohn, wußte, daß jener Vorwurf begründet war. Er war Zeuge tätlicher Angriffe des frommen Juraten gewesen. Und seitdem er einmal gesehen hatte, wie sein Vater die Hand gegen sie erhoben, haßte er ihn.

Der Müller hatte überhaupt, wo er sichs herausnehmen durfte, immer eine brutale Figur gemacht. Wie oft hatte Franz es am eigenen Leibe erfahren müssen! Als er klein war und noch an den Röcken der Mutter hing, hielt Frau Lisette die Hand über ihn. In ihrem Schoß hatte er mit ihren schwarzen Flechten gespielt. Es war das einzige Spiel, woran er sich mit Vergnügen erinnerte. Und das Gefühl, einmal wenigstens den vollen Strom einer echten, uneigennützigen Liebe, der Mutterliebe, empfangen zu haben, war ihm für immer unverloren geblieben.

Die Liebe zu seiner Mutter, der Haß gegen seinen Vater – das waren die Angelpunkte seines Wesens, die Triebfedern seiner Handlungen. Dabei stand ihm der Haß ebenso hoch wie die Liebe. Er liebte diesen Haß, wenngleich ihm als Bibelkundigen das vierte Gebot stets vor Augen stand: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß dirs wohl gehe, und du lange lebest auf Erden!« Er wollte lieber einem irdischen Wohlergehen, einem langen Leben entsagen, als diesem Haß. Er pflegte diesen Haß, es war ein glühender Haß. Seine Gefühle gingen überhaupt auf das Ganze.

Und nun hörte er von fremden Leuten, wie berechtigt dieser Haß war, berechtigter, als er geahnt hatte.

Der Tod seiner Mutter! Noch jetzt kochte es in ihm vor Wut und Schmerz, wenn er daran dachte, wie elend seine Mutter gestorben war.

Die Mutter war gestorben an einer Krankheit, die mit dem letzten Leiden von Mutter Marieken eine fürchterliche Ähnlichkeit hatte. Es war eine Fehlgeburt voraufgegangen. Die ersten Tage verhältnismäßig wohl, war sie am dritten Tage ganz krank geworden. Gelitten hatte sie mehr, als ein sterbliches Menschenkind ertragen kann. Drei Tage und drei Nächte lang hatte sie gejammert und geschrien, daß man es im Nachbarhause gehört. Der nächste Arzt wohnte drei Meilen weit, in der nächsten Stadt. Und der Vater hatte just, wie bei Mutter Marieken, keinen Arzt zuziehen wollen. Das hänge mit dem anderen zusammen, hatte er gesagt. Ein Doktor könne da nichts nützen, sei auch nicht nötig, es werde sich schon geben. Es war Verband gemacht worden, just wie bei Mutter Marieken, es hatte aber, just wie bei ihr, nichts geholfen – die schöne Frau Lisette war wie die hausmütterliche Marieken ins Grab gesunken.

Für Franz hatte man mit der Mutter den Rest von Frohsinn, wenn er davon überhaupt etwas besessen, für ihn hatte man mit ihr alles Lebenswerte, für ihn hatte man das Lebensglück auf dem Kirchhof eingeschaufelt.

Je länger er am Wall in der Sonne lag, desto weniger zweifelte er daran, daß sein Vater der Mörder beider Mütter war. Auch Mutter Marieken hatte schon vor Eingehung der Ehe den Vater testamentarisch oder durch Vertrag zum Erben eingesetzt. Auch diese Ehe war keine friedliche. Einmal, es war noch vor der Geburt des kleinen, leider schwachsinnigen Ede, war der Alte in großer Not gewesen, denn Mutter Marieken war im Zorn zum Kirchspielvogt gegangen, ihr Testament, das zu widerrufen sie sich auf Rat des Kirchspielvogts vorbehalten hatte, aufzuheben.

Das war der Punkt gewesen, wo man den Alten fassen konnte. Ruhe- und ratlos war der Vater im grauen Juratenhaar im Hause umhergewandert. Schließlich hatte er seinen Stock genommen, seiner Frau nachzugehen. Nach einer Stunde waren beide in Eintracht, ohne an dem Erbvertrag etwas geändert zu haben, zurückgekehrt.

An das alles dachte Franz, und wie Schuppen fiel es ihm von den Augen.


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